Das radikale Böse, das Israel am vergangenen Samstag angegriffen hat, kann nicht in ein System von Machtverhältnissen und Bilanzierungen der einen oder anderen Art eingeordnet werden. Die Analyse der Linken über die Ursprünge des israelisch-palästinensischen Konflikts gilt es von den blutgierigen Lösungskonzepten radikaler Islamisten und ihrer Anhänger strikt zu trennen. Weshalb, so der Psychoanalytiker und Psychiater Eran Rolnik, progressiv Gesinnte jedwede Entschuldigung für die Gräueltaten der Hamas zurückweisen müssen.
Ich habe gestern die
Rede von Präsident Biden gehört und mir gedacht: Hier spricht ein echter
radikaler Politiker, ein Mann des 20. Jahrhunderts, der es instinktiv
versteht, zwischen dem legitimen politischen Kampf des palästinensischen
Volkes und dem barbarischen Angriff auf die Menschheit zu
unterscheiden.
Warum aber beharrt die europäische Linke darauf, dass Solidarität mit
Palästina gefühllose Gleichgültigkeit gegenüber dem Massenmord an Juden
erfordere?
Ein marxistischer Professor an der Birkbeck University of London
erklärte, dass die Ermordung von 260 Israelis bei einem Rave eine
„Konsequenz“ dessen sei, „Partys auf gestohlenem Land“ zu feiern. Andere
Akademiker und eine Vielzahl von Studentenorganisationen gaben
Stellungnahmen ab, in denen sie sich ausdrücklich weigerten, den
„palästinensischen Widerstand“ zu kritisieren.
Sowohl das Denken der Linken als auch die Psychoanalyse haben ein entscheidendes Element in die Welt gebracht: die Fähigkeit, kritisch über Machtverhältnisse und die zwischen ihnen sich entfaltende Dynamik nachzudenken, sowie das Verständnis, dass unter der Oberfläche des Schweigens oftmals ausbeuterische Strukturen herrschen – verborgene Machtverhältnisse also im Gegensatz zu offener Ausbeutung und unverhülltem Missbrauch.
Diese Denkweise hat in vielen Bereichen wichtige intellektuelle
Früchte getragen, sei es ethisch, politisch, wissenschaftlich oder
psychologisch. Dank der Arbeiten von Freud, Ferenczi, Klein und ihren
Anhängern wurden Psychotherapeuten auf Phänomene wie „Identifikation mit
dem Angreifer“ oder „Wiederholungszwang“ aufmerksam. Dieses
sozialpsychologisch-kritische Element birgt wegen seines immanenten
Anspruchs, alles im Kontext von Machtverhältnissen (der sachlich wahr,
aber dennoch kontra-historisch sein kann) zu interpretieren, ohne dass
es zusätzlicher Hypothesen bedarf, die Gefahr eines blinden Radikalismus
in sich.
Es gibt eine Leugnung der Faktizität von Ereignissen und Situationen als
solchen, ihrer ureigensten Beschaffenheit. So werden politische
Gewalttaten – zum Beispiel die Anschläge auf das World Trade Center, die
russische Invasion in der Ukraine oder die Ermordung von 1000 Israelis
durch Hamas-Milizen am vergangenen Samstag – lediglich als Teil eines
größeren Gefüges betrachtet und diskutiert, als ob sie selbst nichts
aussagen oder bedeuten würden, als handele es sich bei ihnen um die
Fortsetzung einer anderen Gräueltat, die bisher entweder nicht anerkannt
oder nicht genügend wahrgenommen wurde.
Wenn ein Patient sagt: „Ich habe meine Kinder geschlagen, weil mein betrunkener Vater mich und meine Schwester ständig geschlagen hat“ – ist das dann eine Erkenntnis? Oder umgeht er damit eine wahre Einsicht, die die Verantwortung für seine Aggression mit sich brächte? Der Patient verfügt offensichtlich über ein gewisses psychologisches Verständnis für seine Unfähigkeit, seine Wut zu kontrollieren. Doch er hat es in eine Ausrede verwandelt, er hat die psychologische Wahrheit in einen Legitimationsanspruch pervertiert.
