Der Besuch auf dem Friedhof von Leiterstal hält Neuigkeiten bereit. Erwartete Namen auf Grabsteinen sind nicht zu finden, neue sind hinzugekommen. Es geht um’s Beten und um einen Dorfpfarrer, der sich an die Philosophin und Frauenrechtlerin Edith Stein erinnert, die 1922 in der Pfalz katholisch getauft wurde und 1942 in Auschwitz umkam. Peter Kern folgt den Spuren der Breslauer Jüdin und den eigenen.
Wenn der Mann seinen Heimatort und seine Schwester doch einmal besuchte, ging er in das Leiterstal, auf den Friedhof. Ein immergrünes Tal, das in der illegalen pfälzischen Grammatik einem Maskulinum zugeordnet ist: De Läderschdal. Dem Kind schon war das Wort bedeutsam. Die Läder, das war doch die Leiter und auf der stieg der Jakob hoch in den Himmel. Sollte das Jaköbel hier auch mal so hoch hinauskommen? Als das Kind dann ein Mann war und zwanghaft zum Scherz aufgelegt, fiel ihm zum Himmel nur mehr wenig Erbauliches ein: Alle wollen in den Himmel, aber keiner will sterben.
Eigentlich ist nicht auszumachen, ob das Wort Läderschdal einen Stall oder ein Tal meint. Links der Hochwald, rechts der Hochwald, dazwischen der sich nach hinten verengende Friedhof mit den Gräberreihen. Über die Pfarrer Ackermannsche Begräbnisstätte muss ein Besucher förmlich stolpern. Ganz prominent liegt sie in der Mitte des Friedhofs, vom Eingang unten wie vom obigen gleich weit entfernt. Auch befindet sie sich mitten im Gehweg, als hätte man dem beliebten Gemeindepfarrer den Tort nicht antun wollen, ihn in einer Reihe mit gewöhnlichen Sterblichen zu beerdigen. Der Mann passierte die Grabstätte mit dem mächtigen Kreuz aus dem heimatlichen Bundsandstein und kramte jedes Mal von neuem in seinem Gedächtnis: Hatte er als Messdiener an diesem Begräbnis teilgenommen? Hatte die feierliche Beerdigung mit den Posaunen einem ehemaligen Bürgermeister oder dem imposanten Herrn Ackermann gegolten?
Hinter dem Steinkreuz, gleichsam an einer Kreuzung, fangen die
Gräber seiner Leute an. Erst das des Parreungel,
des Pfarrers und Onkels, dessen Unterwäsche einmal der Vater tragen
sollte. Was ist ein Geistl. Rat, und wen berät er?
Die schon das Kind beschäftigende Frage konnte sich der Mann nicht
beantworten. Vermutlich einer dieser Titel ohne Mittel, ein bisschen
Prestige für den Landpfarrer, dem die Mutter bis zu seinem Tod den
Haushalt geführt hatte. Die lateinische Grabinschrift, mit der
Fotofunktion des Handys festgehalten, ließ sich zumindest übersetzen:
Du bist mein Priester in Ewigkeit. Rechter Hand, im
Querweg, das schmale Rechteck für die erste Ehefrau und die Tochter des
Vaters. Brigitte war also neun Jahre alt, als sie starb. Sie ist
durch Bombenangriff umgekommen, steht auf dem
Grabstein.
Wo sich die Gräber der Tanten und Onkel, der Agnes, des Emil, der Anna,
des Eugen, und der Antoinette befinden, der Mann wusste es nicht. In den
siebziger und achtziger Jahren fuhr er auf Demonstrationen, nicht auf
Beerdigungen. Er kam bei der Begräbnisstätte der Eltern an. Hier hatte
ein Kommen und Gehen stattgefunden. Neu hinzugekommen die Eltern des
Schwagers, verschwunden der Großvater und die Großmutter. Kein Hinweis
mehr auf die geliebte Oma und ihren Mann, den Namensgeber, den Peter.
Die neue Grabplatte verweist nur noch auf den Familiennamen der
Großeltern. Geht das Sterben nur das Allgemeine und nicht das Individuum
an, fragte sich der Mann, als er zum ersten Mal vor dem restaurierten
Grab stand. Ihm fiel der Joke seines Uni-Lehrers ein: Lieber
Gott, rette meine Seele, wenn es dich gibt, und wenn ich eine
habe. So könne man nicht beten, sagte der den Historischen
Materialismus lehrende Philosoph. Was für die eigene Seele schon nicht
hinhaut, kann wohl kaum den Seelen der anderen helfen, dachte sich der
Mann.
