Es geht um Kapitalverbrechen, also Mord und Totschlag, aber auch um unterlassene Hilfeleistung, Verleumdung, Rufmord und Nötigung. In Frankreich sind Jugendliche, die Hetzkampagnen im Netz gegen Lehrer durchgeführt haben, in deren Folge zwei Lehrer durch islamistische Täter umgebracht wurden, mit Bewährungsstrafen davongekommen. Jutta Roitsch berichtet den Hergang und spricht von einem Prozess ohne Antworten, aber mit bitteren Folgen.
Sie erschienen vor dem Pariser Jugendgericht, eingehüllt in Kapuzenpullis und vermummt: fünf ehemalige Schüler der Mittelschule „Bois d’Aulne“ in Conflans-Sainte-Honorine und eine heute 16jährige Schülerin, die unter einem anderen Namen an einem anderen Ort in eine andere Schule geht. Sie sind angeklagt wegen Verleumdung, Denunziation und Vorbereitung einer terroristischen Gewalttat. Der Fall des am 16. Oktober 2020 von einem 18jährigen radikalislamischen Tschetschenen erstochenen und geköpften Lehrers Samuel Paty wird erstmals vor Gericht verhandelt: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil die Jugendlichen zur Zeit der Tat zwischen 13 und 15 Jahre alt waren.
Die Schar der Journalisten und Reporterinnen blieb vom 27. November bis zum 8. Dezember vor der Tür. Gespräche mit den Anwälten der sechs Jugendlichen waren untersagt, ebenso Nachfragen bei den zahlreich erschienen Eltern und den 13 Lehrern aus Conflans, die als Nebenkläger auftraten. Der Hinweis eines Beteiligten, dass im Gerichtssaal Brahim Chnina, der Vater der damals 13jährigen, per Video aus der Untersuchungshaft zugeschaltet worden war, wirkte bizarr. Unerklärlich bliebe für ihn, warum Chninas Prozess erst in einem Jahr, vom 12. November bis zum 20. Dezember, stattfinden wird. Er und seine Tochter haben die grausige, über das Internet verbreitete Tat an dem Lehrer einer öffentlichen, republikanisch-laizistischen Schule in Frankreich auf dem Gewissen.
Mit dieser Jugendlichen, die mit strahlend weißer Pudelmütze, einem riesigen weißen Schal, Corona-Maske, Sonnenbrille und einer überdimensionierten weißen Jacke im Gericht erschien, beginnt die Geschichte, die die französische Lehrerschaft, die gesamte Gesellschaft erschüttert hat und durch einen zweiten brutalen Mord an einem Lehrer weiter erschüttert: Am 13. Oktober 2023, drei Tage vor dem dritten Todestag Patys, erstach im Schulzentrum Gambetta in Arras ein radikalisierter ehemaliger Schüler seinen Französischlehrer Dominique Bernard. Seitdem sind die Spuren der Verunsicherung unter Pädagogen tief. Das Misstrauen zwischen Lehrern und Schülern in der öffentlichen Schule breitet sich aus: Auf dem Prozess lastete so eine Hoffnung auf Antworten.
Ein Rückblick: Neun Tage vor dem Mord an Samuel Paty wurde das
13jährige Mädchen wegen ungebührlichen und respektlosen Verhaltens für
zwei Tage von der Schule in Conflans ausgeschlossen. Es war nicht das
erste Mal. Zu Hause aber tischte sie ihrem Vater Brahim Chnina eine Lüge
auf: Sie habe sich mit dem Geschichtslehrer Paty angelegt, weil der im
Unterricht die muslimischen Schüler aufgefordert habe, den Klassenraum
zu verlassen. Er wolle Karikaturen des nackten Propheten Mohammed
zeigen. Nichts davon war wahr, aber der Vater löste zusammen mit dem
landbekannten islamistischen Aktivisten Abdelhakim Sefrioui im Internet
eine Hetzkampagne gegen Paty aus: Sie riefen zu einer Bestrafungsaktion
auf, nannten den Namen der Schule, des Lehrers und seine Adresse. Die
Videos verbreitete nicht nur die einflussreiche Große Moschee de Pantin
in der Pariser Banlieue Seine-Saint-Denis, sie schaute sich auch
Abdoullakh Anzorov an, ein 18jähriger Tschetschene mit russischem Pass,
und entschloss sich zur brutalen Tat. Er versicherte sich in Conflans,
einem Ort, den er nicht kannte, gegen 300 Euro der Unterstützung jener
fünf Schüler, die jetzt vor Gericht standen: Sie denunzierten ihren
47jährigen Lehrer. Einer beschrieb Samuel Paty, andere legten sich mit
Anzorov zwei Stunden lang auf die Lauer, bis der Geschichtslehrer zu Fuß
gegen 16 Uhr die Schule verließ. Alle fünf machten sich dann aus dem
Staub, eine Dreiviertelstunde später postete der seit zehn Jahren in
Frankreich als Geflüchteter geduldete Tschetschene seine „Nachricht“ an
Macron, „den Herrn der Ungläubigen“: „Ich habe einen deiner Höllenhunde
exekutiert, der gewagt hat, Mohammed herabzusetzen.“
Aus dem Jugendgericht drangen nur wenige Nachrichten. Der eine oder
andere Anwalt der fünf Jungen plauderte dennoch. Dilan Slama,
