„Wenn man sein ordentliches Arbeitsmaß hat und unter ordentlichen, lustigen Menschen ist, dann fühlt man sich unendlich glücklich. Die Arbeit ist doch die höchste Wonne!“, heißt es in der „Kunde von Nirgendwo“, die William Morris als „eine Utopie der vollendeten kommunistischen Gesellschaft und Kultur aus dem Jahr 1890“ bezeichnet hat. Welche Utopie leitet heute die Forderung nach der Vier-Tage-Woche? Matthias Schulze-Böing beschreibt den Rahmen der kurzen Arbeit in einer vollendeten kapitalistischen Gesellschaft.
„Geht´s noch?!“ möchte man ausrufen, wenn man die jüngste Forderung aus der Industriegewerkschaft Metall zu einer radikalen Arbeitszeitverkürzung liest. Hat man doch gerade im Artikel zuvor gelesen, dass inzwischen nicht mehr nur der Mangel an Fachkräften, sondern inzwischen auch die Knappheit von Arbeitskräften aller Qualifikationsstufen zu einem empfindlichen Risiko für Wirtschaft und Wohlstand geworden sind. Man erlebt und liest es immer öfter – Autos können nicht ausgeliefert werden, weil Teil fehlen, die wiederum wegen fehlender Arbeitskräfte nicht rechtzeitig ans Montageband geliefert wurden. Die S-Bahn fällt aus, weil kein Ersatz für den erkrankten oder urlaubenden Fahrer vorhanden ist. Mülltonnen bleiben ungeleert, weil es auch bei den kommunalen Betrieben an Kräften fehlt. Von den seit Jahren bekannten Personalnöten bei Pflege und medizinischer Versorgung gar nicht erst zu reden.
60 Prozent aller Unternehmen sehen im Fachkräftemangel ein
bedeutendes Geschäftsrisiko. Gleich nach den hohen Energiepreisen ist
dies die Nummer 2 im Angstranking der Manager und Unternehmer. Das
Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) rechnet Jahr für Jahr eine
sogenannte „Stellenüberhangsquote“ aus. Diese bezeichnet den Anteil der
offenen Stellen, die nicht adäquat besetzt werden können, weil es an
Bewerbern fehlt. Zuletzt lag diese Quote im Jahr 2022 bei 45,9 Prozent.
Akkurat haben die Kölner Forscher zudem ausgerechnet, wie viele
Fachkräfte der Wirtschaft fehlen. 345.865 seien es im Jahr 2022 im
Mittel gewesen. Der CEO der
privaten Arbeitsvermittlungsfirma Stepstone, Sebastian Dettmers, hat im
letzten Jahr ein ganzes Buch über die düstere Vision der „Großen
Arbeiterlosigkeit“ geschrieben.
Auch die Europäische Kommission sieht eines der größten Risiken für den
Wohlstand in Europa im Arbeitskräftemangel. Sie empfiehlt mehr
Investition in Qualifizierung, die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von
Frauen und die Mobilisierung der „stillen Reserve“ inaktiver Menschen,
Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Drittstaaten außerhalb
der EU, aber auch mehr finanzielle Anreize zur Arbeitsaufnahme, sprich
höhere Löhne, und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, also mehr
gute und sinnstiftende Arbeit, von der man gut leben kann und die Spaß
macht. Von Arbeitszeitverkürzung ist in dem Papier der in aller Regel
wissenschaftlich gut beratenen EU-Kommission nirgends die Rede, eher
davon, dass man, auch zur Sicherung der Renten, Wege suchen möge, wie
man Älteren eine längere aktive Beteiligung an der Erwerbsarbeit
ermöglichen kann.
