Bekannt sind uns die heldenhaften Aktionen des Widerstands gegen die Hitler-Diktatur. Fast immer handelte es sich dabei um die riskanten Taten Einzelner, die aus Gewissensgründen ihr Leben aufs Spiel setzten. Dieter Maier weist auf die Forschungen Petra Bonavitas hin, in denen resistente Gegengesellschaften sichtbar werden, die aus guten Gründen nur mangelhaft oder gar nicht dokumentiert sind. Dicht unter der Oberfläche beginnt der Untergrund.
Über Judenrettungen wurde in Deutschland weniger geforscht als in anderen Ländern. Sie sind kein Thema der öffentlichen Diskussion. Unter dem Stichwort „Judenrettungen“ zeigt die Deutsche Nationalbibliothek keine wissenschaftliche Literatur an. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin) ist dem Thema ein Teil der Ausstellung vorbehalten, mit Schwerpunkt der Rettungen in Berlin. Für Frankfurt am Main und Umgebung hat die Frankfurter Soziologin und Publizistin Petra Bonavita Rettungen von Juden und anderen Verfolgten in der NS-Zeit erforscht. Daneben gibt es in Deutschland einzelne örtlich Forschende und Initiativen. Insgesamt ist das wenig. Trotz Steven Spielbergs Film Schindlers Liste blieben Judenrettungen ein Nischenthema. Die Gründe sind vielfältig. Nach 1945 wurden die Retterinnen und Retter als Vaterlandsverräter angesehen. Sie schwiegen auch aus Gründen, die mit den Rettungen selbst zu tun haben: bewusst oder unbewusst spielt hier die Heiligkeit des Lebens hinein. Wer aus religiösen oder moralisch-politischen Gründen ein Menschenleben rettet, begibt sich nahe ans Unverfügbare; Menschen in Rettungsdiensten und Medizin kennen die Scham, die sich dann einstellt. Wer seine Pflicht tut, verzichtet auf Beifall. Als dann in Deutschland die Aufarbeitung der Hitler-Jahre begann, passten gute Deutsche nicht ins Bild. Die Gefahr, dass sie unfreiwillig die NS-Verbrechen relativiert hätten, war groß.
Oft waren es akademisch nicht ausgebildete Historikerinnen und Historiker, die die Lücke füllten. Sie sicherten Spuren, die sonst verloren gegangen wären. Die Frankfurter Retterin Erica Ludolph* schwieg, bis Bonavita bei ihrer Recherche auf ihren Namen stieß und mit ihr ins Gespräch kam. Sie starb Ende 2022 im Alter von 101 Jahren als wohl letzte noch lebende (deutsche?) Retterin. Bonavita hat in mehreren Büchern Retterinnen, Retter und Gerettete vorgestellt, von denen bis dahin nichts oder fast nichts bekannt war. Bei ihren hartnäckigen Recherchen stieß sie auf den Frankfurter Kriminalbeamten Christian Fries (1895-1959) und den GESTAPO-Beamten Gotthold Fengler1898-1947). Bonavitas Funde sind verblüffend: Fengler und Fries waren der Kern eines Widerstandsnetzwerks gegen den NS-Staat mitten im Frankfurter Polizeipräsidium. Nach neuen Archivfunden hat Bonavita eine zweite, aktualisierte Auflage erstellt. Sie ist im Internet einsehbar.
Fries und Fengler waren seit 1930/31 als Kriminalbeamte im
Polizeipräsidium Frankfurt tätig. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933
wurde Fries aufgrund seines früheren Einsatzes bei der Staatspolizei
degradiert. Fengler wurde zur Frankfurter Staatspolizei, der
Vorläuferorganisation der Gestapo, versetzt. Mit anderen
Kriminalbeamten, die wegen ihrer „politischen Unzuverlässigkeit“ von den
Nazis aus der Kriminalpolizei entlassen wurden, baute Fries seit 1937
eine kleine Widerstandsgruppe auf, der sich auch einige Männer in
zivilen Berufen anschlossen. Das Frankfurter Polizeipräsidium war die
Höhle des Löwen, zugleich aber eine gute Tarnung, denn dort vermutete
niemand Widerstand gegen den NS-Staat.
Fengler stellte sich Fries seit 1938 als Informant zur Verfügung und
berichtete ihm von Plänen der Gestapo. Durch seine Warnungen vor Razzien
und Deportationen rettete Fengler mehrere Juden vor dem Lager. Fries
wurde 1943 Verbindungsmann zu Menschen im Rhein-Main-Gebiet, die im
Falle eines Umsturzes den Sozialdemokraten und Gewerkschafter Wilhelm
Leuschner unterstützen wollten. Er wurde „Stützpunktleiter“ für
Frankfurt. Die Widerstandsgruppe Fries beteiligte sich seit 1943 an den
Vorbereitungen für das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.
Bei heimlichen Treffen in einem Hotel-Restaurant im Frankfurter
Bahnhofsviertel besprach man die für Frankfurt erforderlichen
Begleitmaßnahmen für den Umsturz: Kollegen wurden um Unterstützung
angefragt, Waffen wurden besorgt und die Aktionen für den „Tag X“
geplant. Zu den Verschwörern gehörte der Kommandant einer
Maschinengewehreinheit in der Frankfurter Gutleut-Kaserne. Mehr als
vierzig Personen wurden bis zum Sommer 1944 für den Widerstand gewonnen.
Nach dem gescheiterten Attentat wurden Leuschner und sein Mitstreiter
Ludwig Schwamb hingerichtet. Die Kriminal- und Polizeibeamten betrieben
ihren Widerstand weiter. Sie schlossen sich mit Hitlergegnern im
Nachbarort Neu-Isenburg zusammen und planten weitere Aktionen. Die
Widerstandsgruppe ist „nie aufgeflogen“ (Bonavita).
Fengler wurde nach Kriegsende wegen seiner Funktionen im
NS-Staat von den Alliierten interniert. Er starb 1947 in britischer Haft
in Velen/Westfalen in einem Lazarett an einer Krankheit. Versuche
seiner Familie und Freude, ihn durch entlastende Aussagen
freizubekommen, kamen zu spät. Bonavita fand ein Dokument, das 13
Aussagen von namentlich erwähnten Geretteten oder Widerstandsleuten
nennt, denen Fengler geholfen hatte.
Fengler war GESTAPO-Beamter und
NSDAP-Mitglied und war der
Waffen-SS beigetreten. Ob er das zur Tarnung oder aus anderen Gründen
getan hatte, ist nicht zu klären. Quellen hierzu gibt es nicht, und es
kann sie nicht geben. Etwas aufzuschreiben hätte gegen die Grundregeln
des Widerstands verstoßen. Bonavita schildert an andrer Stelle, wie ein
Fluchthelfer in einem Klassenraum einer Fliehenden den Grenzübergang in
die Schweiz an eine Schultafel malte, die Frau musste sich das
einprägen, und der Lehrer wischte die Tafel. Tabula
rasa gehört zu den Arbeitsbedingungen der Forschung zur
Judenrettung. Aber trotz aller Leerstellen, die hier bleiben, sind
Grundzüge erkennbar. Der Widerstand in Deutschland ging deutlich über
das bisher Bekannte hinaus. Der „Rettungswiderstand“, von dem Arno
Lustiger spricht, verband sich an vielen Stellen mit anderen
Widerstandsformen. In Bonavitas kleinem Buch über die Retterin eines
jüdischen Mädchens kommt ein ehemaliger „Vagabund“ (Landstreicher) Franz
Streit vor, der als KP-Mitglied Kontaktmann zu Parteizellen war,
aufflog und hingerichtet wurde.1 Bonavita
korrigiert das verbreitete Bild von Retterinnen oder Widerstandskämpfern
als nur von ihrem Gewissen getriebenen Einzelne. An jeder Rettung waren
jeweils um die zehn Personen beteiligt. Die Fluchtwege waren Ketten von
Parteizellen und Pfarrhäusern. Kontakt- und Treffpunkte waren
vertrauenswürdige Lokale und gesellschaftliche Institutionen. In der
Summe waren diese Netzwerke^2^ eine verschwiegene Gegengesellschaft zur
nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“.
Die Ambivalenzen, in denen der Widerstand während der
Hitlerzeit sich verhedderte, wird selten so klar wie in Bonavitas
Nie aufgeflogen. Saul Friedländer hat sie in einer
Passage formuliert, die Bonavita ihrem Buch voranstellt: „Um den
verbrecherischen Befehlen des nationalsozialistischen Regimes Widerstand
zu leisten, musste man ‚von innen her’ handeln und manchmal diese
Befehle ausführen. Wenn sich unter diesen Bedingungen die saubere
Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen teilweise verwischt,
wenn der Widerstandleistende in gewissen Augenblicken dem Henker sehr
nahe scheint, so ist das die unausweichliche Folge der Lage des Menschen
in einem totalitären System. Aber ist der passive Zuschauer bei dem
Verbrechen etwa unschuldig?“ (Saul Friedländer: Kurt Gerstein oder die
Zwiespältigkeit des Guten, München 2007, S. 195).
1 Siehe die Rezension
2 Bonavita sprich z.B. von einem „Bockenheimer Netzwerk“ (im einem Frankfurter Stadtteil Bockenheim)
*Siehe auch:
Doris Stickler: Zur Gestapo beordert. Die mutige Helferin Erica Ludoph.