Anfang 2019 begab sich Kerstin Lücker zu Isis und Osiris an den Nil, den Quell der Fruchtbarkeit und das Medium des Übergangs. Ihr Bericht, der die etwas unheimlich-mythische Vorgeschichte in der Gegenwart des heutigen Ägyptens aufsucht, lässt darüber nachdenken, wie viel Veränderung, wieviel Differenz erforderlich ist, um Geschichte zu erzeugen.
Eine goldene Barke. Auf ihren Enden thronen zwei hellblaue Widderköpfe, deren Hals in eine königliche Halskrause mündet. Beide Widder schauen nach links, auf ihren fast waagrecht stehenden Hörnern tragen sie eine goldene Sonnenscheibe. Hinter der Barke ragen Wedel mit rot-blau gestreiften Fächern auf. Staunend stehen wir Reisende vor einem altägyptischen Relief, dessen Wirkung ich nicht beschreiben kann.
Wir haben schon einige Tempel und Gräber besichtigt und dabei erlebt, wie sich die Zeit, wenn wir sie loslassen, auf merkwürdige Weise zusammenzieht. Als müssten wir in einem Labyrinth von Zeichen erst durch eine Tür treten, den Anfang eines Fadens finden, von dem aus wir Einzelheiten unterscheiden, sie wieder erkennen und in größeren Zusammenhängen sehen. Sind wir durch diese Tür hindurch, haben wir nach vier Stunden das Gefühl, wir seien gerade erst im Tempel angekommen. Auf einmal weichen die typisch ägyptischen Schrift- und Bildzeichen, die man zu kennen glaubt, einer großen Vielfalt von Formen, Stilen und Details; wirken die Darstellungen von Göttern, Pharaonen, Priestern oder Sklaven dynamisch: der weiß-durchsichtige Gazestoff einer Tunika, unter der sich der Körper ihres Trägers abzeichnet, der exakt dargestellte Faltenwurf eines Rockes oder die Zeichnung feingliedriger Hände und Finger.
Wir sind Touristen und machen uns auf alles, was wir sehen,
unseren Touristenreim.
Am Boden der Wände sind Leuchten befestigt. Sie strahlen die Reliefs von
unten an, doch etwa jede dritte ist kaputt, so dass viele Darstellungen
halb oder ganz im Dunkeln liegen. Geht unser Blick nach oben, fällt er
auf rußgeschwärzte Decken, Zeugnisse einer Zeit, in der Menschen im
Tempel hausten und Feuer machten. Ich versuche, unsere Tagesreise von
Luxor nach Abydos rückwärts nachzuvollziehen, passiere den Eingang
erneut, an dem uns beim Eintreten ein verdreckter, überfüllter Mülleimer
entgegenstarrt. Die Fenster des Besucherzentrums sind
milchig-verschmiert. In den Toiletten steht der Boden unter Wasser.
Stier mit Prinzenlocke
Das Barkenrelief mit den Widderköpfen befindet sich in einem
kleinen Raum, dem „Heiligtum“ eines Tempels in Abydos, den der Pharao
Sethos I. in seiner Regierungszeit knapp 1.300 Jahre v. Chr. bauen und
den sein Sohn Ramses II. vollenden ließ. Nach drei unruhigen
Jahrzehnten, die von Echnatons gewaltsamem Bruch mit der ägyptischen
Götterwelt geprägt waren, sollte es erst der neuen Dynastie der
Ramessiden gelingen, die alte Ordnung wiederherzustellen. Sethos I. war
der zweite in ihrer Reihe, der Sohn von Ramses dem I. Er legte ein Bau-
und Bildprogramm auf, mit dem er zum Ausdruck brachte, dass er die
Brüche vergessen machen und die Tradition fortsetzen wollte, nicht
zuletzt, um so seine Macht zu
legitimieren.1
In einem nach Süden führenden Seitenkorridor des Tempels, der
sogenannten Königsgalerie, befindet sich ein Relief, auf dem Sethos’ Sohn
Ramses II. beim Lesen einer Papyrusrolle zu sehen ist. Es handelt sich
um eine der wenigen vollständig erhaltenen Listen mit den Namen von 76
Pharaonen, die bis zurück zum ersten König Narmer reichen; Sethos knüpft
mit diesem Relief an eine etwa 1.700 Jahre alte Tradition an und
erklärt die Ramessiden zu den rechtmäßigen Nachfolgern einer Reihe von
Königen, die sich zum damaligen Zeitpunkt schon bis auf das Jahr 3000 v.
Chr. zurückverfolgen ließ.2 Allerdings war ihre
Auswahl selektiv, es fehlten die Herrscher, die der damnatio memoriae
anheimgefallen waren, wie etwa der weibliche „König“ Hatschepsut oder
der Häretiker Echnaton.3
In einem weiteren, vom ersten abzweigenden Korridor stoßen wir auf ein
Relief, das uns auch deshalb besonders anzieht, weil es vom sonst eher
formelhaften Bildprogramm abweicht. Es zeigt einen riesigen Stier in
fliehender Bewegung, den Ramses, anhand der „Prinzenlocke“ als Sohn des
Pharao zu erkennen, mit einem Lasso einfängt. Hinter ihm sein Vater, der
ihm zu Hilfe geeilt ist.
Die Anlage um Tempel und Gräber in Abydos wurde erst in den vergangenen Jahren gepflastert, mit einem neuen Besucherzentrum versehen und durch einen meterhohen Zaun eingefasst. Vom Besucherzentrum aus durchschreitet man zwei Vorhöfe, die originalgetreu rekonstruiert wurden. Großzügige, in hellem Stein gehaltene Treppenaufgänge führen zum Tempel, ihre Stufen sind von Rampen durchbrochen. Auf der anderen Seite mündet die Anlage in einen gegen sein Ende schmal zulaufenden Parkplatz. Der ganze Komplex mit den beiden Vorhöfen wirkt monumental, die Stufenrampen verwandeln den Aufstieg zum höher gelegenen Tempel in eine erhabene Passage; schnell vergisst man die Armut der bettelnden Händler, die einem noch vor wenigen Minuten vor dem Besucherzentrum aufgelauert haben. Die hiesige Regierung tut einiges, um die Besucherströme, die in das Alte Ägypten reisen, zu kanalisieren und gegen die Zumutungen des gegenwärtigen Ägypten abzuschirmen.
Die Chaosschlange wird harpuniert
Die Widder auf dem eingangs beschriebenen Barkenrelief
verkörpern Amun-Re, den Schöpfergott. In der dazugehörigen
Schöpfungsgeschichte heißt es, die Welt habe sich vor dem Beginn der
Zeit im Zustand des „Nun“ befunden, einem riesigen dunklen Wasser, in
dem nichts zu unterscheiden war.
Aus dem Nun schafft Amun-Re die Welt, indem er das Unterscheidbare vom
Ununterscheidbaren trennt; die Dinge aus dem Nichtsein erschafft und
ihnen eine Form gibt. Andere Götter kommen hinzu, zunächst sind es acht,
die am weiteren Schöpfungsgeschehen beteiligt sind. So entsteht die
Ordnung der Welt und mit ihr, was wir als „ägyptische Mythologie“
kennen, ein System, das komplex und kompliziert ist. Es gibt kaum ein
Phänomen, das die alten Ägypter nicht in die Gestalt eines Gottes und
seine Geschichten übersetzten.
Die Ordnung ist ständig vom Chaos bedroht. Die Chaosschlange Apophis bringt Unordnung und Finsternis. Eine Abbildung in einem altägyptischen Totenbuch zeigt den Gott Seth, wie er, am Bug der Barke des Re stehend, die „Chaosschlange harpuniert“, die den Sonnengott während seiner Reise durch die Unterwelt vom Wasser aus angreift.4 Es steht nicht weniger auf dem Spiel als der Fortgang der Welt: Die Sonne – in Gestalt des Re – muss ihre nächtliche Reise durch die Unterwelt überstehn, um am nächsten Morgen wieder über der Erde aufzugehen.
Drüber ruft der Muezzin
In Assuan ist das Flusswasser stellenweise so klar und sauber,
dass die Menschen es heute noch trinken (das erzählt uns Sajad, ein
Feluken-Kapitän, mit dem wir uns häufiger unterhalten). Wir sehen
biblische Szenen. In lange Leinengewänder gekleidete Menschen, die ihre
Ernte auf Eseln nach Hause transportieren, einen Bauern, der seine Kühe
schon seit Jahrtausenden an derselben Wasserstelle des Nil tränkt. Eine
kleine Drehbewegung mit dem Kopf zerstreut die Illusion. Der Blick fällt
auf Bau- und Industrieruinen des zwanzigsten Jahrhunderts, ein
verfallenes Hotel oder völlig verrostete, riesige Stahlrohre, durch die
Wasser aus dem Fluss in ein höher gelegenes Becken gepumpt wird.
Wir fahren mit dem Fahrrad an sorgfältig bestellten Bananenplantagen
vorbei, durch Reis- und Zuckerrohrfelder, die durch künstlich gezogene
Seitenkanäle des Nil bewässert werden. In den Dörfern laufen uns Kinder
mit aufgehaltener Hand entgegen, sie rufen „Welcome!“ und „Bakschisch!“
Die Fahrer von Motorrädern und dreirädrigen Tuktuks grüßen hupend, ohne
dabei die Geschwindigkeit zu reduzieren. Überall wachsen neue Häuser aus
dem Boden, Stockwerke ragen ohne Dach in den Himmel, weil irgendeine
Steuer oder Versicherung erst fällig wird, wenn der Bau abgeschlossen
ist. An der Ecke, an der wir auf einen Feldweg aus dem Dorf hinaus
abbiegen, befindet sich eine Autowerkstatt. Aus dem Stockwerk drüber
ruft der Muezzin.
Das am Nil flussaufwärts von Luxor (Theben) gelegene Abydos gilt als eine der ältesten Kultstätten des Gottes Osiris.5 Noch heute kann man hinter dem Tempel das Osireion besichtigen, Reste eines Bauwerkes, das wesentlich tiefer liegt als der Sethostempel. Wegen des gestiegenen Grundwasserspiegels kann der Bau aus riesigen Steinquadern nicht mehr ganz frei gelegt werden. Seine Entstehungsgeschichte ist nicht klar. John Anthony West, der einige streitbare Beiträge zur Ägyptologie geliefert hat, hält das Osireion für sehr alt und datiert es in die Zeit des Alten Reiches (ca. 2700–2200 v. Chr.).6 Die mehrheitliche Meinung in der Forschung ist aber wohl, dass es ebenfalls von Sethos erbaut wurde, auch wenn es im Baustil von allen anderen Tempeln des Neuen Reiches stark abweicht, so dass West durchaus plausible Argumente für seine wesentlich ältere Datierung findet.
Wie das Osireion ist auch ein großer Teil des Bildprogramms in Sethos’ Tempel dem Mythos von Isis und Osiris gewidmet. Unter anderem findet sich hier eine seltene Darstellung der Szene, in der Isis, als Milan über dem toten Osiris schwebend, den gemeinsamen Sohn Horus empfängt. Osiris, ein geliebter und geschätzter König, regierte mit glücklicher Hand und brachte den Ägyptern Wohlstand. Doch sein Bruder Seth neidete ihm den Thron, lockte ihn in eine Falle und ließ ihn umbringen; manche Quellen sagen, auch deshalb, weil Seths Frau Nephthys in Osiris verliebt war, vielleicht sogar ein Verhältnis mit ihm hatte.7
Der Osirismythos: Jagd auf Leichenteile
Die Geschichte wird von den beiden antiken Schriftstellern Diodor und Plutarch in blutigen Details geschildert. Dabei kommt die Handlung erst nach dem Mord an Osiris so richtig in Fahrt. Seth lässt die Leiche des Getöteten im Nil in Richtung Norden treiben, um sie in den Tiefen des Mittelmeers für immer zu entsorgen. Doch Isis findet den Geliebten rechtzeitig und rettet ihn. Daraufhin reißt Seth Osiris’ Leiche in Stücke und verstreut die Teile über ganz Ägypten. Die Art der Zerstückelung und die Zahl der Leichenteile wird in den Quellen unterschiedlich angegeben; alle Varianten laufen aber darauf hinaus, dass Seth danach trachtet, auch die nachirdische Existenz des Osiris vollständig auszulöschen.
Für Isis beginnt ein Wettlauf gegen Seths Häscher. In ihrer
Gestalt als Milan jagt sie durch das Land, um die Leichenteile ihres
Mannes einzusammeln und sie wieder zusammenzusetzen. Sie findet alle, bis
auf den Phallus, den Fische im Nil gefressen haben. Für den Phallus
formt sie einen Ersatz, und dann baut sie den verstorbenen König nicht
etwa aus den übrigen Leichenteilen wieder zusammen, sondern ergänzt
jeden Körperteil mit wohlriechenden Substanzen und Wachs zu je einer
vollständigen Osiris-Kopie. Das ist praktisch, denn nun kann sie ihren
Mann an mehreren Orten begraben und ihn jeweils von den lokalen
Priestern verehren lassen, während der Mythos zugleich eine Erklärung
liefert, warum so viele Orte in Ägypten das Grab des Osiris für sich
reklamieren.
Es gelingt Isis, den geliebten Osiris zumindest für das jenseitige
Dasein zu retten, wo er eine neue Aufgabe erhält. Er wird zum König der
Unterwelt, in der ägyptischen Mythologie „Duat“ genannt, und zum
Herrscher über die seligen Toten. Erst jetzt zeugt er mit Isis Horus,
den bekanntesten Sohn der beiden, der später selbst Pharao und dann zur
göttlichen Inkarnation aller Pharaonen wird. Für sie ist es von nun an
„die erste und älteste Pflicht des Königtums: die Kräfte des Chaos in
allen Formen nieder[zu]ringen, um die Ordnung
aufrechtzuerhalten.“8
Ordnung und Chaos
Die Tempel- und Gräberanlage von Abydos sind von den Häusern
des Orts durch einen Zaun getrennt. Wir sind mit dem Taxi über eine
Nebenroute angereist, die sich auf den letzten Kilometern in eine schier
endlose Müllhalde verwandelt hat. Unser Fahrer steuert das Auto durch
Abfallberge, deren auslaufende Lava die Fahrbahn von beiden Seiten immer
schmaler werden lässt. Rechts und links der Straße türmen sich
grauschwarzbraune Schlacken von Halbverwestem, aus ihnen stechen nur die
Reste unverwüstlichen Plastiks in noch erkennbaren Farben und Formen
hervor. Mitten in der Müllhalde führt die Straße durch ein Dorf, das in
den gigantischen Abfallhaufen eingebettet liegt. Ein Esel sucht auf
einem der Müllberge nach Futter, schwarz qualmender Rauch steigt über
angezündeten Abfällen auf. Ein Großvater sitzt mit seinem Enkel auf
einem kleinen Hügel, es sind gerade Schulferien. Die beiden blicken auf
die Müllberge herab. Hinter ihnen beginnt die Wüste.
Osiris und Seth, die Ordnung und das Chaos, ringen hier um jeden
Zentimeter.
Die meisten Reiseführer bereiten Ägypten-Touristen nicht darauf vor,
dass sie auf den Spuren der Vergangenheit auch der Gegenwart begegnen.
Das gilt nicht nur für Taucher und Sonnentouristen, die sich in Ressorts
entlang des Roten Meeres einquartieren, mit westlichen Supermärkten,
Bars, und Sportanlagen und umgeben von hohen Mauern, die den Blick vor
der überall herrschenden Armut schützen. Auch wer sich für das Alte
Ägypten interessiert, kann vieles ausblenden, was ihm auf dem Weg zu den
cultural heritage sites begegnet; er kann sich nach dem Besuch von
Tempeln und Gräbern abends in eine Fülle von Literatur vertiefen –
irgendwo in einem Hotel, mit Blick auf den Nil, neben einem wärmenden,
in einer Schale entfachten Feuer. Im Januar und Februar wird es noch
kalt, wenn die Nacht schon früh ihr schwarzes Tuch über die
Memnonkolosse breitet. Hin und wieder mischt sich ein Esel ein, dessen
heisere Rufe sich in Vierteltönen abwärts bewegen.
Das Böse ist geflohen, das Verbrechen ist fort
Die Herrschaft des Königspaares Osiris und Isis (wie oft im alten Ägypten sind die Verheirateten zugleich Geschwister) liegt in einer weit entfernten, im Mythos ahistorisch gewordenen Vorzeit. Osiris Name steht für den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, seine Regierung brachte den Ägyptern Fruchtbarkeit und Erneuerung und ließ das Land aufblühen. Plutarch zufolge zivilisierten Isis und Osiris die Menschen; sie lehrten sie, Gesetze zu befolgen, die Götter zu verehren und Gerste und Weizen anzubauen. Die beiden förderten die Künste und die Technik und führten das Kupfer ein, das die Landwirtschaft und die Jagd auf Tiere erleichterte. Osiris war der erste, der Wein probierte (wie Diodor berichtet), und als der ägyptische Herrscher schließlich mit einer Armee in benachbarte Gebiete auszog, wird auch diese „Expansion“ als friedliche Mission geschildert: Sein Heer soll aus fähigen Ackerbauern bestanden haben, außerdem aus Musikern und Tänzern. Mit dieser Armee verließ Osiris das Land, um Wohltaten zu verbreiten und „seine Kenntnisse dem Rest der Welt zu vermitteln“.9
Ägypten erlebt unter Isis und Osiris eine Blütezeit, die Dinge befinden sich in bester Ordnung, alles wächst und gedeiht, und wo immer die beiden auftauchen, bringen sie Glück und Wohlstand. Ein kluger Herrscher weiß guten Rat zu schätzen, und so lässt Osiris sich vom weisen Thot beraten, dem Gott der Schreiber, der mit einem Ibiskopf dargestellt wird.
Der Tod des Osiris bricht als traumatisches Ereignis über diese Idylle herein. Er wird von Isis, Nephthys und den Menschen im ganzen Land beweint. Zwar können seine Anhänger die vollständige Vernichtung des Gottes verhindern, er bleibt als König der Unterwelt erhalten; aber er kann von hier aus nur noch über Boten mit den Bewohnern der irdischen Welt kommunizieren. Seth, der neue Pharao, bringt Unheil, Verbrechen und Gewalt über das Land.10 Erst der von Isis und Osiris in der Unterwelt gezeugte Horus wird seine Schreckensherrschaft beenden. Als der Nachfolger Horus gekrönt wird und Seth von den Göttern seine Strafe erhalten hat, wird dieser Sieg im Großen Osirismythos jubelnd besungen: „Der Überfluss wird gesichert durch seine Gesetze, die Straßen sind offen, die Wege sind frei, wie die beiden Ufer gedeihen! Das Böse ist geflohen, das Verbrechen ist fort, das Land hat Frieden unter seinem Herrn.11
Das Böse und das Verbrechen sind nie ganz fort
Der Staat von Machthaber al-Sisi erinnert wenig an die im Osirismythos besungenen Verhältnisse. Die Wege sind hier nicht frei, sondern werden von bewaffneten Polizisten überwacht, die jeden anhalten und kontrollieren. Als wir ein Stück in der Wüste wandern wollen, werden wir von Militärs aufgefordert, umzukehren. Das Böse ist hier nicht geflohen, das Verbrechen nicht fort. Und so liegen in dieser Landschaft, die der Nil unverändert Jahr für Jahr aufs Neue hervorbringt, die Reste des Alten Ägypten wie archäologische Leichenteile verstreut: als kulturelles Kapital und lukrative Einkommensquelle.

Das goldene Barkenrelief mit den hellblauen Widderköpfen, das ich eingangs beschrieben habe, stellt eine Prozession dar, bei der das Kultbild des Gottes Amun-Re in den Tempel getragen wird. Es ist eines von vielen Ritualen, durch das die Menschen sich mit der Welt der Götter verbanden, im Bewusstsein, dass ihre politische Ordnung von der kosmischen Ordnung abhing, die in der Natur ihren Ausdruck fand. Das Religiöse durchdrang das Alltägliche vollkommen, etwa indem der Nil, als Gott verehrt, als handfeste Grundlage für Wirtschaftsprognosen diente. An „Nilometern“ lasen Verwalter den Wasserstand ab, errechneten daraus, wie viel Steuern anfallen würden und konnten so den Steuersatz festsetzen, noch ehe die Ernte eingefahren war.
Der Pharao waltete an den Knotenpunkten, an denen die Webfäden der kosmischen Natur und der menschlichen Kultur miteinander verknüpft sind. Während der Krönungszeremonie fand seine rituelle Vereinigung mit einem Gott statt (meist Amun-Re oder Osiris). Wenn er starb, wurde seine Leiche auf einer Barke in den Totentempel überführt, wo er sich erneut mit dem Gott vereinte. Im Tempel, dem Millionenjahrhaus, trat der Pharao nach seinem Tod in die Ewigkeit ein. Durch die Vereinigung mit einem Gott und ihre eigene Unsterblichwerdung gewährleisteten die Pharaonen, dass die kosmische und die weltliche Ordnung reibungslos ineinandergriffen.
Zur Herausforderung wurde das Bewahren der Ordnung an den Bruchstellen, dort, wo etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Der Übergang vom Tag zur Nacht war einer dieser gefürchteten Übergänge, und natürlich die fragilen Zeiten des Machtwechsels, wenn die Regelung der Thronnachfolge Chaos auszulösen drohte. Die zahlreichen, auf den Reliefs in den Gräbern und Tempeln dargestellten Prozessionen symbolisierten diesen gefährlichen Zwischenzustand; die abgebildeten Rituale waren Übergangsriten, rites de passage, die helfen sollten, die Gefahr zu überwinden.
Solche Transformationsprozesse gelingen nicht immer. „Es ist
heute schlimmer als unter Mubarak“, sagen nahezu alle Männer, mit denen
wir ins Gespräch kommen, über das Scheitern des Arabischen Frühlings.
Sie sind offen und herzlich, aber auch resigniert und ohne Perspektive.
Mit Frauen kommen wir gar nicht ins Gespräch, sie verschwinden fast
vollständig unter dem schwarzen Tuch ihrer Schleier. Sobald sie heiraten
und Kinder kriegen, halten sie sich nur noch auf den wenigen
Quadratmetern ihrer Küchen auf. Das schadet ihrer Gesundheit, ohne die
Freiheit, sich zu bewegen, werden sie dick und körperlich
bewegungsunfähig.
Im Museum in Assuan führt eine lange Treppe von der unteren Ebene der
Ausstellung zum Ausgang. Die meisten Frauen, die älter als Mitte dreißig
sind, können diesen Aufstieg nur bewältigen, indem sie sich am in der
seitlichen Wand befestigten Geländer hochziehen, Stufe für Stufe,
unterbrochen von Pausen zum Atemholen. Es tut weh, das mit anzusehen.
Dabei habe ich selten so körperlich empfunden, was es bedeutet, frei zu
sein: nicht in politische und soziale Strukturen hineingeboren zu sein,
in denen Frauen nicht anders können, als in die Gefängnisse ihrer
eigenen Körper hineinzuwachsen.
Es fällt schwer, nicht an die hässliche Bemerkung eines französischen Arztes zu denken, der im 19. Jahrhundert nach dem Besuch im Harem des ägyptischen Paschas die Frauen als „unwissende Fleischberge“ beschrieb. Der Schriftsteller Qasim Amin, einer von vielen, die damals eine „islamische Aufklärung“ forderten,12 reagierte auf diese Äußerung und erklärte, die Situation der arabischen Frauen sei ein großes Modernisierungshindernis.
Der Übergang, den die alten Ägypter am meisten fürchteten, erwartete sie im Augenblick des Todes, auf der Schwelle vom diesseitigen ins jenseitige Dasein. Manche Pharaonen bemühten sich geradezu exzessiv, ihre vergöttlichte Existenz für die kommenden Jahrmillionen zu bewahren; ihre Bauwerke wurden monumentaler, die Kolosse kolossaler, und Ramses III. ließ seine Kartuschen zentimetertief in den Stein meißeln, damit sie nicht von seinen Nachfolgern entfernt werden konnten. Das schadete der Ästhetik, war aber von Erfolg gekrönt.
Lebensrettung nach dem Tod
Auch im Osirismythos beginnt das eigentliche Drama am Übergang von der irdischen in die jenseitige Existenz. Im Vordergrund stehen nicht der Mord und die Bestrafung der Täter, sondern Isis’ Anstrengungen, die endgültige, postmortale Vernichtung ihres Gatten zu verhindern. Osiris ist noch nicht verloren, als Seth ihn getötet hat, ja selbst die Zerstückelung der Leiche bedeutet noch nicht seine Auslöschung. Im Gegenteil, nachdem er gerettet ist, entfaltet der ermordete Pharao von der Unterwelt aus noch einmal seine Macht, indem er mit Isis den Sohn Horus zeugt und ihn aussendet, die von Seth zerstörte Ordnung wiederherzustellen.
Früher zogen in Abydos Priester in feierlichen Prozessionen zum Osireion, um das Gedenken des Gottes zu bewahren, die Götter gnädig zu stimmen und die kosmische Ordnung in Harmonie zu halten. Heute defiliert eine Gruppe von Sicherheitsleuten in khakifarbenen Uniformen an uns vorbei, die das Gelände inspizieren. In ihrer Mitte der Oberkommandeur, das Gesicht von einer dunklen Sonnenbrille abgeschirmt. Im Besucherzentrum eine Sicherheitsschleuse, an der bewaffnete Polizisten gelangweilt Rucksäcke durchleuchten, auf dem Vorplatz ein Guard mit einer Kalaschnikow, der den Aufgang über die Rampenstufen bewacht. All das, um zu verhindern, dass die Touristen als über den Platz verstreute Leichenteile enden.
Osiris und Seth sind Brüder^13^, der eine bringt Fruchtbarkeit und Fülle, der andere Verderben. Dabei nimmt Seth in der altägyptischen Mythologie eine Doppelrolle ein. Einmal wehrt er die Bedrohung der kosmischen Ordnung ab, indem er, am Bug der Barke des Sonnengottes Re stehend, die Chaosschlange Apophis mit einer Harpune traktiert. Dann aber ist es im Osirismythos Seth selbst, der das Chaos bringt, und in den langwierigen Kämpfen mit Isis und Horus erliegt schließlich auch er einer Harpune.14
Am Beispiel Nordkoreas
In Ägypten halten Clans und militärische Eliten die Hand auf
riesige Rohstoffschätze und sichern sich damit ihren Reichtum für die
kommenden Jahrzehnte, während große Teile der Bevölkerung in Elend und
Armut verharren. Aus ihrer Perspektive betrachtet, läuft es mit den
Übergängen von einer politischen Phase in die nächste gar nicht so
schlecht.
Der britische Historiker Toby Wilkinson bescheinigt schon den
Herrschern, die das altägyptische Königtum etablierten, ein ähnliches
Verhalten.
„Indem sie den Zugang zu Prestigegütern und kostbaren Materialien
beschränkten, bauten die Wohlhabenderen in der Gesellschaft ihre Macht
und ihr Ansehen aus.“15
Nostalgikern der längst vergangenen hochkulturellen Epoche hält
Wilkinson entgegen, die Zustände im Alten Ägypten würden nicht nur in
Mythen verklärt, sondern auch von vielen Ägyptologen
idealisiert:16
„Die Gelehrten und Fans neigen dazu, der Pharaonenkultur mit einer
geradezu blinden Verehrung zu begegnen. [. . . ] „und wollen lieber
nicht so genau wissen, wie es sich unter einem fanatischen Despoten
lebte, obwohl uns heutige Parallelen wie Nordkorea durch Fernsehbilder
vertraut sind. [. . . ] in der altägyptischen Gesellschaft beruhte die
Beziehung des Königs zu seinen Untertanen nicht auf Liebe und
Bewunderung, sondern auf Unterdrückung und Angst. Unter der absoluten
Königsmacht zählte ein Menschenleben nur
wenig.“17
In der Tat findet man in den altägyptischen Texten kaum Negatives, Schilderungen von Konflikten und Gewalt werden weitgehend ausgespart (deshalb, so vermutet man, wurden die grausamen Details des Mords an Osiris nur mündlich tradiert und erst von den griechischen Autoren Plutarch und Diodor aufgezeichnet). Aber ist es plausibel, den altägyptischen Mythos in der Gleichsetzung mit Nordkorea ganz seiner metaphysischen Dimension zu entkleiden und ihn auf seine Funktion für den politischen Machterhalt zu reduzieren? Gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen Religion und politischer Propaganda, weil sie beide nicht nur die Gesellschaft, sondern auch ihre Herrschaftsform stabil halten? Wurden vielleicht, wenn die Kritik an jeder Sinnkonstruktion zu solchen alle Unterschiede nivellierenden Vergleichen führt, die falschen Konsequenzen gezogen aus dem, was Lyotard als postmodernes Wissen beschreibt?
Die Zeit als vertikale Achse
In Abydos befindet sich eine fast 6000 Jahre alte^18^ Nekropole (die „prähistorische Zeit“ reicht noch einmal gut 1000 Jahre vor den Beginn der 1. Dynastie und die Staatsgründung durch König Narmer zurück), in einem ihrer Gräber wurde auf einem Tongefäß die vermutlich älteste Darstellung eines Königs gefunden. Zwischen der Königsdarstellung auf dem Tongefäß und den Reliefs in Sethos’ Tempel liegen 2.300 Jahre, sie sind damit weiter voneinander entfernt als wir vom Beginn unserer Zeitrechnung. Und doch gehören sie unverkennbar derselben Kultur an, sind zentrale Elemente einer Staatsform, die sich in der prähistorischen Zeit herausgebildet, konsolidiert und dann weitere 3.000 Jahre gehalten hat. Auch die beiden Wedel auf dem Barkenrelief, Königsinsignien, die ebenfalls bis in die prähistorische Zeit zurückverfolgt werden können,19 zeugen von dieser unglaublich langen Kontinuität. Sollte Anthony West mit seiner Annahme richtig liegen und das Osireion in der Zeit des Alten Reichs gebaut worden sein, dann befinden sich hier, in Abydos, an einem einzigen Ort Überreste, die aus der prähistorischen Zeit (vor ca. 6.000), dem Alten Reich (vor ca. 4.000) und dem Neuen Reich (vor ca. 3.500 Jahren) stammen.20 Als würde man einen Zeitstrahl in die Vertikale drehen.
Vom Ausgang ewiger Rites de Passage unberührt, üben die farbigen Reliefs in Abydos seit mehr als dreitausend Jahren ihre magische Wirkung auf uns aus. Als wir am Morgen um acht Uhr in das Taxi nach Abydos steigen, ist der Himmel wolkenverhangen, über der Wüste liegt ein vom Sand orange gefärbter Dunst. Der Blick verliert sich nach wenigen Metern in einer diffusen Wand aus Licht und Wüstensand. Unmöglich, etwas zu unterscheiden.

1
Wilkinson, Aufstieg und Fall des Alten Ägypten. Die Geschichte einer
geheimnisvollen Zivilisation vom 5. Jahrtausend v. Chr. bis Kleopatra,
München 2010, S. 401. Originalausgabe The Rise and Fall of Ancient
Egypt. The History of a Civilisation from 3000 BC to Cleopatra, London
2010.
2 Wilkinson, vgl. Anm. 1, S. 401.
3 Ebenda.
4 Detail aus dem Totenbuch des Cheritwebeschet, Ägyptisches
Museum Kairo/Werner Forman Achive, Abbildung in: Garry J. Shaw: Götter
am Nil. Ägyptische Mythologie für Einsteiger, Darmstadt 2015, S. 125,
original: The Egyptian Myths. A Guide to the Ancient Gods and Legends,
London 2014. Auch andere Götter und Pharaonen kämpfen gegen die
Chaosschlange.
5 Wilkinson, S. 399f-400.
6 Vgl. dazu die Argumentation von John Anthony West, S.
490-493.
7 Ich folge bei der Kurzschilderung der Mythen Garry J. Shaw,
siehe Anmerkung 4. Es mag andere Beschreibungen und Deutungen geben,
das ist für den Gedanken, um den es hier geht und da es sich nicht um
einen Beitrag zur Ägyptologie handelt, nicht relevant. Vergleiche zu den
Mythen außerdem Joyce Tyldesley: Myth & Legends of Ancient
Egypt, London 2011.
8 Wilkinson, S. 331.
9 Plutarch nach John Anthony West, Die Heiligtümer des Alten
Ägypten, engl.: The Traveler’s Key to Ancient Egypt, Wheaton 1985, dt.
Übersetzung von Heike Rosbach, Frankfurt am Main 2000, S.
481.
10 Während seiner Herrschaftszeit überschwemmt Seth das Land
mit seinen bösen Plänen“; Shaw, Anm. 4, S. 89 und S.
113.
11 Shaw, Anm. 4, S. 111.
12 Christopher de Bellaigue, Die islamische Aufklärung,
Frankfurt am Main 2018.
13 Zusammen mit Isis und Nephthys allesamt Kinder des
Erdgottes Geb und der Himmelsgöttin Nut.
14 Aus S. 94 Shaw: Seth harpuniert das Chaos und wird
harpuniert, weil er Chaos bringt.
15 Wilkinson S. 37
16 Vgl. Anm. 1
17 Wilkinson S. 22
18 Die Nekropole wird auf 3800 v. Chr. datiert, vgl.
Wilkinson, S. 57.
19 Wilkinson, S. 60, 61.
20 Die Tonscherbe und die Nekropole aus der prähistorischen
Zeit, das Osireion aus dem Alten Reich, der Tempel von Sethos I. aus dem
Neuen Reich.