Verteidiger eines muslimischen Jugendlichen, unterstrich die Unreife und
Dummheit der Fünferbande. Sein Mandant, heute unter anderem Namen an
einem anderen Ort, wäre gerne der Held gewesen, der den Mörder
aufgehalten hätte: „Aber was konnte er schon von den Absichten des
Attentäters wissen“, entschuldigte der Anwalt seinen Mandanten. Der
junge Tschetschene hatte den Jungs erzählt, er wolle Paty vor seiner
Internetkamera zwingen, sich wegen der Beleidigung des Propheten zu
entschuldigen. Für Antoine Casubolo Ferro, der die Lehrer vertrat, und
Luis Caillez, einer der Anwälte der Familie Paty, stellte sich die
Vertrauensfrage, denn die Fünfergruppe trieb sich zwei Stunden lang mit
Anzorov vor der Schule herum, ohne dass nur einer von ihnen auf die Idee
gekommen wäre, in der Schule irgendeinen Menschen aufmerksam zu machen,
gar zu warnen. „Was ist schiefgelaufen, dass die Lehrer das Vertrauen
der Schüler verloren haben“, fasste Anwalt Ferro die Motive seiner
Nebenkläger zusammen. „Was hätten sie besser machen können?“
In der zwanzig Minuten dauernden Urteilsverkündung durch eine
Richterin blieben die Auskünfte spärlich, alle Fragen unbeantwortet.
Dilan Slama sprach erleichtert von einem „sehr pädagogischen Prozess“:
Die Fünferbande erhielt Bewährungsstrafen von 14 bis 20 Monaten,
Ermahnungen der Richterin, eine Ausbildung zu machen, auf ihre
Sozialarbeiter zu hören. Der Anführer, der die 300 Euro kassiert hatte,
kam mit zwei Jahren davon, sechs Monate lang überwacht ihn eine
elektronische Fußfessel. Chninas Tochter, die heute 16jährige, verließ
das Pariser Jugendgericht mit einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten. Wer
sie als Anwalt oder Anwältin vertrat, ließ sich aus den nicht üppigen
Informationen in deutschen (taz, stern, Deutsche Welle, Tagesschau) und
französischen (Libération, Le Monde) Medien nicht feststellen.
„Sehr enttäuschend“ nannte Virginie Le Roy den Prozess. Er sei ohne
wirkliche Antworten geblieben und die Strafen seien unangemessen
niedrig. Diese Anwältin der Familie ist es, die seit dem brutalen Mord
auch die staatlichen Stellen des französischen Schulwesens bis zum
nationalen Erziehungsministerium wegen unterlassener Hilfeleistung
angeklagt hat, ein Verfahren, das seit April 2022 schwelt und bereits
den dritten Bildungsminister unter Emmanuel Macron beschäftigt. Doch
auch ohne einen solchen Prozess auf der politischen Bühne gibt es
inzwischen Anzeichen für ein breites institutionelles Versagen, von der
Lehrerschaft bis zum Ministerium, aber vor allem der Generaldirektion
der inneren Sicherheit (DGSI), dem
wichtigsten Antiterrordienst. Aufgedeckt hat sie Stéphane
Simon.
Ein Jahr lang hat dieser Journalist, dessen Vater und Großvater Lehrer waren, zusammen mit zwei Kollegen recherchiert, sich um Gespräche mit den Kollegen in Conflans, den Gewerkschaften, dem Antiterrordienst der Inneren Sicherheit und dem damaligen Minister Jean-Michel Blanquer bemüht. Sein im Frühjahr 2023 erschienenes Buch ist eine Anklageschrift: „Die letzten Tage des Samuel Paty. Warum diese Tragödie hätte verhindert werden können.“ In einem Interview mit der Zeitschrift Charlie Hebdo (26. April 2023) räumte er die Schwierigkeiten ein, die ihm auf allen Ebenen begegnet seien: Patys Kolleginnen und Kollegen wollten nicht reden, verschanzten sich hinter der Verschwiegenheit ihrer Beamtenschaft. Andere wiederum kritisierten den Geschichtslehrer offen, er habe der Meinungsfreiheit keinen Dienst erwiesen, sondern den Islamisten Argumente geliefert, weil eine der gezeigten Mohammed-Karikaturen sexistisch sei. Der Kurs, um den es ging und an dem die 13jährige Schülerin nicht teilnahm, beschäftigte sich mit den Mordtaten in der Redaktion von Charlie Hebdo und den anschließenden Massendemonstrationen in Frankreich „Ich bin Charlie“. Paty nannte seinen Kurs: „Ein Dilemma: Sein oder Nichtsein ,Charlie‘. Eine Definition der Freiheit.“ Er habe, so berichtet Simon, drei Mohammed-Karikaturen, die offizielles, im Internet verfügbares Unterrichtsmaterial zum übergeordneten Thema Meinungs- und Pressefreiheit sind, gezeigt und seinen Schülern angeboten: Wer sie nicht sehen wolle, solle kurz wegschauen. Wer aus der Klasse Chninas Tochter mit Informationen aus dem Unterricht „gespickt“ hat, ist bis heute nicht aufgeklärt. Im Kollegium scheint nach wie vor die Devise zu herrschen .„Pas de vagues“, nur ja keine Unruhewellen.
Sechs Tage vor der Ermordung kursierten die Hetzvideos und Aufrufe zur Bestrafung Patys offen im Netz, fand Simon heraus. Die Schulleiterin, vor der auch der Aktivist Sefrioui einen wütenden Auftritt hatte, informierte laut eigenen Angaben darüber lediglich telefonisch die vorgesetzte Schulbehörde. Weder dort noch im zuständigen Antiterrordienst wurden die Drohungen und Hetzvideos ausgewertet und ernst genommen. „Wenn der Staat seine Rolle gespielt hätte“, sagte Stéphane Simon, hätte der Innenminister Polizeischutz anordnen müssen, Samuel Paty sich offiziell eine Auszeit nehmen können. Fassungslos berichtet der Journalist über das Gespräch mit dem ehemaligen Bildungsminister Blanquer. Er habe erklärt, vor der Ermordung Patys nichts von einer Hetzkampagne gehört zu haben. Im Übrigen bekäme sein Ministerium täglich dreißig bis vierzig Klagen über Verstöße gegen die Laizität in den Schulen. Die könne man nicht alle bearbeiten, „Das hat mich umgehauen“, sagte Simon.
Die zweite Veröffentlichung erschien am 6. Oktober 2023, eine Woche vor dem zweiten brutalen Mord an Dominique Bernard im nordfranzösischen Arras. Ihre „graphic novel“ nannten Valérie Igounet und Guy le Bosnerais „Crayon noir“ und „ein Denkmal auf Papier“: Mit schwarzem Zeichenstift erzählen sie in diesem Taschenbuch „Samuel Paty, die Geschichte eines Lehrers“. Sie beginnt mit dem Faststaatsbegräbnis im Ehrenhof der Pariser Sorbonne, den nachträglichen Orden und Ehrenzeichen für Paty und endet in der Beschreibung der „schwindelerregenden Isolation“ des Pädagogen, der fehlenden Aufmerksamkeit und Hellhörigkeit der staatlichen Institutionen.
Letzteres trifft auch für den zweiten Mord zu: Am 13. Oktober 2023 ersticht der 20jährige Mohammed Mogouchkov, ein Russe aus der Kaukasusregion Inguschetien, auf dem Schulhof des Schulzentrums Gambetta seinen ehemaligen Lehrer Bernard, verletzt weitere Pädagogen vor den Augen der Schüler schwer. Vor der Tat postet er seinen Hass auf die republikanisch-laizistische Schule, die ihm Demokratie habe beibringen wollen. Dieser junge Mann ist den Antiterrordiensten seit längerem bekannt, eine Gefahr für die Schule sahen sie in ihm nicht.
Seit der zweiten Mordtat, dem terroristischen Wüten der islamistischen Hamas in Israel, der militärgewaltigen Antwort aus Tel Aviv und der propalästinensischen Stimmung in vielen Schulen und Universitäten häufen sich in den Schulen die Fälle von Bomben- und Mord-Drohungen, Messerangriffen oder Akte der Verweigerung, sich an Schweigeminuten für Paty oder Bernard zu beteiligen. Das Ministerium, sechs Monate lang geführt vom jetzt zum Premierminister beförderten Gabriel Attal, registrierte in den letzten Wochen über 500 Vorfälle und schloss 85 Schülerinnen und Schüler von der öffentlichen Schule aus. Die Unruhe und Unsicherheit in der Lehrerschaft und ihren zahlreichen Gewerkschaften aber wachsen: Es herrscht Ratlosigkeit, wie mit radikalisierten Schülern und Schülerinnen vom Kunstunterricht bis zur französischen Literatur umzugehen sei. Hinzu kommt enormer politischer und gesellschaftlicher Druck, denn die Schülerleistungen zwischen Lille und Marseille sind bei den letzten PISA-Tests in Mathematik und Französisch noch schlechter ausgefallen als in Deutschland. Aber dies ist ein anderes Thema. Vincent Tiberj, Soziologe der Universität Bordeaux, kommentierte das Urteil des Pariser Jugendgerichts in einem Bericht der Deutschen Welle mit dem nachdenklichen Satz: „Wir sollten uns fragen, welchen Platz die Schule in unserer Gesellschaft haben soll und was Lehrer brauchen, um ihre für unsere Demokratie zentrale Mission zu erfüllen.“ Das ist die Herausforderung, um die es geht.