Schaut man sich die Statistiken der Beschäftigung in Deutschland an, wird man unschwer erkennen, dass wir ohnehin schon auf dem Weg in eine Teilzeitrepublik sind. Die Teilzeitquote, also der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an allen Erwerbstätigen stieg von 18,5 Prozent im Jahr 1991 auf 38,6 Prozent im Jahr 2019, von 4,5 auf 19,8 Prozent bei den Männern und von 35,9 auf 58,2 Prozent bei den Frauen. Während die Zahl der Erwerbstätigen von 1991 bis 2019 um erfreuliche 16,5 Prozent zunahm, stieg das Arbeitsvolumen, also die Gesamtzahl aller während eines Jahres im Lande geleisteten Arbeitsstunden nur um 3,4 Prozent (53 Milliarden Stunden wurden im Jahr 2019 in Deutschland geleistet). Die durchschnittliche, tatsächliche Arbeitszeit ging von 1.327 Stunden auf 1.266 Stunden pro Jahr zurück. Vor allem bei den Vollzeitkräften wird im Durchschnitt weniger gearbeitet. Bei den Teilzeitkräften blieb die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit in etwa gleich, was darauf hindeutet, dass immer mehr Teilzeitarbeit im Zwischenraum zwischen Voll- und Halbtagsarbeit angesiedelt ist.
De facto hat man sich also schon auf den Weg in die 4-Tage-Woche gemacht. Allerdings nicht nach „Schema F“ einheitlich für alle, sondern in einer Vielzahl von Arbeitszeitarrangements, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbart wurden. Die Landschaft der Arbeitszeit ist insofern auch ein Spiegel einer sich zunehmend individualisierenden und diversifizierenden Gesellschaft mit einer Vielzahl von Lebenssituationen, Präferenzen und Lebensarrangements, die sich in einem Arbeitsleben zudem immer wieder verändern. Das standardisierte Normalarbeitsverhältnis war gestern. Heute ist die Zeitlandschaft vielfältiger geworden.
Die Älteren werden sich noch an den Kampf um die 35-Stunden-Woche Anfang der 1980er Jahre erinnern. Auch hier war die IG Metall die treibende Kraft. Die wirtschaftliche Situation war nur eine ganz andere als heute. Nicht „Arbeiterlosigkeit“, sondern eine verfestigte und immer weiter steigende Massenarbeitslosigkeit prägte das Bild. Arbeitszeitverkürzung sollte damals auch dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wenn die Arbeitszeit für alle verkürzt wird, so der Gedanke, müssen die Betriebe zum Ausgleich mehr Menschen einstellen. Damit kann Arbeit besser verteilt werden. Arbeitszeitverkürzung könnte so durchaus ein Akt von Solidarität innerhalb der Arbeitnehmerschaft sein. Die Gewerkschaft war in der Folge der Arbeitskämpfe um die 35-Stunden-Woche in diesem Sinne auch durchaus bereit, sich auf einen schrittweisen Prozess der Verkürzung der regulären Wochenarbeitszeit in der Metallbranche einzulassen, auch zu einem Verzicht auf vollen Lohnausgleich. Es gab zwar keine Lohnkürzungen bei geringerer Arbeitszeit, aber der prinzipiell vorhandene Erhöhungsspielraum wurde in den Lohnverhandlungen eine Zeit lang nicht voll ausgeschöpft, um den Unternehmen bei der Finanzierung der Arbeitsverkürzung entgegen zu kommen.
Die damals entstehenden Initiativen zum Vorruhestand hat ebenfalls ein solidarisches Grundmotiv. Man wollte Ältere früher in die Rente verabschieden, um in den Betrieben Platz für Jüngere zu machen. Denn auch die Jugendarbeitslosigkeit war in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in eine kritische Größenordnung angestiegen. Hier half oft auch der Staat, der Vorruhestandsregelungen aus der Rentenkasse mitfinanzierte, um Einkommensverluste der Frührentner zu vermeiden oder zumindest einzugrenzen. Arbeitsverkürzung als solidarisches Modell der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen. Das war damals durchaus eine gute Idee, für die sich viele eingesetzt haben.
Heute aber gibt es ein ganz anderes Umfeld. Der Wohlstand ist
nicht durch Arbeitslosigkeit bedroht, sondern durch
Arbeitskräfteknappheit. Wenn man auf die Zeitreihen der Demographie
schaut, wird klar, dass die jetzigen Probleme bei der Besetzung offener
Stellen wahrscheinlich nur ein harmloses Vorspiel zu den dramatischen
Engpässen sind, die uns in den nächsten Jahren ins Haus stehen, wenn die
Baby-Boomer in Rente gehen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB) hat
errechnet, dass das Erwerbspersonenpotential bis 2060 um ein Drittel
zurückgeht, wenn die Erwerbsbeteiligung und die Arbeitszeit so bleiben
wie heute. Nur wenn man die Erwerbsbeteiligung deutlich steigert und
Zuwanderung von Arbeitskräften stattfindet, lässt sich dieser
dramatische Einbruch vermeiden. Und nur, wenn konstant jedes Jahr
400.000 einigermaßen beschäftigungsfähige Menschen nach Deutschland
einwandern, lässt sich die Zahl der Erwerbspersonen konstant halten.