Der Mann behalf sich mit einem Vaterunser. Ein Vaterunser hilft
immer, das hatte ihn die Oma gelehrt, und er blieb dabei, kommt der
Text doch mit erstaunlich wenig Mysterien aus: keine Dreifaltigkeit,
keine Gottesmutter, keine Vielzahl von Heiligen. Stattdessen
Alltägliches wie Brot, Schuld, Versuchung. Er betete die Oma-Version:
…sondern erlöse uns von dem Übel. Mit der neuen
Fassung konnte der Mann sich nicht anfreunden. Erlöse uns von
dem Bösen; Böse ist alles und nichts. Bist du mir
böse? Das klingt doch schon halb nach Wiedergutmachung! Auch
die Herrlichkeit und die Kraft und das Reich waren nicht nach dem
Geschmack des Mannes; den Anhang ließ er einfach weg. Was gestrichen
ist, kann, wie bei einer Theaterszene, nicht durchfallen, so seine
Überlegung. Ging die revidierte Fassung auf ein Vatikanisches Konzil
zurück? Gab es ein neuerliches, von ihm gar nicht wahrgenommenes? Das
Zweite Vatikanische Konzil endete für das Kind mit einer Enttäuschung.
Jetzt hatte es das lateinische Stufengebet endlich gut gelernt, und nun
sowas: alles in Deutsch, alles für die Katz!
Dieses Konzil, wusste der Mann, dauerte drei Jahre. Es endete 1965 mit
der ersten, in einem offiziellen Dokument festgehaltenen Verurteilung
des Antisemitismus, verbunden mit einem Schuldeingeständnis. Die
katholische Kirche habe die Katastrophe mit verursacht und sie dürfe nie
ihre im Judentum liegenden Wurzel vergessen.
Für die Großmutter gab es nur ein Gebet, das besser war als ein Vaterunser, zwei Vaterunser. Der Mann kam sich schon mit dem einen wie verstellt vor. Mit seiner Frau und seiner Schwester schlenderte er auf dem seitlichen Friedhofsweg zurück. Sie kamen an der mit einer Engelsfigur geschmückten Grabstätte des Servasferdi und seiner Frau vorbei. Der Engel in Lebensgröße sah aus wie von Chagall. Dem Relief fehlte nichts; die Chagallschen Farben ersetzte der helle, vornehme Muschelkalk.
Der Läderschdal_-Friedhof hat einen Ausgang zum Clausener Weg. Mit seinen Begleiterinnen hatte der Mann die ins Dorf zurückführende Pforte gerade durchschritten, da kam ihnen der Pfarrer Meckes entgegen. Die Schwester fand noch Gelegenheit, dem Mann den Namen zuzuraunen. Er sah sich im Bilde, Mutters Freund schon aus Kindertagen, der _Ferdi. Er kannte den Mann im schwarzen Habit mehr aus Erzählungen als aus Begegnungen. Vielleicht hatte er ihm einmal am Altar gedient. Mutter hatte ihn immer als humorvollen Plauderer geschildert, als das fünfte und letzte Kind der Familie. Als es geboren und ein Taufname zu finden war, hätte der Vater den Namen Ferdinand vorgeschlagen. Seine Begründung und Ansage: So, Mudder, jedzd isch ferdi.
Die Schwester stellte ihren Bruder und dessen Frau vor, und der
Pfarrer fing das Plaudern an: Sie sind also der Jüngste.
Wissen Sie, wieviel Sorgen Sie ihrer Mutter gemacht haben?
Dem Mann verschlug es die Sprache. Offene Worte sollten unter Leuten
gewechselt werden, die in irgendeiner Beziehung standen, aber unter
wildfremden? Vielleicht gilt diese Regel nur für Leute in Zivil, und
Amtsträger der Kirche unterliegen einem anderen Regelwerk, dachte der
Mann. Er blieb maulfaul, und das Gespräch verebbte, bevor es begann.
