Wir haben die Fernsehbilder so oft sehen müssen, dass es uns erstaunt, gar nicht dabei gewesen zu sein. Am 22. November 1963, 12.30 Uhr, in Dallas, Texas, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, John F. Kennedy, von Lee Harvey Oswald erschossen. Der ganze Vorgang, der die westliche Welt erschütterte und die intransparente Täterermittlung ermöglichten Verschwörungstheorien sowie eine enorme mediale Verwertung. Johannes Winter erinnert an das Attentat.
An jenem
Abend war die Familie im Wohnzimmer versammelt, vor dem ausladenden
Radiogerät mit dem blitzenden grünen Auge. Gebannt folgten wir den
Sondersendungen des HR, dazwischen die Nachrichten, von einer sonoren
Männerstimme vorgetragen. Der Tod des Politikers im fernen Amerika
hinterließ bei den Adenauer-treuen Eltern besorgtes Schweigen.
Es war der 22. November 1963, der Tag, an dem John F. Kennedy, (35.)
US-Präsident für etwas mehr als 1000 Tage, in Dallas/Texas von Lee
Harvey Oswald erschossen wurde, einem 24-Jährigen, der nach dem Ende
seiner Dienstzeit bei der US-Army zeitweise in der Sowjetunion gelebt
und Sympathien für Castros Kuba hatte. Oswald wurde seinerseits zwei
Tage nach dem Attentat bei einer Vorführung durch die Polizei von
Nachtclub-Besitzer Jack Ruby erschossen.
Das gewaltsame Ende Kennedys, des liberalen Politikers mit dem
Spitznamen „JFK“ und dem Image des charmanten Verführers, der seine
Krankheiten so sorgfältig wie erfolgreich verbarg, korrespondierte nicht
nur zu dessen bewegtem Leben, sondern galt auch als Höhe- und Endpunkt
einer Regierungszeit, die in extremer Dichte Ereignisse des Kalten
Krieges prägten.
Stichworte: Invasion von Exilkubanern, vom CIA unterstützt, gegen das Castro-Regime
(Schweinebucht 1961), Kuba-Krise wegen der Stationierung russischer
Atom-Raketen (1962), Bau der Berliner Mauer (1961), Eskalation des
Vietnam-Krieges. Nicht zu vergessen Kennedys Entspannungspolitik
zwischen Ost und West.
Naheliegend, daß Leben und (letztlich nicht aufgeklärter) Tod des Sohnes
aus reichem Haus zum Stoff für Phantasien, ja zum Spektakel wurden.
Historiker sprechen vom Kennedy-Mythos. Hollywood-Regisseure wie David
Miller, Henri Verneuil oder Oliver Stone produzierten Blockbuster.
Pop-Musiker wie die Rolling Stones (Sympathy for the Devil), Lou Reed
(The Day John Kennedy Died) oder Bob Dylan (Murder Most Foul) fanden
Motive für ihre Nummern, eine Band tourte unter dem Namen „Dead
Kennedys“. Schriftsteller wie Don de Lillo, Norman Mailer oder Stephen
King schrieben Romane, denen der Markterfolg sicher war. –
Don De Lillo hat mit „7 Sekunden“ („Libra“ lautet der Titel des
Originals von 1988) einen Thriller verfaßt, der zum Bestseller wurde,
ein Intrigenspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit um die Frage, ob dem
Attentat Einzeltäterschaft oder Verschwörung zugrunde lag bzw. liegt.
Ein Auszug:
„Lee Harvey Oswald lag wach in seiner Zelle. Allmählich wurde
ihm klar, daß er seine Lebensarbeit gefunden hatte. Nach dem Verbrechen
kommt die Rekonstruktion. Er wird Beweggründe zu analysieren haben, die
ergiebige Frage nach Wahrheit und Schuld. Zeit, über alles nachzudenken,
Zeit, diese Geschichte in Gedanken zu drehen und zu wenden.
Dieses Verbrechen liefert offensichtlich Material zu tiefer Deutung. Er
wird in der Lage sein, das Licht dieses einen vergrößerten Augenblicks
festzuhalten, die Schatten auf dem Rasen fixiert, die Limousine
schimmernd und reglos. Zeit, in Selbsterkenntnis zu wachsen, die
Bedeutung dessen zu ergründen, was er getan hat. Er wird die Tat
hundertmal variieren, sie beschleunigen und verlangsamen, die Gewichte
verschieben, Schattierungen finden, zuschauen, wie sich sein ganzes
Leben verändert. Dies war der wahre Anfang.
Sie werden ihm Schreibmaterial und Bücher geben. Er wird seine Zelle mit
Büchern über den Fall füllen. Er wird Zeit haben, sich im Strafrecht
weiterzubilden, in Ballistik, Akustik, Fotografie. Alles, was den Fall
betrifft, wird er untersuchen und sich zu eigen machen. Leute werden zu
ihm kommen, zuerst die Anwälte, dann Psychologen, Historiker,
Biographen. Sein Leben hatte jetzt ein einziges, klar umrissenes Thema,
und das hieß Lee Harvey Oswald.
Er und Kennedy waren Partner. Die Gestalt des Schützen im
Fenster war unlöslich mit dem Opfer und seiner Geschichte verbunden. Das
stärkte Oswald in seiner Zelle. Es gab ihm, was er zum Leben
brauchte.
Je mehr Zeit er in einer Zelle verbrachte, desto stärker würde er
werden. Jedermann wußte nun, wer er war. Das verlieh ihm Kraft. Für ihn
begann eindeutig eine neue, bessere Zeit, eine Zeit der gründlichen
Lektüre all dessen, was mit dem Fall zu tun hatte, eine Zeit der
Selbstanalyse und Rekonstruktion. Er sah die Haft nicht mehr als
lebenslangen Fluch an. Er hatte die Wahrheit über einen Raum
herausgefunden. Er konnte leicht in einer halb so großen Zelle
leben.“