Wenn man sieht, dass Immigration schon jetzt zu einem zentralen
Streitpunkt in der Gesellschaft geworden ist, bekommt man eine Ahnung,
was der Gesellschaft hier noch an Belastungsproben ins Haus steht.
Einfach nur „Vielfalt“ und eine „bunte Republik“ zu proklamieren, wie
das viele Migrationsbefürworter tun, wird nicht ausreichen, um den
gesellschaftlichen Frieden zu erhalten. Es werden massive Investition in
die Integration der neu nach Deutschland kommenden Menschen und massive
Anpassungsleistungen der Bevölkerung notwendig werden, wenn man diese
große Wanderung konstruktiv gestalten will. Man sollte auch erkennen,
dass die bisherige Integrations-leistung der Gesellschaft nicht mit der
künftig zu leistenden zu vergleichen ist. Die Länder in Ost-, Südost-
und Südeuropa, aus denen bisher ein großer Teil der alles in allem sehr
erfolgreich integrierten Menschen kam, leiden unter noch größeren
demographischen Ungleichgewichten als Deutschland. Schon jetzt gehen die
Migrationsströme aus diesen Ländern zurück, teilweise fangen sie sogar
an, sich umzukehren. Mehr Menschen ziehen zurück in ihre
Herkunftsländer, weil es inzwischen auch dort viel Arbeit und steigende
Löhne gibt. Die künftige Zuwanderung muss aus entfernteren Teilen der
Welt organisiert werden, mit größerer kultureller Distanz zu Europa und
mit größeren Herausforderungen, was Qualifizierung und Bildung angeht.
In einer solchen Situation wäre es geradezu verrückt, das Arbeitsangebot
hier durch unbedachte und nur aus partikularen Interessenlagen
einzelner Branchen begründeten Aktionen weiter zu reduzieren. Zumindest
nicht gut durchdacht wäre es auch in der kurzfristigen wirtschaftlichen
Betrachtung. Wie jeder selbst nachrechnen kann, erhöhen sich die
Arbeitskosten beim Übergang von 5 auf 4 Arbeitstage bei gleichmäßiger
Verteilung der Wochenarbeitszeit auf diese Tage um 25 Prozent, wenn es
einen vollen Lohnausgleich gibt. Das passt nicht so recht zu einer
Situation, in der sich Schlüsselbranchen wie die Automobilindustrie
einem verschärften internationalen Wettbewerb ausgesetzt finden, in dem
die Kosten eine größere Rolle spielen werden, wenn technologische
Vorsprünge gegenüber den Wettbewerbern aus Asien, Türkei und bald
vielleicht auch Afrika kleiner werden oder sogar ganz verschwinden.
Um den Wohlstand zu erhalten, braucht Deutschland vielmehr eine
ganzheitliche Strategie, die an verschiedenen Punkten gleichzeitig
ansetzt:
• Das Erwerbspotential muss stärker ausgeschöpft werden – mehr
Frauen in Arbeit, mehr Vollzeitarbeit, längere Lebensarbeitszeit,
flexiblere Arrangements, die auch Arbeit jenseits des Rentenalters
erlauben, mehr Anreize für Menschen ohne Arbeit, schnell und nachhaltig
Arbeit aufzunehmen, anders als die jüngste „Bürgergeld“-Reform, die das
„Fördern und Fordern“ eher abgeschwächt hat.
• Das Bildungssystem muss endlich mehr Qualität liefern. Wir können uns
eine hohe Rate von Schulabgängern ohne Abschluss, Defizite beim Rechnen
und Schreiben bei vielen jungen Menschen mit Abschluss und Fehlsteuerung
der Bildungs- und Berufswege durch chaotische Übergänge von der Schule
in den Beruf nicht mehr leisten. Hier sind nicht nur massive
Investitionen in Schulen, ganztägige Betreuung und Maßnahmen zum
Ausgleich von Bildungsbenachteiligung notwendig, sondern auch mutige
Reformen, die dafür sorgen, dass die Qualität des Unterrichts und die
berufliche und persönliche Haltung des Lehrpersonals verbessert werden.