Bei der Fahrt Richtung schwesterliche Kaffeetafel fragte die Schwester
den Mann, ob er von der Begegnung des Pfarrer Meckes mit Edith Stein
wüsste. Der Mann verneinte. Dass die zum Katholizismus konvertierte
Jüdin aus Breslau eine enge Verbindung zur Pfalz hatte, war ihm
entgangen. Die Schwester erzählte: Edith Stein aus Breslau, dem heutigen
Wrocław, war in der Pfalz getauft worden. In der Bischofsstadt Speyer
hatten der Domvikar und die Dominikanerinnen zu ihrem Freundeskreis
gehört. Vor der Verfolgung durch die Nazis nach Holland geflüchtet, war
sie dort ihren Verfolgern in die Hände gefallen. Die hatten sie erst in
das Lager Westerbork und dann in die für die Judentransporte üblichen
Viehwaggons Richtung Auschwitz gesteckt. Der Zug hatte für kurze Zeit in
Schifferstadt gehalten. Auf dem Bahnsteig dort zufällig zugegen, der im
nahen Ludwigshafen als Kaplan beschäftigte Ferdinand Meckes.
Der junge Kaplan will nachsehen, wohin der Transport abgehen soll,
nähert sich einem Wagen und wird aus der mit Stacheldraht vergitterten
Luke eines Waggons angesprochen:
-Wo halten wir?
Er antwortet. Darauf gibt es im Wagen eine Bewegung. Eine Frau spricht
ihn an:
– Ich bin Schwester Teresia Benedicta a Cruce, Edith
Stein.
– Ich kenne Sie.
Drei Soldaten aus dem vorderen Zugteil sehen die verbotene
Kontaktaufnahme und einer schreit: „Was ist dahinten los?“ Meckes dreht
sich um, geht zur Mitte des Bahnsteigs, sieht das auf Abfahrt stehende
Signal, und dann zieht der Zug langsam an. Die Soldaten steigen wieder
ein. Edith Stein ruft ihm noch ein Hallo, Achtung zu und wirft ihm ein
Zettelchen heraus, das flatternd neben die Schiene ins Gleisbett fällt.
Er stellt sich hart an die Bahnsteigkante und hält das gefaltete Papier
im Auge. Trotz der vorbeirollenden Räder bleibt es liegen. Der Güterzug
mit etwa 50 Wagen rollt vorüber, „gefüllt mit armen Menschen“, wie es
dem Ferdinand Meckes scheint.
Auf dem Zettel bittet ihn die Karmeliterin, Grüße an den Vikar
und die Dominikanerinnen von Sankt Magdalena auszurichten. Ihre
Identität bestätigt sie mit der Unterschrift. So habe ich die
Begegnung mit Edith Stein in Erinnerung – gesehen habe ich in der
dunklen Luke nur ihre Augen und im Schimmer ihr Gesicht.,
erinnerte sich der Freund seiner Mutter.
Der Mann begegnete der Edith Stein nun zum dritten Mal. Den Namen hatte
er zuerst von seiner Mutter gehört. Die Mutter hielt sie ihm als eine
Galionsfigur des widerständigen Katholizismus gegen die neuen Heiden
vor. Der Mann war jung gewesen, hatte Hochhuths
Stellvertreter gelesen, als Widerständler galten
ihm die rote, nicht die christliche Kapelle und die Mutter konnte ihm
mit ihrem Bischof von Galen aus Münster, dem Albert Schweitzer aus
Lambarene und der Edith Stein aus Auschwitz gestohlen bleiben.
Zum zweiten Mal war er auf den Namen in einem Seminar über Ontologie gestoßen. Die katholische Heideggerei war ihm sehr auf die Nerven gegangen. In seiner Seminararbeit rechnete er mit Edith Steins Endliches und ewiges Sein ordentlich ab. Nur wie sie Heideggers Nichts charakterisiert, gefiel ihm, schreibt sie doch: „Es wird von dem Nichts gesprochen wie von einer Person, der einmal zu ihrem unterdrückten Recht verholfen werden muss.“ Sein Atheismus hatte zu Unizeiten die Klimax erreicht. Damals war es ihm wie dem Heinrich Heine, seinem Schreibidol, gegangen: „Ich war jung und stolz, und es tat meinem Hochmut wohl, als ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei.“
Nun also das dritte Mal Edith Stein, ein Bild vermittelt vom
Dorfpfarrer. Eine Frau, eingepfercht wie ein Tier in einem Käfig, und
der Käfig steht in der Gluthitze des Rheingrabens, und es ist der
7.August 1942, 13 Uhr, und die Frau weiß um die Schlachtbank, auf die es
für sie und ihre Leidensgenossinnen und -genossen geht, und am 9.
August endet ihr Leben in Auschwitz-Birkenau.

Auszug aus „Manuskript sucht
Verlag”
Siehe auch:
Der
Ehrenbütger