In der Politik entspricht dem die Reduktion jeder Situation auf
das System der Machtverhältnisse. Im Namen des moralischen und
politischen Versuchs, auf breiter Front (sogar historische)
Gerechtigkeit walten zu lassen, leugnet sie die phänomenale Faktizität
schrecklicher Geschehnisse. Dieser Ansatz ist nicht nur
antitherapeutisch, sondern hat oft geopolitische und strategische
Blindheit zur Folge. Das radikale Böse, das Israel am vergangenen
Samstag angegriffen hat, kann nicht in ein System von Machtverhältnissen
und Bilanzierungen der einen oder anderen Art eingeordnet werden. Einen
Terroristen, der Frauen vergewaltigt und Babys enthauptet, mit einem
„misshandelten Kind“ zu vergleichen, läuft darauf hinaus, das Übel aus
der Gleichung zu tilgen, und kommt der Weigerung gleich, auf das
Barbarische hinzuweisen, es zu identifizieren, zu erleben und zu spüren,
also dem bequemen Weg der Rationalisierung.
Die mangelnde Fähigkeit, angesichts des Bösen und Barbarischen
schockiert zu sein, vor Schmerz aufzuschreien und aggressiv gegen seine
Ausbreitung anzukämpfen, ist eine echte moralische
Behinderung.
Die Todestriebpolitik der radikalen Islamisten, wie sie die Welt seit Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt, scheint in diesen Tagen alles andere als eine verständliche „natürliche menschliche Reaktion“ auf mangelnde Liebe, Freiheit, fehlenden Respekt oder verletzte Menschenwürde zu sein. Sie ist das genaue Gegenteil davon. Sie ist ein Versuch, das menschliche Bedürfnis nach Liebe, Gerechtigkeit und Respekt zu negieren.
Die soeben beschriebene moralische Behinderung trifft auf ihr genaues Pendant auf der Seite der radikalen Rechten, die Situationen in ihrem Sosein und die in ihnen gegebene moralische Macht umgekehrt im Namen strategischer, nationaler und anderer Ideologien leugnet. Moralischer Sensibilität hingegen liegt die Fähigkeit zugrunde, außerhalb der geschlossenen Blase des ideologischen Resonanzbodens wahrzunehmen und dem reinen Übel, sei es politischer oder psychologischer Natur, nackt entgegenzutreten, ohne es entweder aufgrund seiner Rolle in einem System von Machtverhältnissen oder aufgrund in der Vergangenheit erlittener Traumata zu relativieren, welche Opfer zu Tätern werden lassen, eine Sichtweise, die beide auf der gleichen moralischen Ebene verortet. Bald werden die Radikalen sowohl des linken als auch des rechten Lagers einen Tango tanzen. Auf der humanistischen Seite ist indes ein Schritt gefordert, den wir nicht immer gerne tun: „nein, nicht mehr“ zu sagen und mit ganzem Herzen und in ganzheitlicher Weise zu handeln. Es ist die Fähigkeit, zu erkennen, was keinen Eingang in die Gleichung der politischen Taktik findet: der „Krieg gegen das Böse“. Die Menschheit führt ihn, um sich selbst zu schützen. Dies ist der Krieg um das Überleben der Moral. Dieses Moment der Unschuld ist das einzige, das uns noch menschlich macht. Wer das Böse und Grausame überstürzt in eine psychologische oder strategisch-politische Perspektive rückt, wer sich beeilt, das Unergründliche loszuwerden, indem er es in relationale und kritische Kontexte stellt, hat seine Menschlichkeit im Wirrwarr von Ideologie und scheinheiligem Psychologismus verloren.
Daher ist es für progressiv Gesinnte unerlässlich, jedwede Entschuldigung für die Gräueltaten der Hamas zurückzuweisen, und die breitere Öffentlichkeit muss verstehen, dass die Analyse der Linken über die Ursprünge des israelisch-palästinensischen Konflikts und ihre Rezepte für seine Lösung von der Blutgier einer lautstarken Minderheit radikaler Islamisten und ihrer Sympathisanten im Westen strikt zu trennen sind.