• Zuwanderung ist notwendig, muss aber klug gesteuert werden. Nicht
Multikulti und ein fundamentalistischer Pseudohumanismus können dabei
Orientierung geben, sondern ein klarer Fokus auf die Bedarfe des
deutschen Arbeitsmarktes und eine realistische Integrationspolitik, die
Willkommenskultur mit klaren Erwartungen sowohl an die
Integrationsbereitschaft der neu Ankommenden wie an die
Aufnahmebereitschaft, Toleranz und Lernbereitschaft der vorhandenen
Bevölkerung verbindet. Die Bevölkerung wird dann bereit sein, mehr
Zuwanderung zu akzeptieren, wenn die Politik klare Signale in Richtung
Integration und Anpassung an die Leitwerte der demokratischen Kultur und
einer sozialen Leistungsgesellschaft sendet und glaubwürdig daran geht,
illegale Migration einzudämmen.
Jeder dieser Punkte steht für eine Herkulesaufgabe der Politik.
Viele sind an diesen Aufgaben schon gescheitert. Dennoch müssen immer
wieder neue Anläufe unternommen werden, um hier voranzukommen.
Die von vielen gepflegte Horrorvision eines massenhaften
Arbeitsplatzverlustes durch Digitalisierung, künstliche Intelligenz und
technische Innovation verwandelt sich in diesem Szenario in einen
Hoffnungswert, der (vielleicht) dazu beitragen kann, die negativen
Wirkungen der „Arbeiterlosigkeit“ ein wenig zu mildern, das heißt mit
weniger Arbeit zumindest gleich viel Werte zu schaffen. Auch hier haben
die Älteren den Vorteil, sich daran erinnern zu können, dass auch in den
1980er Jahren der Einsatz der ersten Roboter in der Produktion und des
Computers im Büro massive Ängste vor gigantischen Arbeitsplatzverlusten
ausgelöst haben. Nichts von dem ist eingetroffen. Neue Arbeitsplätze
entstanden schneller als alte „wegrationalisiert“ wurden. Die
Arbeitsplatzbilanz der Computerisierung auf gesamtwirtschaftlicher Ebene
war positiv. Nichts spricht dafür, dass es bei der Digitalisierung
anders sein wird.
Wozu dann die Gewerkschaftsforderung?
Es gibt vielleicht ein Szenario, wo eine kollektive Arbeitszeitverkürzung Sinn machen könnte. Das ist eine ökologische Transformation der Wirtschaft in Richtung Null- oder Negativwachstum („De-Growth“). Es ist nicht zu bestreiten, dass es einen Konflikt zwischen Wachstum und Verhinderung des ökologischen Kollapses durch Klimaerwärmung und Übernutzung der natürlichen Umwelt durch die technische Zivilisation gibt. Die Argumente für Wachstumsverzicht scheinen mindestens ebenso einleuchtend, wie die Argumente für die Möglichkeit der Bewältigung der Klimakrise durch „grünes Wachstum“, wenn nicht sogar ein wenig plausibler. Eine Wirtschaft in einem gesteuerten Rückwärtsgang wird Lösungen für die dann entstehenden schweren Verteilungskonflikte finden müssen. Hier könnte Arbeitszeitverkürzung eine wichtige Rolle spielen, wenn es gelingt, „Zeitwohlstand“ als glaubhaftes Substitut für materiellen Wohlstand zu gestalten. Aber das geht natürlich nur, wenn auch jeder Einzelnen einen gewissen Rückwärtsgang bei seinem Konsum und seinen finanziellen Möglichkeiten akzeptiert. Die Transformation von materiellem Wohlstand in zumindest teilweise dematerialisierte Lebensqualität mit Zeitwohlstand und alternativen Sinnhorizonten ist bisher noch fast nirgends in größerem Ausmaß gelungen. Die drängenden ökologischen Probleme scheinen aber auch hier immer wieder neue Anläufe notwendig zu machen. Auch dies sicher Herkulesaufgaben für die Politik. Aber – wie heißt es so schön? Einfach kann jeder.
Geht´s noch mit der 4-Tage-Woche?