Politiker wollen gewählt werden. Deshalb versprechen sie gern, was das wählende Volk hören will. So überrascht es nicht, wenn sie nach dieser Logik mit der Wahrheit instrumentell umgehen, also gegen besseres Wissen sprechen. Es gibt, wie wir aus jüngster Vergangenheit wissen, darunter auch notorische Lügner, die es bis an die Spitze von Staaten geschafft haben. Der Psychiater und Psychoanalytiker Eran Rolnik rechnet Benjamin Netanjahu dazu.
Die Geschichte hat nicht darauf
gewartet, dass in Israel ein Bürgerkrieg ausbricht. Und sie hat auch
nicht auf das Ende des Korruptionsprozesses gegen Benjamin Netanjahu,
auf das Ende seines Staatsstreichs von oben, die sogenannte
Justizreform, und auf die Gerichtsentscheidungen über die Petitionen
dagegen gewartet. Letzten Samstag wurde nun der „zweite Stiefel“ gegen
die Wand geschleudert (Faust Kultur 12.09.23). Jetzt steht Israel vor
der realen Gefahr des Zusammenbruchs. Wir kämpfen nicht mehr für die
Verfasstheit des Landes, in dem wir leben, für sein Regierungssystem,
sondern um seine Existenz.
Netanjahu darf diesen Krieg nicht führen. Der Mann, der in seinem Geist
und seiner Persönlichkeit alles verkörpert, was im heutigen Israel krank
und faul ist, darf jetzt nicht auf der Kommandobrücke stehen. Und das
nicht nur, wie jedes Kind bereits erkennen kann, weil er für das
Erstarken der Hamas und den Zerfall der IDF und der übrigen Regierungsinstitutionen
verantwortlich ist. Netanjahu darf nicht vor Ort sein, wenn Israel um
seinen Fortbestand ringt, weil er diesen Kampf vereiteln wird.
Die Israelis müssen verstehen, dass Netanjahu für die
gegnerische Mannschaft spielt, für jede gegnerische Mannschaft. Er ist
kein „Verräter“ im klassischen Sinn wie in Spionage- und Actionfilmen.
Er ist vielmehr ein Verräter im metaphysischen und mentalen Sinn des
Wortes.
Seit Jahrzehnten höre ich mir Netanjahus Reden an, achte auf seinen
Sprachgebrauch, seinen Umgang mit Tatsachen und mit Menschen. Vor
einigen Jahren schrieb ich in einem Artikel mit dem Titel „Sane and
Abnormal“ („Haaretz“, 11.11.2016) über die perverse Haltung des
israelischen Ministerpräsidenten zur Wahrheit. Damals konnte ich mir das
Ausmaß der damit verbundenen Gefahr noch nicht vorstellen.
Im vergangenen Jahr haben viele meiner Kollegen auf dem Gebiet der
Psychologie und Psychiatrie darüber debattiert, ob es angemessen und
ethisch vertretbar sei, sich über Netanjahus Geisteszustand – sei es
psychische Inkompetenz, eine Persönlichkeitsstörung oder sogar eine
Krankheit – öffentlich zu äußern.
Mein Standpunkt lautete, dass es nicht Sache psychiatrischer Gutachten
sei, das Publikum vor einem Politiker zu warnen. Über die Frage der
Kompetenz eines demokratisch gewählten Ministerpräsidenten sollten
lieber Politiker entscheiden, mangelt es doch in der Geschichte nicht an
Beispielen hemmungsloser und völlig abnormaler Menschen, die ihr Volk
zu großen Erfolgen führten. Nun hat sich die Situation allerdings
geändert.
Das verräterische mentale Element in Netanjahus Persönlichkeit,
verkörpert in seinem Hass auf die Wahrheit, ist eine nationale Gefahr.
Wer die Wahrheit hasst, kann eine Nation im Krieg nicht zum Sieg führen,
nur ins Verderben. Wer in der Schabbatnacht eine in Panik geratene
Nation mit einer „Sondererklärung“ täuscht – in der er sich rühmt, mit
zwei Familien gesprochen zu haben, für die die Welt zusammengebrochen
sei, statt es dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gleichzutun und
die Familien der Gefangenen und Vermissten zu kontaktieren – wer also
ein Stück Wahrheit nutzt, um eine untröstliche Nation anzulügen, darf
keine Minute länger im Büro des Ministerpräsidenten bleiben.
Um den Krieg zu gewinnen, muss man den Unterschied zwischen Realität und
Wunschdenken sowie zwischen Wahrheit und Lüge erkennen. Wie bereits
erwähnt, war Netanjahus Verhältnis zur Wahrheit schon immer unklar.
Diejenigen, die ihn für einen ausschließlich von politischen Interessen geleiteten Machiavellisten halten, übersehen sein tiefes Bedürfnis, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, selbst wenn sie ihm keinen Schaden zufügen würde und ihre Unterdrückung ihm keinen politischen Vorteil verschafft. Ein Jahr, nachdem er behauptet hatte, der Mufti von Jerusalem habe Hitler auf die Idee gebracht, das europäische Judentum zu vernichten, erklärte Netanjahu, dass die Räumung jüdischer Siedlungen einer ethnischen Säuberung gleichkomme. Was diese beiden Aussagen und seine Andeutung, dass die an ihm geübte Kritik in der Haaretz mit der Nazivergangenheit eines ehemaligen deutschen Aktionärs der Zeitung zusammenhänge, vor allem miteinander gemeinsam haben, ist nicht, dass sie „die Wahrheit umgehen“, sondern dass sie sie als menschlichen Wert angreifen.
In den letzten Jahren scheint sich Netanjahu mit Wahrheiten und Tatsachen jeglicher Art zu überwerfen. Dies konnte man an der Art der Rechtsvertretung erkennen, die er in seinen persönlichen Gerichtsverfahren wählte, und an den Argumenten der Anwälte, die ihn im Rahmen der derzeit am Obersten Gerichtshof diskutierten Petitionen vertraten, ebenso wie an seiner Weigerung, seit Beginn der sogenannten Justizreform hohe Staatsbeamte zu treffen, die ihn vor der Gefahr warnen wollten, die von seinem Staatsstreich von oben für das Land ausgeht. Auch zeigt es sich in seiner Weigerung, von Medien und Journalisten interviewt zu werden, die nach der Wahrheit suchen, und in der zwanghaften Beschäftigung mit seinem Selbstbild und dem seiner Familie, die sich in der regen Photoshop-Branche um ihn und seine Frau niederschlägt. Es hat in Israel noch nie einen Ministerpräsidenten mit einem solchen Hass auf die Wahrheit gegeben. Netanjahu umgibt sich nur mit Heuchlern und Publizisten, die bereit sind, bei jeder Abscheulichkeit zu kooperieren und jede Botschaft, jeden Spin und jeden Bluff zu verbreiten, mit dem er die Wahrheit bekämpft – jedwede Wahrheit, auch wenn sie ihm persönlich gar nichts anhaben kann.
Jetzt mag nicht die Zeit für psychologische Befunde und wilde Analysen sein, und ich werde auch heute nicht so tun, als würde ich bei einer Person, die ich noch nie getroffen habe, eine Diagnose stellen. Und doch: Netanjahus Einstellung zur Wahrheit ist weder mit einer zwar unangenehmen, doch trivialen narzisstischen Charaktereigenschaft noch mit einem politischen Überlebensbedürfnis gleichzusetzen, sondern mit einer Art Sucht. Unter den extremen Umständen, die jetzt eingetreten sind, macht ihn dieses krankhafte Bedürfnis unfähig, das Land zu führen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er selbst das Gefühl gehabt haben mag, für eine nüchterne Auseinandersetzung mit der im Krieg herrschenden Realität nicht geschaffen zu sein, und sich daher in den vergangenen Jahren dagegen abzuschotten versuchte.
„Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit“, sagte Hiram
Johnson, der Älteste der republikanischen Senatoren im
US-Repräsentantenhaus am Vorabend des Atombombenabwurfs auf Hiroshima –
ganz sicher sprach er sich damit nicht dafür aus, Lügner in
Führungspositionen einzusetzen, um Kriege zu gewinnen. Israel, das sich
seit mehr als 20 Jahren für ignorante, unfähige und betrügerische
Politiker an der Spitze entscheidet, tritt in den komplexesten Krieg
seiner Geschichte mit einem Ministerpräsidenten ein, der die Fähigkeit
zu lügen über alle politischen und menschlichen Werte erhebt.
Ignaz Semmelweis war ein ungarischer Arzt, der im 19. Jahrhundert in
Wien lebte und arbeitete. Er fand heraus, dass der Grund für die hohe
Sterblichkeit von Müttern nach der Entbindung (die in einigen
Krankenhäusern 90 Prozent erreichte!) darin lag, dass Medizinstudenten,
ohne Hygienemaßnahmen zu ergreifen, nachdem sie zum Beispiel an
Obduktionen teilgenommen hatten, oft im Kreißsaal assistierten oder auf
die Neugeborenenstation gingen. Auch Operationen konnten damals
durchgeführt werden, ohne zuvor die Hände zu reinigen. Bei Semmelweis’
Entdeckung handelte es sich um eine einfache wissenschaftliche Wahrheit.
Aber er musste sie viele Jahre herausschreien, bis sie akzeptiert
wurde. Sein einfacher Vorschlag, dass Studenten und Ärzte, die bei
Entbindungen anwesend sind, ihre Hände desinfizieren sollten, bevor sie
den Kreißsaal betreten, löste bei seinen Kollegen großen Widerstand aus.
Trotz aller Daten und Forschungen, die Semmelweis’ Hypothese
stützten, mussten viele Jahre vergehen, bis seine Entdeckung akzeptiert
wurde. Offensichtlich war der Gedanke, mit einer simplen
Vorsichtsmaßnahme die Chancen einer Frau auf eine möglichst risikolose
Entbindung erhöhen zu können, für viele Ärzte, die anders verfahren
waren, mit einer unerträglichen Beleidigung und einem Schuldgefühl
verbunden. Menschen haben ein widersprüchliches Verhältnis zur Wahrheit,
wenn diese mit einer schmerzhaften Erkenntnis über sie selbst
einhergeht.
Wir dürfen nicht zulassen, dass sich eine solche Dynamik auch
in Kriegszeiten entwickelt. Wir müssen das, was wir bereits wissen, in
die Tat umsetzen: Die 16 Jahre unter Netanjahu haben Israel fast ins
Verderben geführt. Jetzt einen lügnerischen Anführer das Heimatland
retten zu lassen, ist so, als würde ein Mediziner heutzutage einen
Kreißsaal oder einen Operationssaal betreten, ohne sich vorher die Hände
zu desinfizieren.