Lässt sich der Antisemitismus erklären? Wenn nein, warum gibt es dann so viele Versuche, ihn zu erklären? Und wer ist überhaupt ein Antisemit? Der Psychoanalytiker und Historiker Eran Rolnik, der neben seiner Arbeit an der medizinischen Fakultät in Tel Aviv und am Max-Eltingon-Instituts für Psychoanalyse in Jerusalem publizistisch die psychoanalytische Interpretation des politischen Alltags betreibt, hat mit einem Vortrag, gehalten an der International Psychoanalytic University Berlin am 1. Februar 2024, versucht, die Frage zu beantworten.
Als transhistorisches Phänomen stellt uns der Antisemitismus ständig vor neue Fragen moralischer und epistemischer Natur. Der Hass auf Juden unterlag vielen historischen Veränderungen, ist aber im Grunde der gleichen unbewussten Phantasie treu geblieben: das Rätselhafte an den Menschen und an dieser Welt auszurotten. Die Tatsache, dass diese Hassform wieder in unserem Leben präsent ist, bedeutet nicht nur eine nicht zu unterschätzende Gefahr für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Sie zeigt auch an, dass der Mensch immer noch imstande ist, seine eigene Humanität in Frage zu stellen.
Die Wahl der Psychoanalyse als Beruf hing bei mir zweifellos
mit dem persönlichen Verlangen zusammen, jenem katastrophalen Abschnitt
der Geschichte des 20. Jahrhunderts Sinn zu geben, der zur Entwurzelung
meiner Familie in Deutschland geführt und sie gezwungen hat, anderswo
Fuß zu fassen.
Also, ich bin kein Berliner, muss aber dieser Stadt, in der meine Mutter
geboren ist und die sie 1939 gezwungen war, mit ihrer Familie zu
verlassen, einen bestimmten Platz in meinem biographischen und
psychoanalytischen Palimpsest einräumen.
Ein Ausdruck dieses Nachspürens war ein stetig wachsendes
Interesse an den Wechselwirkungen zwischen dem Privaten und dem
Öffentlichen sowie zwischen der wissenschaftlichen Idee und den
gesellschaftspolitischen Wandlungsprozessen, ein Thema, das im
Mittelpunkt meiner früheren Studien zur Emigration der Psychoanalyse aus
Mitteleuropa stand.
Dieses Forschungsprojekt befasste sich mit drei sich überschneidenden
intellektuellen Strömungen: dem Sozialismus, der Psychoanalyse und dem
Zionismus. Der interdisziplinäre Ansatz zur Untersuchung des Einflusses
der Psychoanalyse auf die Denkmodelle der jüdischen Nationalbewegung
erwies sich als aufschlussreich, unter anderem deshalb, weil die Epoche,
auf die sich diese Forschung konzentrierte, das „goldene Zeitalter“ der
Interdisziplinarität war. Damals zeigten die Geistes- und
Sozialwissenschaften Interesse an der Verwertung psychoanalytischer
Erkenntnisse, und einige Pioniere der psychoanalytischen
Sozialpsychologie wirkten vor ihrer Emigration in diesem Sinne am
Institut für Sozialforschung in Frankfurt oder in bestimmten Fällen auch
im Rahmen der zionistischen Bewegung.
Zwei Tage nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7.
Oktober 2023 hielt der amerikanische Präsident eine Rede, und mir
gingen dabei folgende Gedanken durch den Kopf: Heutzutage muss ein
Politiker wohl erst ein hohes Alter erreicht haben, um radikal zu sein.
Hier spricht ein Mann des 20. Jahrhunderts, der es instinktiv versteht,
zwischen dem legitimen politischen Kampf des palästinensischen Volkes
und dem genozidalen Angriff auf die Menschheit, welcher an jenem Samstag
verübt worden war, zu unterscheiden. In den darauffolgenden Wochen
bestätigte sich diese Beobachtung. Noch bevor das israelische Militär in
Gaza zu operieren und mit aller Härte zurückzuschlagen begann, konnte
man Folgendes wahrnehmen: Je grösser die Niederlage, die Israel am 7.
Oktober erlitt, desto krasser wurden die antisemitischen Parolen im
Ausland.
