Wo Unterschiede bestehen, ist der Kampf um Gleichheit endlos. Denn was ist denn mit „Gleichheit“ gemeint über die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichstellung hinaus? Und welche Art der Gleichheit erzeugt eine neue Ungleichheit? Im Frankfurter Kaisersaal ist bis zum 26. Juni eine Ausstellung mit dem Titel „Revolutionär:innen: Frauen, die Demokratiegeschichte schrieben“ zu sehen. Kuratiert hat sie die Referentin für Mädchen*politik und Kultur im Frauenreferat der Stadt Frankfurt, Linda Kagerbauer. In ihrer Einführung ging es um die Inhalte.
Liebe Anwesende,
auch ich freue mich, Sie/euch nach meinen Vorredner:innen im Frankfurter
Kaisersaal zur Ausstellung „Revolutionär:innen: Frauen, die
Demokratiegeschichte schrieben“ begrüßen zu dürfen. Unsere Eröffnung
sollte nämlich ebenso vielstimmig sein, wie es der Wunsch der darin
porträtierten Frauen gewesen wäre.
Die Porträtierten waren schwarze, jüdische, arme, geschiedene Frauen. Lesbische Frauen, Frauen, die für das Recht auf Selbstbestimmung kämpften. Ob sie sich alle als Frauen und mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizierten, wissen wir nicht. Daher sprechen wir von Revolutionär:innen. Mit dem Doppelpunkt lassen wir bewusst Platz für die geschlechtliche Vielfalt. Ich denke, ganz im Sinne unserer Freund:innen hier.
Vielstimmigkeit verstehen wir als ein Moment der Intervention und Repräsentation. Denn wie Gaby Wenner vor mir bereits sagte, die Fragen: „Wer spricht, wer nicht? Wessen Geschichten werden erzählt und erinnert? Wessen Geschichten nicht?“ beschäftigen uns bis heute.
Wir möchten im Rahmen der aktuellen Debatten um Demokratie einen Beitrag zu einer feministischen Erinnerungsarbeit leisten. Wir wollen Kontinuitäten, Brüche und Widersprüche in der Demokratiegeschichte aufzeigen und die Kämpfe, die gegen das Patriarchat und den Kolonialismus, gegen Ungleichheit und Unterdrückung geführt wurden und werden, sichtbar machen. Wir wollen mit dieser Ausstellung intervenieren und dafür sorgen, dass Emanzipationsgeschichten erzählt und erinnert werden. Dabei spüren wir Elemente von Kollektivität, Solidarität und Widerstand auf und legen dar, dass Gewaltverhältnisse, damals wie heute, ineinander verschränkt sind, ebenso wie die Proteste dagegen.
Es wird deutlich, dass diese Frauen nicht nur beeindruckende Individuen waren, sondern auch Formen der Ungleichbehandlung, Forderungen und Protestformen miteinander teilten. Ebenso deutlich tritt hervor, wo sich ihre Gleichheitsvorstellungen voneinander unterschieden. Demokratiebewegungen formierten sich, wie etwa in Deutschland, zeitlich parallel zur Kolonialgeschichte. So stellte Sojourner Truth – eine der hier Porträtierten – bereits 1851 die Frage: „Ain’t I a woman?“ und kritisierte, dass im Kampf für Freiheit und Gleichheit nicht alle Frauen gleichermaßen mitgedacht wurden, beispielsweise wenn Forderungen von einer weißen Frauenbewegung nur für eine bestimmte Gruppe erhoben wurden. Eine Analyse, welche die Schwarze Frauenbewegung und Kimberlé Crenshaw später mit dem Konzept der Intersektionalität/Verschränkung von Diskriminierungsverhältnissen weiterführen sollten.
Sojourner Truth erinnert bis heute daran, dass Feminismus immer intersektional gedacht werden muss: Er muss die verschiedenen Ausgangslagen von Diskriminierungsverhältnissen in ihren Verschränkungen berücksichtigen und dabei strukturelle Ungleichheitsverhältnisse und Ausschlüsse thematisieren, auch innerhalb feministischer Bewegungen. Denn daraus speisen sich Wut und Widerständigkeit.
Die gezeigten Protagonist:innen vermitteln aber auch die
Botschaft, dass es selbst in schwierigsten gesellschaftlichen
Verhältnissen möglich ist, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für
Teilhabe und Mitbestimmung einzutreten. Vor diesem Hintergrund
interveniert diese Ausstellung gegen das Vergessen und Unsichtbarmachen
feministischer Bewegungen. Sie ist ein Plädoyer für die Neugierde und
eine Aufforderung an alle Frankfurter:innen, die Geschichten dieser
revolutionären Frauen zu erzählen.
Denn: Feminismus, soziale Bewegungen und gesellschaftliche Veränderungen
sind immer nur kollektiv denkbar. Dazu benötigen wir einen neuen
Politikbegriff, der die unterschiedlichsten Formen politischer
Einmischung umfasst: ob auf der Tribüne, am Küchentisch, im
Klassenzimmer, im Parlament, in Redaktionen, im Kulturbetrieb oder auf
der Straße, vor, hinter oder auf den Barrika-den. Es bedarf der
Anerkennung alltäglicher und vielfältiger Beteiligungsformen, um die
verschiedenen Perspektiven und Positionen von Frauen* und Mädchen*
sichtbar zu machen. Dazu gehört auch die Anerkennung von Fürsorge-
beziehungsweise Care Arbeit als ein wichtiger Teil gesellschaftlicher
Arbeit.
