1930 war Fritz Bauer der jüngste Hilfsrichter Deutschlands am Stuttgarter Amtsgericht. 1933 musste er sein Amt niederlegen und kam im KZ Heuberg in Haft. 1936 emigrierte er nach Dänemark und Schweden. 1949 kehrte er mit Hilfe Kurt Schumachers in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Als hessischer Generalstaatsanwalt ermöglichte Bauer gegen große Widerstände den Auschwitz-Prozess, der 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main stattfand. Helmut Ortner erinnert an Fritz Bauer, der vor 55 Jahren, am 1. Juli 1968, starb.
Vor 55 Jahren, am 1.
Juli 1968, starb Fritz Bauer. Wie kein anderer Jurist in der
Bundesrepublik hat er als hessischer Generalstaatsanwalt nach dem Krieg
die NS-Verbrechen verfolgt. Dafür wurde er von vielen bekämpft und
geschmäht – vor allem von der CDU.
Ende des letzten Jahres hat Hessens Ministerpräsident Boris Rhein
(CDU) ihn posthum mit der
Wilhelm-Leuschner-Medaille geehrt. Fritz Bauer konnte sich dagegen nicht
mehr wehren.
Jährlich am Verfassungstag des Landes Hessen, dem 1. Dezember, wird im
Rahmen eines Festakts die Wilhelm-Leuschner-Medaille verliehen. Wer sie
bekommt, darüber entscheidet der Hessische Ministerpräsident. Die
Auszeichnung ist nach Wilhelm Leuschner (1890 – 1944) benannt, dem
früheren hessischen Innenminister. Er zählt zu den bekanntesten
Persönlichkeiten des deutschen Widerstandes gegen den
Nationalsozialismus. Schon in den 1930er Jahren trug Leuschner
maßgeblich dazu bei, den Widerstand zu organisieren. Im Anschluss an das
gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Leuschner zum
Tode verurteilt und am 29. September 1944 in Berlin-Plötzensee
hingerichtet. Zum seinem 20. Todestag, am 29. September 1964, verlieh
der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) erstmals die nach Wilhelm Leuschner
benannte Medaille. Seither wird Jahr für Jahr eine Persönlichkeit
ausgezeichnet, „die sich aus dem Geist Wilhelm Leuschners hervorragende
Verdienste um die demokratische Gesellschaft und ihre Einrichtungen
erworben hat“.
Wer einen Blick auf die lange Geehrten-Liste wirft, findet
ehrenwerte Namen aus allen gesellschaftlichen Bereichen, freilich auch
einige, deren demokratische Verdienste nicht unumstritten sind.
Beispielsweise Roland Koch, ehemals CDU-Ministerpräsident in Hessen, der einst
mit einer schäbigen Kampagne gegen junge Ausländer Stimmung im Wahlkampf
machte, was ihm zwar wenig nutzte, doch vielen als populistisches
Schurkenstück im Gedächtnis blieb. Und war Koch nicht auch Vorsitzender
einer christdemokratischen Schwarze-Kassen-Partei, die
Millionen-Zuwendungen, die in Wirklichkeit aus schwarzen Auslandskonten
der CDU stammten, als
„Vermächtnisse von Juden aus Europa“ umetikettieren wollte? Als die
dreiste Legende im Spenden-Sumpf versank, inszenierte sich der CDU-Mann als „brutalstmöglicher Aufklärer“.
Eine demokratie-verachtende Posse.
Zur Causa Koch hätte Fritz Bauer ganz bestimmt eine Meinung gehabt. Sein
Name findet sich seit Ende letzten Jahres ebenfalls auf der
Preisträger-Liste. Hessens aktueller Ministerpräsident Boris Rhein hat
den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt posthum geehrt. Der
forsche CDU-Politiker lobte den
1968 verstorbenen Bauer als einen „Kämpfer für Humanität und Demokratie
mit Hingabe, Ausdauer und Leidenschaft für eine freie Gesellschaft“.
Eine überfällige Anerkennung – doch mit schalem Beigeschmack. Es war
Rheins Partei, die Bauer viele Jahre das Leben schwer gemacht, ihn
geschmäht und bekämpft hat.
Fritz Bauer, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, gehörte zu den wenigen unbelasteten Juristen, die in der jungen Bundesrepublik eine Führungsposition einnahmen, und der nichts so hasste wie die gängigen Verteidigungs- und Verharmlosungssformeln der Nazi-Vergangenheit. Bauer war der personifizierte Gegenpart der konservativen Adenauer-Juristen, die nur wenig Neigung zeigten, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null. Damit war Bauer nicht einverstanden. Er erkannte klarsichtig, dass der NS-Staat kein Betriebsunfall der Geschichte war und wies auf die geschichtlich gewachsenen Strukturen und Mentalitäten hin, die den NS-Verbrechen so sehr entgegenkamen und die aufzubrechen mehr erfordern würde als Gerichtsprozesse. Er setzte die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Morde durch; ohne ihn hätte es 1963 den großen Auschwitz-Prozess nicht gegeben. Damit handelte er sich nicht nur den Zorn konservativer Kreise ein. Bauer wurde gemieden, verunglimpft und bedroht. In der Nachkriegsjustiz galt er vielen als Ketzer. In der hessischen CDU, in der Hardliner wie Alfred Dregger und Manfred Kanther jahrzehntelang das politische Weltbild vorgaben, galt Bauer beinahe schon als Staatsfeind.
