Die Philosophin Cinzia Sciuto hat in der Zeitschrift MicroMega ihrer italienische Leserschaft von der rechtlichen Ungleichbehandlung von Gläubigen und Nichtgläubigen hierzulande berichtet: Deutschland ist weit davon entfernt, ein vollständig säkularer Staat zu sein. Eine neue Vereinigung will eine echte politische Lobby sein, die die Rechte derjenigen verteidigt, die sich mit keiner religiösen Organisation identifizieren.
In Deutschland wurde der Zentralrat der Konfessionsfreien gegründet, ein Zusammenschluss zahlreicher säkularer Verbände mit dem Ziel, die Rechte und Interessen der vielen Millionen Menschen in Deutschland, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, gegenüber politischen Entscheidungsträgern in einer echten Lobbyarbeit zu vertreten.
Vor fünfzig Jahren lag der Prozentsatz der Konfessionsfreien
bei weniger als 4%, heute sind es mehr als 40%. Einigen Prognosen
zufolge wird die absolute Mehrheit der Deutschen bald konfessionsfrei
sein. Die beiden großen christlichen Kirchen, die katholische und die
evangelische, zahlen am meisten für den Verlust von Gläubigen: Zum
ersten Mal in der Geschichte Deutschlands gehört weniger als die Hälfte
der deutschen Bürger einer der beiden Kirchen an. Eine der Ursachen
liegt sicherlich in der Vertrauensverlust, die durch die
Missbrauchskandale in der katholischen Kirche hervorgerufen wurde und
die zu einer Welle der Austritte geführt
hat.
Im Gegensatz zu den beiden christlichen Kirchen, die seit Jahrhunderten
einen starken Einfluss auf politische Entscheidungen haben und zu denen
sich in den letzten Jahren verschiedene Organisationen anderer
Religionen, angefangen mit dem Islam, gesellt haben, hat bisher niemand
die Interessen dieser neuen, großen gesellschaftlichen Gruppe von
Konfessionsfreien, die auch eine große Wählergruppe darstellt, politisch
vertreten. Diese Lücke will der Zentralrat der
Konfessionsfreien füllen: „Wir wollen Deutschland auf dem Weg
zu einem vollständig säkularen Staat begleiten”, erklärt der
Präsident der Konfessionsfreien, Philipp Möller. Der ehemalige Sprecher
der „säkularen
Buskampagne und Autor der Bestseller Isch geh Schulhof und
Gottlos
glücklich), erklärte auf der Pressekonferenz zur Vorstellung
des Zentralrates am 19. Mai in Berlin, dass die Ampel-Regierung, eine
historische Chance für Deutschland darstellt, auf diesem, aus 12 Etappen
bestehenden Weg einen großen Schritt vorwärts zu machen. Die erste
Etappen stehen auch im Koalitionsvertrag der Bundesregierung, weshalb
Möller zuversichtlich ist, dass sie in relativ kurzer Zeit umgesetzt
werden können, angefangen bei der Abschaffung des kirchlichen
Arbeitsrechts und des Änderungen des Abtreibungsrechts.
Für religiöse Träger setzt der deutsche Staat das übliche Arbeitsrecht außer Kraft. Homosexuelle, Wiederverheiratete oder Konfessionsfreie können fristlos entlassen und kategorisch vom Bewerbungsprozess ausgeschlossen werden. Rund 1,3 Millionen Beschäftigte dürfen keine Betriebsräte gründen und nicht streiken; sie werden systematisch diskriminiert und indirekt zur Kirchenmitgliedschaft gezwungen. Der Europäische Gerichtshof hat diese Praxis mehrfach gerügt. und Deutschland aufgefordert, sein Arbeitsrecht auch auf religiöse Arbeitgeber anzuwenden. Was den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch anbelangt, so betrachtet das deutsche Strafgesetzbuch den Schwangerschaftsabbruch als Straftat, die jedoch unter bestimmten Bedingungen nicht strafbar ist. Dies hat einerseits zur Folge, daß Frauen tatsächlich abtreiben können, andererseits aber auch, dass Abtreibungstechniken nicht in Universitätskursen gelehrt werden, dass Frauenärzte, die auf ihrer Website über Abtreibungstechniken informieren, sich strafbar machen und dass Frauen, die abtreiben wollen, ohnehin einem ständigen Druck ausgesetzt sind. Der Zentralrat der Konfessionsfreien fordert nicht nur die Streichung des berüchtigten Paragraphen 219 des Strafgesetzbuches, der die „Werbung” und damit auch die Verbreitung von Informationen verhindert (darüber besteht in der Regierungsmehrheit ein breiter Konsens), sondern auch des Paragraphen 218, der Abtreibung als Straftat definiert. In dieser Frage gibt es jedoch weniger politischen Konsens.
Es gibt noch viele andere Themen, die der koordinierende Zentralrat in die öffentliche Debatte in Deutschland einbringen will, bei denen es aber schwieriger sein wird, die Politiker zum Zuhören zu bewegen. Angefangen bei der Forderung nach der Abschaffung des Religionsunterrichts und dessen Ersetzung durch einen für alle gleichen Ethikunterricht. „Es gibt keine religiösen Kinder”, erklärt Möller, “nur Kinder religiöser Eltern, die das gleiche Recht wie alle anderen haben, eine freie und säkulare Bildung zu erhalten.“
Ein weiteres brennendes Thema ist die Kirchensteuer, die der Zentralrat zusammen mit der Berücksichtigung religiöser Organisationen als Körperschaften des öffentlichen Rechts abschaffen möchte. „Religiöse Organisationen”, so Möller, “müssen zu normalen privatrechtlichen Vereinen werden und können als solche ihre Mitglieder um finanzielle Unterstützung bitten, ohne dass sich das Finanzamt darum kümmern muss”.
Forderungen, die, wie Möller betont, durchaus von Gläubigen und
Nichtgläubigen gleichermaßen geteilt werden können: “Wir
schlagen keine bestimmte Weltanschauung vor, sondern setzen uns dafür
ein, dass jeder seine eigene haben kann, ohne dass einige besondere
Privilegien genießen. Sonderrechte für niemanden, gleiche Freiheit für
alle”.
Der Beitrag erschien zuerst am 19. Mai 2022 in MicroMega