Ein marxistischer Professor am Birkbeck College der University
of London erklärte, dass die Ermordung von Israelis bei einem Rave eine
„Konsequenz“ dessen sei, „Partys auf gestohlenem Land“ zu feiern. Andere
Akademiker und eine Vielzahl von Studentenorganisationen gaben
Stellungnahmen ab, in denen sie sich ausdrücklich weigerten, den
genozidalen Charakter der Gewalt anzuerkennen, der 1400 israelische
Zivilisten und 200 Entführte zum Opfer fielen.
Die inflationäre Verwendung des Wortes „Kontext“ ist rasch zu einer
rhetorischen Strategie geworden, die es einflussreichen Intellektuellen
und Politikern ermöglichte, die Tötung von Zivilisten und Unschuldigen
nicht anzuprangern und zu verurteilen. Eine psychohistorische
Hemmschwelle, die zu missachten seit dem Vernichtungsantisemitismus des
Holocaust unvorstellbar war, scheint seit dem 7. Oktober „durchbrochen“
zu sein. Dies lässt die Verschmelzung von allerlei politischen und
kulturhistorischen Bildern zu, die die Juden zum legitimen Hassobjekt im
öffentlichen Diskurs des Westens machen. „Das Privileg einer negativen
Erwählung“, schrieb neulich der Historiker Dan Diner in der FAZ, „macht die Juden aufs Neue zum
Hassobjekt der Völker.“
Aus psychologischer Sicht dürfen zwei Elemente nicht außer Acht
gelassen werden:
1. Ausschlaggebend für die Wiederkehr der Juden als Hassobjekte mag
diesmal die Schuld an der Ermordung von Juden in ihrem Heimatland sein.
Möglicherweise fungiert der Hamas-Angriff als Überschreitung eines,
aufgrund des Holocaust, tabuisierten Verbrechens. Die Umkehrung des
Genozid-Begriffs und die Verschiebung des Opferstatus von Juden auf
Palästinenser infolge des 7. Oktobers und des daraus resultierenden
Gaza-Kriegs sind nicht nur der brutalen Kriegsführung Israels
geschuldet, sondern auch dem südafrikanischen politischen
Unterbewusstsein, welches den Krieg in Gaza als Anlass nimmt, die Shoa
und die Juden von ihrer Ikonisierung als Opfer genozidaler
Kriegsverbrechen zu entkoppeln.
Der messianische, verrückte Teil Israels, der sich auf schleichende
Weise seit dem Sechstagekrieg immer weiter ausbreitet, hätte sich keinen
besseren Konkurrenten für seine Wahnvorstellungen wünschen können, als
ihm der Internationale Gerichtshof zu bieten scheint.
2. Als weiterer Faktor bei der Wiederkehr des Antisemitismus in den
öffentlichen Diskurs soll auf die Wechselwirkung zwischen Islamophobie
und Judenhass hingewiesen werden. Seit dem 11. September 2001 etwa ist
der Tod nicht mehr ein „Meister aus Deutschland“, wie es im 20.
Jahrhundert galt. Er trägt nun oft die Merkmale des fundamentalistischen
Islam. Der Israel-Palästina-Konflikt fungiert in der westlichen
Vorstellung als Schaltstelle für die Verwischung der Grenzlinien
zwischen Israel-Kritik und Judenhass. Aber auch das offizielle Israel
treibt seit den 1960er Jahren diese Konfusion zwischen legitimer
politischer Kritik und historischem Judenhass in der Öffentlichkeit
voran. Sie ist keine Erfindung der israelischen Rechten. Bereits 1969
hat der israelische Außenminister Abba Eban in einem Interview im
Spiegel gesagt: „Die Landkarte vom 4. Juni 1967 ist für uns
gleichbedeutend mit Unsicherheit und Gefahr. Ich übertreibe nicht, wenn
ich sage, dass sie für uns etwas von einer Auschwitz-Erinnerung hat.“
Interessanterweise gingen aus der Kritischen Theorie, der Psychoanalyse
und der Postkolonialen Theorie intellektuelle und theoretische Ansätze
hervor, die unter anderem solchen relativierenden Tendenzen und
Konfusionen in der Politik Vorschub leisten, haben doch sowohl das
Denken der Linken als auch die Psychoanalyse ein entscheidendes Element
in die Welt gebracht: die Fähigkeit, kritisch über Machtverhältnisse und
die zwischen ihnen sich entfaltende Dynamik nachzudenken, sowie das
Verständnis, dass unter der Oberfläche des Schweigens oftmals
ausbeuterische Strukturen herrschen – verborgene Machtverhältnisse also
im Gegensatz zu offener Ausbeutung und unverhülltem
Machtmissbrauch.