An viele Themen der Revolutionär:innen knüpfen aktuelle feministische Bewegungen an. Global und lokal sind es derzeit vor allem Feminist:innen, die sich weltweit mobilisieren und das Recht auf Solidarität und Selbstbestimmung einfordern.
Wir zeigen, wie wichtig es ist, diese Themen und Protestanlässe in ihrer Kontinuität zu verstehen. Es wird klar, dass es vor allem für Mädchen* und junge Frauen* von großer Bedeutung ist, Vorbilder zu haben, sich mit ihren Erfahrungen nicht allein gelassen zu fühlen und zu wissen, dass es schon immer mutige, widerständige und revolutionäre Frauen gegeben hat.
„Die revolutionären Frauen dieser Zeit waren weder friedfertig noch machtlos. Von ihren Biografien und Taten zu wissen, ermöglicht, ermutigende und emanzipatorische Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart zu schärfen.“ (Dr. Dorothee Linnemann)Auch wenn die Auswahl der 48 Revolutionär:innen unvollständig und unabgeschlossen bleibt, verstehen wir diese Intervention als einen weiteren Schritt hin zu einer diversen Erinnerungsarbeit. Gerade marginalisierte Geschichte muss erinnert, archiviert und sichtbar werden. Nur so können wir den vielen gleichzeitigen Bewegungsgeschichten gerecht werden. Die Revolutionär:innen bereiten uns hierzu den Weg.
Sie sind eingeladen, die Geschichten dieser Frauen* kennenzulernen. Schlendern Sie durch die Ausstellung oder schlagen Sie im Katalog nach. Durchstöbern Sie die Website oder nehmen Sie teil an den Veranstaltungen und spannenden Dialog-Führungen. Lassen Sie uns zusammen diskutieren, was die Revolutionär:innen mit heutigen Demokratieverständnissen gemeinsam haben und was wir von ihnen lernen können.
Ich freue mich sehr, dass wir dazu ein großes Netz von
Kooperationen und Kollaborationen knüpfen konnten. Denn nur in dieser
Vielstimmigkeit sind wir stark.
Wir haben eigens hierfür das Konzept der Dialog-Führungen entwickelt.
Treffen Sie beispielsweise am 22. Juni 2023 ab 17 Uhr auf die
Tony-Sender-Preisträgerin Eleonore Wiedenroth-Coulibaly und Vicky
Lessing (Demokratietrainerin der Bildungsstätte Anne Frank) im Gespräch
mit der Moderatorin Aisha Camara. Gemeinsam stoßen sie vor “In
die Lücken der Demokratie(geschichte)” mit ihrer
“Diskriminierungskritischen Dialogführung durch die
Ausstellung ‚Revolutionär:innen‘”.
Das Theaterstück “1848 – Stimmen Frankfurter
Frauenzimmer” ist ein performatives Text-Projekt zur Position
namhafter Frankfurter Frauen (18./19. Mai 2023, 19–20 Uhr/20. Mai 2023,
18–19 Uhr).
Am 22. Juni 2023 zwischen 13 und 15 Uhr gehen Birgit
Bublies-Godau und Kommunikationstrainerin Eva Heymann der Frage:
“Neue und alte Revolutionär:innen: Wo bleibt die Wut der
Frauen?” nach.
Am 19. Juni 2023 von 17 bis 19.30 Uhr sprechen Jamila Adamou und
Angelina Schaefer über folgende Themen: Welche Geschichten werden heute
erinnert und welche nicht? Wie gestalteten Frankfurter:innen ihre Stadt
früher, wie tun sie es heute? Wo und wie findet Politik eigentlich
statt?
Tragen Sie zur kollektiven Zukunftsgalerie bei, die unter dem
Motto “Von Erinnerungen, Gegenwarten und Utopien”
entstehen soll. Denn vielleicht geht es ja auch darum, aus den
vielstimmigen Erfahrungen, die im Rahmen dieser Ausstellung zum Ausdruck
kommen, gemeinsam Utopien von einer „inklusiveren und gerechteren
Demokratie“ zu entwerfen – wie es in der Führung der Bildungsstätte Anne
Frank heißt. Oder, um Harriet Tubman zu zitieren: Jeder große Traum
beginnt mit einem Träumer. Vielleicht geht es um Träume oder Utopien und
das Recht darauf, gemeinsam in einer gerechteren, friedlicheren und
feministischeren Welt zu leben. Damals wie heute. Denn so können wir
gemeinsam dafür Sorge tragen, dass sich Geschichte und Geschichten in
ihrer Widerständigkeit und Vielfältigkeit offenbaren.
Die Ausstellung ist noch bis 26. Juni täglich von 10 bis
17 Uhr im Kaisersaal im Römer, Römerberg 19–17, 60311 Frankfurt am Main,
geöffnet.
Für die Führungen ist eine Anmeldung erforderlich.
Mehr Informationen finden Sie auf der
Homepage
Siehe auch:
Impulsvortrag von Nana Djamila
Adamou
Linda Kagerbauer spricht über ihre Ausstellung „Revolutionär:innen“ im Kaisersaal