Die Schmähungen steigerten sich noch, nachdem es ihm gegen starke Widerstände gelungen war, die Frankfurter Auschwitzprozesse gegen einstige Bewacher des Vernichtungslagers tatsächlich auf den Weg zu bringen. Die Prozesse erfüllten in ihrer Durchführung und in ihren Ergebnissen ein tieferes Anliegen Bauers:
„Wenn etwas befohlen wird, sei es Gesetz oder Befehl, was
rechtswidrig ist, was also im Widerspruch steht mit den Zehn Geboten,
dann musst Du ‚Nein‘ sagen! Es bedarf Mut und Courage in jeder Richtung
gegenüber dem äußeren Feind. Man hat völlig übersehen, dass die
Zivilcourage, der Mut vor dem Feind im eigenen Volk genauso groß,
wahrscheinlich größer ist – und nicht weniger verlangt wird. Dass es
ehrenhaft ist, dass es Pflicht des Einzelnen ist, auch in seinem eigenen
Staat für das Recht zu sorgen. Und deswegen ist das A und O dieser
Prozesse zu sagen: Ihr hättet ‚Nein‘ sagen müssen!“
Bauer zwang die Deutschen zum Hinsehen. Ein Volk, das sich mühte, das zu
vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem
System der Barbarei. Aus der Politik gab es keine zwingenden
Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur
wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die
Nichtverfolgung von NS-Verbrechen: eine skandalöse, jahrzehntelange
Verweigerung von Strafverfolgung, eine konsequente Strafvereitelung im
Amt. Bauer wollte sich damit nicht abfinden.
Als Ketzer geächtet, bekämpft und bedroht
Geboren 1903 in Stuttgart, war Bauer einer der wenigen Unbelasteten im Justizapparat der BRD. 1930 wird er mit 26 Jahren jüngster Amtsrichter Deutschlands. 1933 kommt er nach der Machtübernahme der Nazis in Haft. 1936 flieht er nach Dänemark, später nach Schweden. Mit Willy Brandt gründet er dort eine Exil-Zeitschrift. 1949 kehrt Bauer zurück, um ein demokratisches Justizwesen mitaufzubauen. Er wird Generalstaatsanwalt in Niedersachsen, 1956 holt ihn Hessens Regierungschef August Zinn in dieser Funktion nach Frankfurt. Hier lässt er von seinen Mitarbeitern über 1000 Zeugen vernehmen und bereitet den Auschwitz-Prozess gegen die SS-Wachmannschaften vor. Als oberster Staatsanwalt in Hessen hat er das Verfahren bundesweit an sich gezogen – gegen alle Widerstände. Er muss sich mit Richtern und Staatsanwälten aus der Nazi-Zeit herumschlagen, die nach 1945 weiter im Staatsdienst blieben und oft seine Arbeit sabotieren. „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, beschrieb er später einmal seine Lage in einem Fernseh-Interview.
Dass Fritz Bauer schon früh die Rolle eines Außenseiters hat, zeichnet sich bereits im September 1949 ab, als Bundeskanzler Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung sagt, man soll in Deutschland „Vergangenes vergangen sein lassen“ und damit auch eine Amnestie für NS-Täter meint. Adenauers Politik hatte den Aufbau demokratischer Institution und eine Demokratisierung der Gesellschaft durch stillschweigende Integration der ehemaligen Anhänger, Mitläufer und auch der Täter des Nationalsozialismus zum Ziel. Nicht nur im konservativen Juristen-Milieu galt der hessische Generalstaatsanwalt als Störenfried, als eine umstrittene, ja verhasste Figur. Politisch ist der furchtlose Jurist Bauer weiterhin enormen Widerständen ausgesetzt. Vor allem die CDU bringt sich gegen ihn in Stellung.
Im Oktober 1960 hält Fritz Bauer im Rahmen einer vom Landesjugendring Rheinland-Pfalz veranstalteten Tagung einen Vortrag über die „Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“, in dem er sich mit den sozialen Ursachen des Nationalsozialismus beschäftigt. Bauer geht der Frage nach, wie es möglich geworden war, dass Menschen andere Menschen ausgrenzten, verfolgten und ermordeten. Ein Vorschlag des rheinland-pfälzischen Landesjugendrings, den Text Oberstufengymnasien und Berufsschulen als Broschüre zur Verfügung zu stellen, wird vom Kultusministerium des Bundeslandes abgelehnt. Kultusminister Eduard Orth (CDU) verteidigt seine Entscheidung mit der Begründung, Bauers Text produziere „Fehlurteile“ über die deutsche Geschichte. Die Ablehnung wird 1962 auch von einem jungen ehrgeizigen CDU-Abgeordneten begrüßt, der moniert, der zeitliche Abstand vom Nationalsozialismus sei zu gering, um sich darüber ein abschließendes Urteil bilden zu können. Sein Name: Helmut Kohl.
Im hessischen Landtag fordern Abgeordnete der CDU im April 1963 gar Bauers Ablösung als Generalsstaatsanwalt, weil er im Ausland schlecht über Deutschland rede. Einige machen ihn sogar seinen Status als NS-Verfolgter und Emigrant zum Vorwurf, weil er dadurch befangen und unsachlich sei. Eine perfide, abstruse Argumentation.
Gegen die Integration der Täter
Mitte
der 1960er Jahre trübt sich Bauers Stimmung immer mehr ein. Wegen
seiner jüdischen Herkunft und seiner Kritik an den alten
Nazi-Seilschaften erhält er Schmähbriefe und Morddrohungen. An zwei
seiner Freunde schreibt er: „Die Strafanzeigen hageln, alles ist gegen
mich verschworen.“ Bauer kämpft einen mühsamen, einsamen Kampf: Gegen
das Verdrängen und Vergessen, gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit.
Neben seinem Engagement für die Aufarbeitung der NS-Zeit ist er einer
der bedeutendsten Vorkämpfer für Strafrechts- und Strafvollzugsreformen
und Resozialisierung. An den Gebäuden der Landgerichte Braunschweig und
Frankfurt wird auf sein Betreiben als Inschrift der Anfang des
Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ angebracht.
Es dauert länger, mehr als ein halbes Jahrhundert, bis die Partei, die
ihn einst als Gegner geschmäht und bekämpft hat, im Dezember 2022 als
demokratischen Aufklärer würdigt. Eine „Schlüsselfigur der jungen
deutschen Demokratie“ nennt CDU-Ministerpräsident Rhein nun Bauer bei
der Verleihung auf dem Campus Westend der Frankfurter
Goethe-Universität. „Ohne Fritz Bauer wäre unsere Geschichtsaufarbeitung
nicht die, die sie heute ist“. Eine späte, eine überfällige
Rehabilitierung.
Wir wissen nicht, wie Fritz Bauer auf diese späte Form der Wiedergutmachung reagiert hätte. Vielleicht hätte er die Annahme der Medaille verweigert und stattdessen dem Ministerpräsidenten vorgeschlagen, couragierte Menschen der Gegenwart auszuzeichnen, die sich in Hessen etwa bei der Aufklärung des Skandals um den „NSU 2.0“ verdient gemacht und dabei einen hohen Preis gezahlt haben. Es hätte zu ihm gepasst.
Nun also steht sein Name auf der langen Liste der Preisträger. Und es gibt nicht wenige, die dem CDU-Chef unterstellen, die posthume Auszeichnung Bauers sei ein ganz und gar eigennütziger Coup, sich als überparteilicher Erneuerer und Versöhner zu inszenieren. Im Oktober wird in Hessen gewählt. Freundlichere Stimmen verweisen darauf, die Preisträger-Wahl konterkariere die jahrzehntelange brüchige Erzählung, Bauer sei ein Anti-Demokrat gewesen. Das immerhin verdiene Rhein Respekt.
Apropos Preisträger: 2015 bekam die Medaille Heinz Riesenhuber,
der unter Helmut Kohl Bundesforschungsminister war und Fritz Bauer
einmal persönlich begegnet ist. Die beiden hatten in den 60er-Jahren
einen gemeinsamen TV-Auftritt in der HR-Talkshow „Kellerclub“, wo Bauer
mit Studierenden über den Umgang mit NS-Verbrechern diskutierte. Der
junge Heinz Riesenhuber, damals in der Jungen Union, hat Bauer
entgegengehalten, dass doch zum Teil auch einfach nur brave Bürger auf
bestimmte Posten gestellt worden seien und diese ausgefüllt hätten. Das
hat Fritz Bauer sprachlos gemacht. Es war genau die rechtfertigende
Denkweise, gegen die er Zeit seines Lebens gekämpft hat.
In der Nacht zum 1. Juli 1968 wurde Fritz Bauer tot in der Badewanne
seiner Frankfurter Wohnung aufgefunden. Beigesetzt wurde er in Göteborg
im Grab seiner Eltern.
Mehr Information:
Fritz-Bauer-
Institut
Lese-Tipp:
Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor
Gericht, Berlin 2013
Film-Tipp:
Der Staat gegen Fritz Bauer, Regie Lars Kraume, u.a. mit Burghardt
Klaußner, Deutschland 2015
Späte Würdigung, überfällige Rehabilitierung
Dokumentarflmtipp:
Tod auf Raten, Regie: Ilona J. Ziok, Uraufführung Deutschland 2010