Diese Denkweise hat in vielen Bereichen wichtige intellektuelle Früchte
getragen, sei es ethisch, politisch, wissenschaftlich oder
psychologisch. Dank der Arbeiten von Freud, Ferenczi, Klein, Fromm und
ihren Anhängern wurden Psychotherapeuten und Sozialwissenschaftler auf
Phänomene wie „Identifikation mit dem Angreifer“ oder
„Wiederholungszwang“ aufmerksam. Dieses sozialpsychologisch-kritische
Element birgt wegen seines immanenten Anspruchs, alles im Kontext von
Machtverhältnissen (der sachlich wahr, aber dennoch kontra-historisch
sein kann) zu interpretieren, ohne dass es zusätzlicher Hypothesen
bedarf, die Gefahr eines blinden Radikalismus in sich.
Es gibt eine
Leugnung der Faktizität von Ereignissen und Situationen als solchen,
ihrer ureigensten Beschaffenheit. So werden politische Gewalttaten – zum
Beispiel die Anschläge auf das World Trade Center, die russische
Invasion in der Ukraine oder die Ermordung von 1400 Israelis durch
Hamas-Milizen – lediglich als Teil eines größeren Gefüges betrachtet und
diskutiert, als ob sie selbst nichts aussagen oder bedeuten würden, als
handele es sich bei ihnen um die Fortsetzung einer anderen Gräueltat,
die bisher entweder nicht anerkannt oder nicht genügend wahrgenommen
wurde.
Wenn ein Patient sagt: „Ich habe meine Kinder geschlagen, weil
mein betrunkener Vater mich und meine Schwester ständig geschlagen hat“ –
ist das dann eine Erkenntnis? Oder umgeht er damit eine wahre Einsicht,
die die Verantwortung für seine Aggression mit sich brächte? Der
Patient verfügt offensichtlich über ein gewisses psychologisches
Verständnis seiner Unfähigkeit, seine Wut zu kontrollieren. Doch er hat
es in eine Ausrede verwandelt, er hat die trauma-zentrischen
psychologischen Erklärungsmuster in einen Legitimationsanspruch
pervertiert.
In der Politik entspricht dem die Reduktion jeder Situation auf das
System der Machtverhältnisse. Im Namen des moralischen und politischen
Versuchs, auf breiter Front (sogar historische) Gerechtigkeit walten zu
lassen, leugnet sie die phänomenale Faktizität schrecklicher
Geschehnisse. Dieser Ansatz ist nicht nur antitherapeutisch, sondern hat
oft geopolitische und strategische Blindheit zur Folge.
Wenn jede menschliche Interaktion auf Machtverhältnisse und Kontrollkämpfe reduziert wird, fällt es nicht schwer, einen mörderischen Terroranschlag als heroischen oder Empathie heischenden Akt der Befreiung oder De-Kolonisation zu betrachten, als legitimes Mittel im Kampf der Schwachen gegen die Starken.
Dies ist eine antihumanistische Denkweise, manche würden sie
als posthumanistisch bezeichnen. Im Kern beinhaltet sie, dass der Mensch
eine Fiktion ist und dass die humanistischen Werte, die das westliche
Denken und die moderne Kultur insgesamt geprägt haben, auf Lügen und
Täuschung basieren.
Der bloße Akt, über die Wahrheit zu sprechen, wird dann nicht nur als
antiintellektueller Akt, sondern auch als eindeutig unmoralisch
angesehen, da die Wahrheit und die sie konstituierenden
Wissensmechanismen nach dieser Logik nichts anderes als Werkzeuge der
Kontrolle und Unterdrückung sind, die von Menschen eingesetzt werden,
von den Mächtigen gegen die Schwachen. Deshalb müssen beide, die
Wahrheit und die Wissensmechanismen, bekämpft und abgeschafft werden.
Der Angriff auf das Erbe der Aufklärung und die universellen Werte der
Vernunft wird als große Befreiung vom reichen weißen Patriarchat und als
Entlarvung der Geschlechter-, Klassen- und Rasseninteressen
dargestellt, die die Kultur prägen und ein falsches Denken diktieren –
ein bedrückendes Bild der Realität. Und so widmen sich die
Wissensbereiche, die zuvor den menschlichen Geist studierten, nun seiner
Auflösung. Der grundlegende menschliche Durst nach Selbsterkenntnis
wird so durch ein neues kategorisches Gebot ersetzt: Dekonstruktion oder
lieber gleich Annullierung. Im Namen der Umweltreparation werden
Denkmale und Renaissance Gemälde beschmiert, und das Existenzrecht
Israel von Klimaaktivisten in Frage gestellt. An die Stelle der
Bedeutung tritt die Identität, an die Stelle des Werturteils das
ethische Urteil über seine politische Korrektheit.
Moralischer Sensibilität hingegen liegt die Fähigkeit zugrunde,
außerhalb der abgeschotteten Blase des ideologischen Resonanzbodens
wahrzunehmen und dem reinen Übel, sei es politischer oder
psychologischer Natur, nackt entgegenzutreten, ohne es entweder aufgrund
seiner Rolle in einem System von Machtverhältnissen oder aufgrund in
der Vergangenheit erlittener Traumata zu relativieren, welche Opfer zu
Tätern werden lassen, eine Sichtweise, die beide auf der gleichen
moralischen Ebene verortet.
Wie findet diese intellektuelle Haltung Widerhall im Antisemitismus?
Zugegebenermaßen hat Antisemitismus etwas Unheimliches an sich.
Unabhängig von seiner akribischsten historischen Darstellung und trotz
seiner tiefen Einschreibung in die Moderne beansprucht der
Antisemitismus immer wieder den Platz eines Phantoms oder einer Metapher
im Kopf, selbst wenn er einem unter die Nase gerieben wird; als wäre er
durch eine hartnäckige Gedächtnisstörung vom Bewusstsein abgeschirmt.
Mir kommen die Worte von Sigmund Freud in den Sinn, als er zum ersten
Mal vor der Akropolis stand: „Das alles existiert also wirklich, so wie
wir es in der Schule gelernt haben!“ (Freud, 1936) Antisemitismus
entgeht leicht dem Bewusstsein und nimmt eine traumähnliche Qualität an.
Seine Realität wird oft von Zweifeln begleitet oder kurzzeitig, am
besten im Nachhinein, als Relikt aus der Vergangenheit erkannt, ja als
etwas, das man „in der Schule gelernt“ hat.
Antisemitismus wird mit Spannungen und Feindseligkeiten zwischen Juden
und Christen in der Frühzeit, mit blutigen Anschlägen gegen jüdische
Gemeinden im Mittelalter und der frühen Neuzeit und mit dem Massenmord
an Juden durch die Nazis und ihre Helfer in Verbindung gebracht. Darüber
hinaus wird der Begriff verwendet, um Fälle sozialer Ausgrenzung, den
Gebrauch von Stereotypen oder Feindseligkeit gegen Juden durch Nachbarn
oder Mitarbeiter zu beschreiben, und seit einigen Jahrzenten auch im
Rahmen postkolonialer Debatten. Immer häufiger findet man Antisemitismus
im Zusammenhang mit der sogenannten „Cancel Culture“ und vor allem in
hitzigen Debatten über die Politik des Staates Israel oder gar über
seine Existenz selbst.
Kann ein Konzept, das so viele verschiedene raumzeitliche
Erscheinungsmuster aufweist, wirklich all diese Phänomene genau
beschreiben? Oder besteht nicht die Gefahr, dass Antisemitismus zu einem
logischen und intellektuellen „Staubsauger“ wird, der jede Form von
moralischem und politischem Diskurs in sich hineinschluckt, sobald er
angeschaltet wird?
In seinen in den 1950er und 1960er Jahren veröffentlichten Aufsätzen
behauptete der Historiker Jacob Talmon, dass die jüdische Geschichte
zugleich eine universelle und eine einzigartige Bedeutung habe und dass
die Juden an verschiedenen Punkten der Geschichte so etwas wie ein
Prüfstein seien. „Die marginalisierte Situation der Juden“, schrieb
Talmon, „macht sie zu einem exponierten Nerv von außergewöhnlicher
Sensibilität, ermöglicht es ihnen, als Pioniere zu agieren, macht sie
aber auch zu den ersten Opfern eines Sturms oder einer Katastrophe.“
Seiner Meinung nach ist es die Tatsache, „dass die Juden anders sind und
dass die anderen nicht bereit sind, ihre Existenz und ihre Rechte als
Selbstverständlichkeit zu akzeptieren“, welche die Angriffe auf sie und
eine „böse Reaktion“ provoziert.
Seit dem Erscheinen der Psychoanalyse in den Geistes- und
Sozialwissenschaften versuchen Psychoanalytiker und
Sozialwissenschaftler, dieser bösen Reaktion des Antisemiten und seinen
unbewussten psychischen Mechanismen auf die Spur zu kommen.
Das Wissen, dass Antisemitismus etwas mit Projektion zu tun hat, gehört
inzwischen fast zum Alltagsbewusstsein. Was aber beim Antisemitismus
projiziert wird, sind, meiner Meinung nach, nicht nur unbewusste und
verdrängte Triebregungen und Ängste, sondern auch die Fähigkeit zu
denken und zu fühlen. Durch projektive Identifikation wird nicht nur das
Unerträgliche am Ich abgespalten, es wird auch ein „state of mind“
gesucht, der es erlaubt, das Denken und die Schmerzen, die mit der
psychischen Realität einhergehen, zu evakuieren. So verwandelt sich eine
Feindschaft in eine konsistente Weltanschauung.
Für den Antisemiten verkörpert der Jude die Gefahr des Denkens und der
inneren Realität als unbestreitbare Bestandteile des Lebens. Es sei
dringend zu fordern, schrieb Adorno 1959, eine genaue und unverwässerte
Kenntnis der Freud’schen Theorie zu erlangen, damit die Grundlage
erkundet werden könne, die den Fremdenhass nähre, nämlich denselben
Hass, der sich auch gegen die Psychoanalyse richte. „Der Hass gegen sie
ist unmittelbar eins mit dem Antisemitismus, keineswegs bloß, weil Freud
Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen
Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt.“
Worin besteht eigentlich diese „kritische Selbstbesinnung“, wie Adorno sie bezeichnete, welche den Antisemiten in Weißglut versetzt?
Die Psychoanalyse befasst sich mit jenen Aspekten des
menschlichen Leidens und Unbehagens, die unseren Narzissmus am meisten
kränken. Es sind diejenigen Leiden, Begierden, Phantasien und Ängste,
die durch die Entdeckung des dynamischen Unbewussten eine grundsätzlich
neue Erklärung gefunden haben. Wenn es den Juden nicht mehr gäbe, besagt
die unbewusste Phantasie, dann gäbe es keine innere Realität, keine
psychische Wahrheit und manch andere Lebenstatsachen wie die
Abhängigkeit vom Guten Objekt, die Separation, die kindliche Sexualität,
die Schuld oder sogar den Tod.
„Der Antisemitismus“, sagte Marcel Proust, „trägt eine verrückt
gewordene Wahrheit in sich.“ Die Ironie in dieser Aussage besteht darin,
dass antisemitische Anfälle sehr oft tatsächlich mit epistemischen
Krisen und Panik über Unwissen aufbrechen. „Der Jude“, schrieb Otto
Fenichel in seinem berühmten Aufsatz über den Antisemitismus, „wird für
den Antisemiten unbewusst zugleich zu dem, gegen den er sich auflehnen
möchte, und zu den rebellischen Tendenzen in ihm selbst.“ „Ich gehe
ungern ins jüdische Museum“, hat mir vor Jahren ein Berliner Kollege
gesagt, „es ist mir zu aufdringlich.“ Er verstand nicht, warum ich ihn
lächelnd einen „semiotischen Antisemiten“ nannte.
Der Antisemit leidet an einer vorübergehenden oder dauernden
epistemischen Krise. Er versteht die Welt nicht mehr, was eigentlich
kein Problem sein sollte, wenn man die Welt als im Wesentlichen schwer
zu verstehen akzeptiert und auf infantile wahnhafte
Verschwörungstheorien verzichtet.
„Ich vermisse meine Psychose“, sagte mir vor kurzem ein junger Patient,
der vor einigen Jahren wegen eines akuten manisch-psychotischen Anfalls
stationär behandelt wurde. „Es war traumhaft, ich meine es ernst, nichts
in dieser Welt, weder das Studium noch die Liebe, erfüllt mich mit so
viel Kraft und Zuversicht, wie es damals die Psychose getan hat. Wenn du
verrückt bist, fühlst du dich an dein inneres Kind gebunden, zugleich
aber bist unheimlich stark. Kindlich und stark. So eine Kombination
verspricht mir nur die Psychose.“
Bietet die Aussage meines Patienten einen Schlüssel zum Verständnis
mancher politischen Phänomene und sozialen Gewaltformen, die an Wahn
grenzen?
Die Sehnsucht nach dem infantilen Allmachtsgefühl erkennen wir auch in
den Träumen und Phantasien des normalen Neurotikers. Ich schlage vor,
dass Antisemitismus über seinen unmittelbaren gesellschaftspolitischen
Kontext hinaus als archaisches, transhistorisches Vehikel interpoliert
werden könnte, durch das sich das Unbewusste dem Subjekt offenbart. Für
den Antisemiten glänzt der Jude wie ein bizarres Objekt seiner
Phantasie. Das kann auch dazu führen, dass sich der Jude in seinen Augen
aus nicht ganz vorhersehbaren Gründen von einem bevorzugten und
vertrauten Hassobjekt zum Objekt der Idealisierung transformiert. Meine
Mitteilung ist, wenn Sie so wollen, ein Plädoyer für eine Unterscheidung
zwischen zeitgenössischen organisierten politischen Formen des
Antisemitismus und Antisemitismus als einem vorübergehenden
Geisteszustand, einer Sprache, die sich bei Einzelpersonen und Gruppen
etabliert und einem direkten, lebhaften, wenn auch pervertierten
Ausleben der psychischen Realität und des primären Denkvorgangs dient.
Deutlich wurde diese opportunistische und omnipotente Haltung in
dem berühmten zynischen Ausspruch des Wiener Oberbürgermeisters Karl
Lueger: „Wer Jud ist, das bestimme ich.“
Wir kennen im Wesentlichen zwei Arten der Abwehr von
psychischem Schmerz: zum einen die Spaltung des eigenen Selbst, welche
die Projektion von Teilen des Selbst und unerträglichem psychischen
Material auf eine andere Person ermöglicht, die daraufhin zum Objekt des
Hasses oder der Idealisierung wird – sei es im Rassismus,
Antisemitismus oder beim Personenkult um einen Anführer –, und zum
anderen den Prozess, dass das Selbst sich gegen sich selbst richtet und
das innere Objekt sowie das Denk- und Empfindungsvermögen angreift.
Beide Mechanismen erkennt man nicht nur in der analytischen Praxis,
sondern auch im Politischen, in der Wissenschaft und in der
Kultur.
Der Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Demokratie ist eher komplex.
Die Psychoanalyse provoziert die direkte Auseinandersetzung mit
unbewussten Wünschen und in der menschlichen Seele verwurzelten
Phantasien, die undemokratische Begierden fördern, also solche, die
faschistische oder autokratische Herrschaftsformen zu verstärken und
auszunützen wissen. Beispielsweise die Sehnsucht nach Verschmelzung mit
dem Ich-Ideal, die Angst vor dem Anderen, die Angst vor Trauerarbeit,
die Bevorzugung gewalttätigen Handelns vor dem Denken oder der
unbedingte Verzicht auf Reue und Gewissensbisse.
Um sich in das Rezeptionsmuster eines Subjekts
hineinzuversetzen und es zu verstehen, muss man, wie uns die
psychoanalytische Praxis lehrt, zum realen Objekt in der Welt dieses
Subjekts werden. Während sich der Therapeut mit psychischen Phänomenen
auseinandersetzt und selbst zum Übertragungsobjekt wird, beachtet er
beide Dimensionen: sowohl die intrapsychische als auch die
intersubjektive Dimension der Begegnung mit dem Anderen. Dasselbe gilt
auch für die Betrachtung sozialer Phänomene und gegenwärtigen politische
Handlungen, denen man nicht wie im Bild vom „Schiffbruch mit Zuschauer“
begegnen soll. Wenn wir unsere emotionalen Reaktionen auf eine
bestimmte soziale Handlung näher untersuchen, kann das zum besseren
Verständnis der verborgenen kommunikativen Bedeutungen dieser Handlung
beitragen. In diesem Zusammenhang sollen der Aufruf von Axel Honneth,
die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie in die Sozialforschung zu
integrieren, und die tiefenhermeneutische Kulturanalyse von Alfred
Lorenzer nicht unerwähnt bleiben. Lorenzer hat das Konzept des
„szenischen Verstehens“ in der psychoanalytischen Sozialforschung
entwickelt und in der Analyse der Gegenübertragung den großen Nutzen der
Psychoanalyse für die anthropologische Forschung erkannt.
Vor vielen Jahren schlug ich einem deutschen Universitätsprofessor vor,
gemeinsam eine Arbeit bei einer englischsprachigen medizinischen
Fachzeitschrift einzureichen. „Probieren Sie es einfach“, sagte
Professor B. mit einem verführerischen Lächeln, „ich weiß, dass meine
Arbeiten keine Chance haben, in dieser Zeitschrift veröffentlicht zu
werden. Wissen Sie, diese englischsprachigen Zeitschriften sind alle in
jüdischer Hand.“ Ich erinnere mich, dass ich eine verblüffende Mischung
aus Stolz und Ekel verspürt habe.
Gilt die unangebrachte Selbstauskunft des Professors als „gutes altes“
antisemitisches Vorurteil (getarnt als Schmeichelei gegenüber einem
jüdischen Studenten)? Oder war es eine mimetische Geste, ein
archetypisches „Rollenspiel“ zwischen zwei „Über-Ichs“ – dem eines
deutschen Professors und dem eines jüdisch-israelischen Studenten?
Ich dachte intersubjektiv an meinen Alma-Mater-Vorfall: Ich, eine Art
„wandernder Jude“, sollte die verrückten Seiten des Professors
eindämmen, ihn aber gleichzeitig von seinem autoritären Über-Ich
„freisprechen“, indem ich ihm eine Art pervertierte Nähe mit meinem
(jüdischen) Über-Ich anbiete, von dem er sich vielleicht vorgestellt
hat, es sei flexibler als sein eigenes. Damit dies geschehen konnte,
musste Professor B eine Grenze überschreiten – eine Grenze, die ihn
unter Umständen seine Karriere hätte kosten können – und sich auf das
Minenfeld namens „Antisemitismus“ begeben. Der Inhalt der
„Grenzverletzung“ des Professors war rassistisch und politisch, aber ich
vermute, dass eine ähnliche Dynamik eine Studentin zur Zielscheibe
einer sexistischen Bemerkung gemacht haben könnte (ich hätte diesen
Aufsatz beinahe „die Verführung des Antisemitismus“ genannt).
Bei Patienten, die zuweilen von einem „faschistischen
Geisteszustand“ (fascist state of mind) beherrscht sind, wie es
Christopher Bollas (1992) nannte, vernichtet der psychische Apparat
Teile des Selbst und verinnerlichte Objektteile. Archaische mentale
Funktionsweisen, pervertierte oder psychotische Strukturen können die
Fähigkeit behindern, Zweifel und Ungewissheit auszuhalten und zu
transformieren sowie zu denken und zu fühlen. Dieses Wissen beschränkt
sich, wie erwähnt, nicht nur auf die analytische Praxis. Gesellschaften
und Gruppen können einen Zustand erreichen, in dem sie ein
paranoid-schizoides Verhalten an den Tag legen und eine
narzisstisch-charismatische Führung bevorzugen, die die Verleugnung
ganzer Teile der inneren und äußeren Realität fördert – bis hin zur
Selbstzerstörung. In der totalitären Gesellschaft verzichten die
Menschen auf eigenständiges Denken und verschließen „freiwillig“ die
Augen vor der Realität. Sie verweigern sich dem Wissen auch dort, wo es
ihnen zugänglich ist. In einer demokratischen Gesellschaft ist die
Unterscheidung zwischen Vorurteil und Lebenstatsache bedeutsam („facts
of life“ , Money-Kyrle, 1971). Lebenstatsachen bestehen nicht nur aus
bewiesenem Wissen, das von der Wissenschaft als objektive Wahrheit
anerkannt wird, sondern auch aus psychologischem Wissen, das sich weder
quantifizieren noch messen lässt und dennoch als Wahrheit gilt, Wissen,
das die objektive und subjektive Dimension der menschlichen Erfahrung
miteinander verbindet und zu dessen Gewinnung die Psychoanalyse einiges
beigesteuert hat. In diesem Geiste betrachten wir als Psychoanalytiker
die Bedeutung von Reue, Scham und Schuld und die Fähigkeit zu trauern
als Vorbedingung für psychische Entwicklung, Wahrheitsliebe und
Reparation.
In unserer Zeit sollten antisemitische Vorurteile und
Antisemitismus-Erfahrungen der dritten Generation nach dem Holocaust
Signalfunktion für das Gemeinwesen der zivilisierten Gesellschaft
erlangen. Sie halten der Gesellschaft einen Spiegel vor und zwingen sie,
sich mit der Allgegenwärtigkeit unbewusster Sehnsüchte und regressiver
Tendenzen auseinanderzusetzen, einer Tatsache des Lebens, die unsere
Kultur immer bereit ist zu leugnen.
Denken Sie noch einmal an Professor B.: Es ist fast so, als mache er sich einem Studenten gegenüber eine alte rassistische Hasskommunikation zunutze, transformiere sie aber vorher in eine bagatellisierbare Unterstellung (in Bezug auf die jüdische Kontrolle über die besseren medizinischen Zeitschriften), um zwei Tatsachen des Lebens anzuerkennen: 1. dass Kinder von ihren Eltern abhängig sind und nicht umgekehrt. Ein Student, egal ob Jude oder Nichtjude, ist in seiner akademischen Laufbahn auf seinen Mentor angewiesen und nicht umgekehrt. Und 2. dass er selbst als Universitätsprofessor nicht allmächtig ist und sich von Zeit zu Zeit unzulänglich und von einem symbolischen Vater abgelehnt fühlt. Vielleicht fühlt er sich gelegentlich sogar einem Studenten unterlegen, aber das hat nichts mit der ethnischen Identität des Studenten zu tun. Anscheinend akzeptierte Professor B. diese Wahrheiten, aber nur mithilfe von Selbsthass, Idealisierung und Verallgemeinerung. Der Rassist richtet aus imaginierter Superiorität heraus seinen Blick „nach unten“. Der Antisemit wiederum schaut aus nicht eingestandener Unterlegenheit „nach oben“.
Die Psychoanalyse hat gegenüber anderen Psychotherapien an
Boden verloren, aber die Fähigkeit des Analytikers, Projektionen,
Verachtung und Aggression zu ertragen und zu deuten, sowie seine
Fähigkeit zu Containment und zum „Denken unter Beschuss“ sind noch immer
eine soziale Funktion und eine Voraussetzung für die Durchführung einer
sinnvollen und transformativen Analyse, wie sie es zu Beginn der
psychoanalytischen Revolution war. Normalerweise denken wir über diese
Fähigkeiten in psychologisch-entwicklungsbezogenen Begriffen nach, wir
betrachten sie entweder als „mütterliche“ oder „väterliche“ Funktionen.
Manchmal betrachte ich die Begegnung mit meinen Patienten mithilfe
historischer Tropen. Die Arbeit mit manchen Patienten ist vergleichbar
mit der Fähigkeit, Antisemitismus zu widerstehen.
Nur durch die Hinwendung zu seinem Inneren kann der Mensch Werte
etablieren und seine Welt neu erschaffen; nur ein Erkennen der Konflikte
und Widersprüche der inneren Realität und der unbewussten Phantasie,
eine direkte Beobachtung des dunklen, wilden und gefährlichen Abgrunds,
der in der Natur und im Wesen seines rätselhaften Lebens in dieser Welt
liegt, kann den Menschen dazu inspirieren, sich selbst zu überwinden und
Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Es ist unmöglich, den
Schatten des Unbewussten zu ignorieren oder ihn im Namen eines Dekrets
politischer Korrektheit oder Moral zu „annullieren“, das scheinbar dazu
dient, äußere Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Ohne innere Reparation
gibt es keine äußere Wiedergutmachung, ohne sie wird lediglich eine
Kraft durch eine andere ersetzt.
Als transhistorisches Phänomen stellt uns der Antisemitismus ständig vor
neue Fragen moralischer und epistemischer Natur. Der Hass auf Juden
unterlag vielen historischen Veränderungen, ist aber im Grunde der
gleichen unbewussten Phantasie treu geblieben: das Rätselhafte an den
Menschen und an dieser Welt auszurotten. