Wenn sich die Analyse einer Persönlichkeitsstruktur auf eine Gesellschaft, gar eine Nation übertragen ließe, wäre ein staatspsychiatrisches Amt vonnöten, in dem flexible Therapien für die Gesundung an Haupt und Gliedern des Großen und Ganzen entwickelt werden müssten. Der Psychoanalytiker und Psychiater Eran Rolnik sieht für die israelische Gesellschaft diese Verbindung des Einzelnen zum Ganzen über ein demokratisches Selbstverständnis, das beiden das Überleben sichern kann.
Freud und der Bürgerkrieg. Am 1. März 1934 schrieb Sigmund Freud: „Bürgerkrieg, wie wir ihn durch eine Woche gehabt haben, kann natürlich nicht schön sein. Wir haben unmittelbar wenig gelitten, über einen Tag versagte die Elektrizität, aber … Nachher kam eine Zeit unbehaglicher Spannung wie in dem Hotelzimmer, nachdem der erste Stiefel gegen die Wand geworfen worden war. Wann fällt der andere?“
Der Brief ist an Freuds Schüler und Vertrauten Max Eitingon gerichtet. Kurz nachdem das Ermächtigungsgesetz und die Gleichschaltungsgesetze in Deutschland verabschiedet wurden, die die demokratische Weimarer Reichsverfassung de facto annullierten, setzte er sich nach Jerusalem ab. Eitingon zählt somit zu jenen Ärzten und Analytikern, die nicht auf den zweiten Stiefelwurf warteten. Sehr zum Missfallen Freuds trat er rasch aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft aus und gab seine Stellung als Direktor des Instituts und der psychoanalytischen Klinik in Berlin auf. Als Freuds Brief ihn in Jerusalem er-reichte, hatte er bereits eine neue psychoanalytische Gesellschaft in Palästina gegründet.
Auch wir, die israelischen Psychotherapeuten und Patienten, befinden uns seit der Regierungsbildung von Benjamin Netanyahu mit Itamar Ben-Gvir inmitten eines gewaltigen historischen Ereignisses, dessen Ausmaße uns noch unklar sind. Ein dramatisches Ereignis folgt dem anderen, ein „Wegwerfereignis” reiht sich an das nächste. Aber was ist hier unter „Ereignis“ zu verstehen? Stehen wir kurz vor einem Bürgerkrieg? Oder vielleicht kurz davor, neue Einsichten in das israelische politische Geschehen zu erhalten? Es ist keine leichte Sache, der Geschichte über die Schulter zu blicken, um zu schauen, welche weiterführenden Fragen und Chancen sie uns bieten könnte, abgesehen von jenen offensichtlichen Ereignissen, die sich beständig in unsere Aufmerksamkeit drängen. Sie überstürzen sich derzeit, und wie immer gibt es dabei zufällige, sich akkumulierende Elemente, die im Nachhinein wie sorgfältig geplant und abgestimmt erscheinen. Dennoch erleben wir eine Diskrepanz, die äußerst schwer zu verstehen und zu deuten ist, eine Diskrepanz zwischen dem, was in unserer Vorstellung bislang nur als Möglichkeit existierte – der Zusammenbruch der israelischen Demokratie – und der Form, die dieses Ereignis vor unseren Augen annimmt. Wir wussten, dass dieser Tag kommen würde. Das Menetekel stand uns vor Augen. Ähnlich wie Freud im Wien des Jahres 1934 vernehmen auch wir den Klang eines Stiefels, der gegen die Wand donnert, und spekulieren darüber, wann der andere Stiefel fliegt.
Zäsur (aus dem Lateinischen: caesura ‚Schnitt‘). Zäsuren spielen eine wichtige Rolle in den sichtbaren Veränderungen des Lebens und im therapeutischen Prozess. Die Zäsur ist ein Einschnitt, eine Unterbrechung, die auch Fortdauer ermöglichen kann. Freud zufolge findet die erste psychische Zäsur beim Übergang vom Mutterleib in die Welt statt. Allem Anschein nach entwickelte Freud diesen Begriff in Folge eines schmerzhaften Bruchs mit seinem Schüler Otto Rank, der die Theorie der „Geburtstraumas“ entwickelte. Der Zäsurbegriff wurde später von dem Britischen Psychoanalytiker Wilfred Bion übernommen und weiterentwickelt.
Momente der Stille, Unterbrechungen oder Störungen im Kommunikationsfluss und Gedankenablauf des Patienten, plötzliche Distanz und Veränderungen des emotionalen Klimas im Raum, die wir als Therapeuten wahrnehmen — all dies sind Einschnitte, die neue Einsichten eröffnen und begriffliche Differenzierungen ermöglichen über das, was in der therapeutischen Situation passiert; Luftlöcher, durch die wir unversehens in frühere Schichten oder tiefere Ebenen des Verständnisses psychodynamischer Prozesse fallen. Ein Großteil der Arbeit analytischer Therapeuten in der Klinik besteht darin, Ereignisse in der Übertragung sowie in der Vergangenheit der Patienten zu identifizieren, die das Resultat eines früheren, dabei aber fortgesetzten Geschehens sind, das sich in der inneren Welt des Patienten fortlaufend wandelt. Als Therapeuten setzen wir Pausenzeichen zwischen den verschiedenen psychischen Ereignissen, weisen auf das Vorhandensein unbewusster Triebe und Fantasien hin, die sich an einem imaginären Fluchtpunkt im psychischen Raum des Patienten verbinden. Dort stellen sie eine „falsche Verknüpfung“ her zwischen unbewussten Erinnerungsspuren im Leben des Patienten, der gelernt hat, diese als eine einzige psychische Realität zu verstehen und zu erleben. Die posttraumatische Belastungsstörung ist aus psychoanalytischer Sicht das Ergebnis eines Einschnitts, der nie zu bluten aufgehört hat. Sowohl in der Politik als auch in der Geschichte gibt es nicht nur einschneidende und dramatische Momente, sondern auch Atempausen und Wartezeiten. Politische, soziale und kulturelle Prozesse finden in einem Raum statt, in dem Zäsuren aufklaffen. Zugleich bieten Zäsuren Gelegenheit zur politischen Handlung durch Störungen und Unterbrechungen, die fördernd wirken und Weiterentwicklung ermöglichen.
Historiker beschäftigen sich mit der rückblickenden
Identifizierung von Zäsuren. Manchmal lohnt es sich, nach Ereignissen zu
suchen, die den Verlauf der Geschichte hätten verändern können, aber
aus dem gängigen, verengten und verfestigten Narrativ ausgeschlossen
wurden. Wir kennen solche Fragen: Was wäre passiert, wenn der junge
Hitler an der Kunstakademie angenommen worden wäre? Wenn die Attentate
auf ihn erfolgreich gewesen wären? Hätte auch dann der Antisemitismus
sein ganzes vernichtendes Potenzial entwickelt? Und war überhaupt jeder,
der an den Verbrechen der Nazis beteiligt war, wirklich ein Antisemit?
Was wäre geschehen, wenn Heinrich Brüning anstelle von Hitler im Jahr
1933 durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg den Auftrag
erhalten hätte, eine Regierung zu bilden?
Auf den ersten Blick scheinen die Ursachen für den Ablauf historischer
Ereignisse bekannt zu sein: Brüning griff viermal auf den
Notverordnungsartikel zurück, um seinen Plan zur wirtschaftlichen
Erholung der deutschen Wirtschaft umzusetzen, scheiterte aber. Er selbst
bekundete, der Reichspräsident habe ihn 100 Meter vor der Ziellinie
gestoppt. Hitler dachte damals nicht daran, dass er zum Kanzler ernannt
werden würde. Bei den Wahlen von 1932 verlor die Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)
sogar an Stärke und verlor etwa 2 Millionen Stimmen. Der hysterische
Hitler drohte, sich nach der Enttäuschung über die Beschämung, die die
deutschen Wähler ihm beschert hatten, das Leben zu nehmen. Dies sind
keine fiktiven Szenarien, sondern Ereignisse, die geschahen, aber nicht
ausreiften. Selbst historische Ereignisse, die sorgfältig geplant
erscheinen und sich über Jahre hinweg kontinuierlich abzeichneten, wie
der Aufstieg des deutschen Faschismus, die Vernichtung der europäischen
Juden oder Stalins „Große Säuberungen“, standen nicht „in den Sternen“
geschrieben. Es handelt sich um Entwicklungen, die auch anders hätten
enden können. Geschichtliche Darstellungen und Erinnerungen, besonders
wenn sie aus der Sicht der ‚Sieger‘ geschrieben werden, neigen dazu, der
Realität ein bestimmtes kohärentes Narrativ mit der ihnen eigenen Logik
aufzuerlegen.
Es ist ratsam, dem Staatsstreich, der in den letzten 9 Monaten in Israel stattfindet, nicht zu viel innere Logik und Bestimmtheit zuzuschreiben. Leicht kann man auf die dahinterstehenden Interessen verweisen sowie auf die strukturellen Schwächen der israelischen Demokratie, doch der Coup war nicht „sorgfältig geplant“. Vielmehr ist er die Folge jener Arroganz und Verachtung die die rechtsradikalen und religiösen Parteien den der israelischen Zivilgesellschaft dienenden Eliten entgegenbringen. Benjamin Netanjahu gleicht einem Pokerspieler, der gar nicht mehr in seine Karten schaut, die ihm zugeteilt werden, sondern nur noch den Einsatz erhöht. Er war schon immer ein Größenwahnsinniger, dem die Wahrheit im Weg steht. Unterdessen sieht er wohl bereits in jeder Wahrheit – selbst, wenn sie ihm nützlich sein könnte – nur noch seinen erbittertsten Feind.
Derzeit sind wir von intriganten Politikern umgeben, die keine
Ahnung haben, was sie morgen früh tun werden, um ihre Ziele zu
erreichen. In dieser Zäsur erheben wir uns – als Therapeuten und Bürger
—, die für ihre Freiheit kämpfen. Wir kämpfen für die Demokratie, weil
sie es verdient, dass für sie gekämpft wird, selbst wenn es ein
verlorener Kampf ist. Yariv Levin und Simcha Rothman werden nicht bis
zum letzten Blutstropfen für die Diktatur oder für das Recht kämpfen,
auf dem muslimischen Tempelberg einen jüdischen Tempel zu errichten.
Diktatur ist keine Idee, für die jemals gekämpft wurde. Vielmehr genießt
man das Erlebnis, solange es möglich ist und die andere Seite keinen
Widerstand leistet. Beispielsweise um für Hunderttausende von Schekeln
eine Kaffeemaschine fürs Büro zu kaufen, weil niemandem Rechenschaft
abverlangt wird und ungezügelte Schamlosigkeit herrscht.
Der politische Einschnitt, das Gesetz oder der Verstoß gegen die
bestehende Ordnung lösen das Bekannte auf und ermöglichen einen Blick
hinter die Kulissen, wo das Gewohnte gegen den Strich gebürstet wird.
Die gegen den Coup gewachsene Widerstandsbewegung reagiert seit 9
Monaten auf den Angriff gegen die Demokratie mit beharrlichen Störungen
des gewohnten Lebens. Diese Störungen werfen bereits neues Licht auf
verschiedene Ereignisse und werden weiterhin Vorkommnisse
unterschiedlichster Art entlarven. „Arrhythmien“ jeder Art werden
verursacht, während wir auf den zweiten Stiefel warten.
Störungen und Unterbrechungen sind eine Form des Widerstands gegen Abspaltung und projektive Identifikation. Der „Störenfried“ – sei es ein Politiker, Psychotherapeut oder ein besorgter, Leserbrief schreibender Bürger – bedient sich der Zäsur, um zu versuchen, eine Interpretation dessen anzubieten, was in der Welt, in der er lebt, geschieht. Er gibt sich nicht damit zufrieden, gleichgültig oder ängstlich darauf zu warten, dass der „der andere Stiefel“ gepoltert kommt. Wer störend eingreift, wartet nicht darauf, dass der Souverän den „Notstand“ ausruft, sondern ist ihm darin mit eigener Initiative voraus. Er durchbricht die Barrieren der Einsamkeit und Unwissenheit gegenüber sich selbst und dem anderen.
Die Politik und der psychische Raum. Wir kennen das Unbehagen, wenn es zur Demo geht. Dabei besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Anspannung und dem seelischen Unbehagen, die einer Demonstration gegen den Regimeputsch vorausgehen, und der Angst, die Therapeuten verspüren, bevor sie sich zur Deutung oder Unterbrechung der Worte ihrer Patienten entschließen. In beiden Fällen ist ein gewisser Vertrauensvorschuss erforderlich, um die nötige Gewissheit zu erlangen, dass der eigene Eingriff eine Veränderung in der Welt bewirkt, der dabei nicht so gewalttätig ist, dass er Therapeut oder Patient den Boden unter den Füßen wegzieht. So erklärt sich mir die weitreichende Mobilisierung der Psychologen im Kampf gegen den Putsch. Der Beitrag der Psychotherapeuten lässt sich nicht nur in der per se richtigen Erkenntnis zusammenfassen, dass es „ohne Demokratie keine psychische Gesundheit gibt“. Wir wissen, dass das Seelenleben an sich nicht lebenswert ist, wenn es sich nicht mit dem Schmerz auseinandersetzt, der entsteht, wenn die Psyche vor inneren und äußeren Angriffen verteidigt werden muss. Demokratie ist eine unerlässliche Voraussetzung für den psychischen Raum. Demokratie bildet die Struktur, das System, ohne das der Mensch leicht zu einem konditionierten Wesen verflacht. In Pawlows Labor war es nach der Russischen Revolution von 1917 verboten, das Wort Seele zu verwenden. Einige Jahre später verboten die Bolschewiki die Psychoanalyse.
Die Verantwortlichen für den Staatsstreich werden ihn weiterhin wider alle Rücksicht auf den Nutzen und die Selbsterhaltung des Staates Israel vorantreiben. Wir haben kein klares Bild davon, wie das Leben in der jüdischen Theokratie aussehen wird, die hier in Israel derzeit etabliert wird. Klar scheint jedoch, dass jüdische Todestriebe sich nicht grundsätzlich von den Todestrieben unterscheiden, die für jene autoritären und faschistischen Regime charakteristisch sind, die ihre jüdischen Bürger verfolgten. Niemand in der derzeitigen Regierung ist ernsthaft besorgt über die Abwanderung von Ärzten, der Abwertung des Schekels oder den Braindrain. Ein nützlicher Idiot findet sich immer, um die brillante Wissenschaftlerin zu ersetzen, die ihr Labor verlassen hat. Nie fehlt es am Opportunisten, der den renommierten Chirurgen ersetzt, der seine Sachen packte und nach Berlin zog.
Die Anstifter des Justizcoups und ihre Komplizen in den Medien machen Überstunden, um der Flut ethnokratischer und rassistischer, die Werte der israelischen Unabhängigkeitserklärung untergrabenden Gesetze, populistische Elemente hinzuzufügen, beispielsweise durch das Schüren eines ethnischen Kulturkampfs zwischen Juden aschkenasisch-europäischer und sephardisch-orientalischer Abstammung oder durch Stimmungsmache gegen die „Weißen Eliten“. Ein homosexueller Knesset-Vorsitzender, der der Verabschiedung homophober Gesetze zustimmt, ist nicht gerade jemand, der sich von einer Verfassungskrise oder dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems erschüttern ließe. Solange sich Gesetze nicht an Vernünftigkeit und Angemessenheit orientieren, wird es auch im täglichen Leben weder Vernünftigkeit noch Angemessenheit geben. Anständige Menschen, ob Staatsbeamte oder Busfahrer, die in der Vergangenheit das Gemeinwohl vor Augen hatten, werden es nun nach und nach aus dem Blick verlieren.
Menschen werden nicht als Demokraten geboren. Wir werden erst dann zu Demokraten, wenn wir in einer Demokratie leben und als Demokraten handeln. Die Psyche ist eine Arena der Konflikte zwischen Bedürfnissen, Wünschen, Frustrationen, Ängsten und gegensätzlichen Impulsen. Neben dem Wunsch nach Unabhängigkeit, Wahlfreiheit und individueller psychologischer Entfaltung neigen Menschen auch dazu, ihre Seele zu verkaufen, sich all dem hinzugeben und zu überlassen, was ihre Ängste besänftigt. Neben der Wissbegierde und dem Wunsch, die Welt kennenzulernen, fürchten wir auch das Neue und Fremde, und sind bereit, in schmerzhaften, beängstigenden und verunsichernden Situationen Teile der inneren und äußeren Realität vollständig zu hassen und zu leugnen. Autoritäre und narzisstische Führer verstehen es, die dem Menschen innewohnende Tendenz zu verstärken, die Welt in Schwarz und Weiß zu sehen. Ein von Misstrauen und Ausgrenzung geprägtes politisches Klima, auf dessen Schaffung sich populistische Führer spezialisiert haben, verstärkt nicht nur die Angst vor dem Anderen, sondern auch vor der Begegnung mit unserer eigenen psychischen Wirklichkeit. Menschen können über längere Zeiträume als Gemeinschaft funktionieren und leben, ohne je wirklich nachgedacht zu haben, ohne wirklich etwas zu fühlen, ja sogar ohne wirklich zu träumen. Das Resultat ist eine Art Stumpfheit, Engstirnigkeit und Gleichgültigkeit, an die sich jeder gut erinnert, der jemals unter einer Diktatur gelebt hat. Der schizoparanoide Blick ist bereits von weitem auf der Straße zu erkennen. Menschen schauen einander nicht mehr in die Augen und weichen vor der bedrohlichen Begegnung mit dem anderen zurück. Bald wird sich hier niemand mehr zu Hause fühlen. Auch diejenigen nicht, die sich in ihrer Arroganz noch für die „Hausherren“ halten.
Populistische Führer und Fakejournalisten benutzen die Wahrheit, um zu lügen. Sie sorgen dafür, dass die Öffentlichkeit unter dem Slogan des „Pluralismus“ mit „alternativen Fakten“ überschüttet wird, um Verwirrung und Unsicherheit zu stiften, sowohl in Bezug auf die „Tatsachen“ des Lebens als auch die Möglichkeit, etwas über die Welt wissen zu können. In solch geistigem Gesprächsklima, in dem scheinbar nichts gewusst werden kann und alles nur der subjektiven Deutung unterliegt, verschwindet auch das Interesse an Forschung, Kritik und Meinungsaustausch. Die meisten geistigen Ressourcen bleiben auf leicht zugängliche Vergnügungen ausgerichtet, mithin lediglich auf Stress- und Angstabbau. In nichtdemokratischen Regimen wird gemeinhin das Gefühl durch Erregungszustände und Gefühlsüberschwang übertönt, überstürztes und gewalttätiges Handeln dem Denken vorgezogen. In einer nichtdemokratischen Gesellschaft bleibt kein Platz für Scham, Reue oder Gewissensbisse.
All diese Gründe verdeutlichen zugleich, warum die Demokratie ein frustrierendes und unabgeschlossenes Projekt bleiben wird, das fortwährend Schutz und Mut erfordert, ganz so wie eine langfristige Therapie. In nichtdemokratischen Regimen – unter dem Druck, Teil der kollektiven Verfolgungserfahrung zu werden und Verleugnungs- und Projektionsstrategien zu übernehmen –, fällt es selbst geistig gesunden Menschen schwer, zwischen innerer und äußerer Realität zu unterscheiden und die ihre Psyche bedrohenden Gefahren zu erkennen. Das fehlende Vertrauen in die Presse und die etablierten Nachrichtenagenturen verwandelt sogar „apolitische“ Handlungen wie den Schulunterricht und die akademische Recherche in einen subversiv anmutenden Akt. An Stelle von Mitgefühl, Rücksichtnahme und Akzeptanz der Unvollkommenheit sowie gegenseitigen Abhängigkeit treten nun Bosheit, Überheblichkeit, Verachtung und Engstirnigkeit, die einen „kulturellen Code“ bilden – ein Mittel, mit dem die Regierung ihren Bürgern und Bürgerinnen einen alternativen Gesellschaftsvertrag anbietet, der das „trockene Gesetz“ entwertet. Der korrupte Staat und seine ausgehöhlten Institutionen signalisieren der Öffentlichkeit, dass sich das „wirkliche Leben“ außerhalb des Gesetzes abspielt. Er erlaubt Hass, Neid, Unterdrückung und Verachtung jedem greifbaren Ziel gegenüber, um sich freizumachen von den Ängsten der Abhängigkeit, Mangelhaftigkeit, Unvollständigkeit, Unwissenheit, Unsicherheit und Einsamkeit.
Wahlverwandtschaft. Das offizielle
Israel steht seit langem allem, was mit Professionalität, Objektivität
und Rechtsstaatlichkeit zu tun hat, feindselig gegenüber. Machen wir uns
nichts vor: Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage oder des
internationalen Status Israels wird den Kurs der jetzigen israelischen
Regierung nicht ändern. Im Gegenteil: Inflation, Armut, und
internationale Isolation werden dem israelischen Faschismus in die Hände
spielen. So wie eine schwierige Kindheit keine besseren Menschen
hervorbringt, führen existenzielle Krisen nicht zu vernünftigeren oder
demokratischeren Nationen. Seien wir ehrlich: Der Sieg der
Protestbewegung ist nicht garantiert und die Geschichte wird nicht den
Atem anhalten, wenn der Staat Israel eines Morgens inmitten eines
Bürgerkriegs aufwacht.
Die Putschgegner scheinen geeint und entschlossen, die Demokratie zu
schützen, selbst um den Preis einer Konfrontation mit der Regierung und
der Infragestellung solch anachronistischer ziviler Normen wie die
Verpflichtung, sich unter allen Umständen zum Reservedienst zu melden.
Wir haben den längeren Atem. Aber das Zeitfenster für Korrekturen und
Richtungsänderungen im Leben einer Nation ist manchmal eng. Es wäre nur
wünschenswert, so schnell wie möglich dorthin zu gelangen und
gleichzeitig eine gewaltsame Konfrontation mit der Regierung zu
vermeiden.
Nicht weil wir „Brüder” sind. Auch Verwandtschaften sind eine
Angelegenheit der Wahlfreiheit. Wir sind weder jemandes „Bruder“, nur
weil es ihm gerade passt, uns mit „mein Bruder“ anzusprechen, noch weil
wir eine gemeinsame Herkunft, Nationalität, Religion, Sprache oder
Geschichte haben. Eine liberale Demokratie braucht keine unechte
Einheit, gerade weil es sich um einen Rahmen handelt, um ein System, das
seinen Bürgern Freiheit garantiert, ohne eine „Verwandtschaft“
vorauszusetzen, die auf Blut, Religion oder Rasse basiert. Diese Art von
Verwandtschaft überlässt man besser jenen Knesset-Abgeordneten, die die
Schlägertruppen der jüdischen Siedler und ihre durchtriebene
„Volkswillen“-Demagogie vertreten. Aus pragmatischen Gründen ist es
ratsam, einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Bürgerkriege sind eine Droge,
deren Entzug beiden Seiten schwer fällt. Meistens dauern sie lange und
fordern viele Opfer.
Während darauf gewartet wird, dass der zweite Stiefel geschleudert wird, kann man immer noch sehen, wie jede Seite des Konflikts dazu neigt, sich gegenüber bestimmten Aspekten der Wirklichkeit, in der sie agiert, zu verschließen. Gesteuert von ihren unbewussten Grundannahmen wollen sie die Illusion aufrechterhalten, dass noch alle Optionen offen stünden. Doch Optionen verschwinden, neue eröffnen sich. Die Regierung macht sich vor, dass sie durch eine geringe parlamentarische Mehrheit unter der Führung eines schwächelnden, gejagten Premierministers eine große, organisierte und gebildete Öffentlichkeit israelischer Patrioten neuen Typs unterwerfen kann. Diese entdeckte jedoch in den letzten 9 Monaten das Ausmaß der Sinnbefriedigung, die ein politischer und sozialer Aktivismus ermöglicht, der nicht unter der Schirmherrschaft des Staates, sondern im Lichte universeller Prinzipien und Werte steht.
Aber selbst Anhänger der israelischen Demokratie und ihre
Apologeten unterliegen ihren unhinterfragten Grundannahmen; sind blind
gegenüber den Ursachen, die die israelische Demokratie so brüchig und
schwach gemacht haben. Das Rad der Zeit kann nicht zurückgedreht noch
das Problem gelöst werden, ohne gerade jetzt (und nicht erst „nach dem
Sieg“) für eine arabisch-jüdische Allianz in diesem Kampf einzutreten.
Die Anhänger der israelischen Demokratie täten gut daran, einen Weg zu
finden, ihre Ressentiments beim Anblick palästinensischer Flaggen zu
überwinden, die bei Demonstrationen gegen den Regierungsputsch gehisst
werden. Der Kampf gegen Autokratie und Theokratie, der sich derzeit in
Israel vor unseren Augen abspielt, ist aussichtslos, wenn er nur von der
melancholischen Sehnsucht nach dem alten Status quo einer
„High-Tech-Nation“ motiviert ist oder von der Ausrede, dass „kein
Partner für den Frieden“ vorhanden sei. Wer auf den Demos im
„Anti-Besatzungsblock“ nur eine Gruppe von Trittbrettfahrern sieht, die
den Widerstand gegen den Regierungsputsch behindern, verkennt die
Ernsthaftigkeit dieses Augenblicks in der politischen Geschichte
Israels. Der oder die verkennt auch die Notwendigkeit einer
tiefgreifenden Aktivierung der Strukturen und Werte, die für den Kampf
gegen den Rassismus erforderlich ist, der sich schon seit langem nicht
nur im messianischen Israel, sondern auch tief im Herzen der liberalen
säkularen Mitte eingenistet hat. Vor allem aber verkennen sie die
Möglichkeiten zum spirituellen und emotionalen Wachstum, die die
gegenwärtige politische Zäsur für eine Verbesserung der Israelischkeit
und Jüdischkeit anbietet, und denen das Potential innewohnt, sich über
die Grenzen ihrer ethnischen, religiösen, nationalen und sogar
territorialen Verwirklichung hinaus weiterzuentwickeln.
Aus dem Hebräischen von Jan Kühne.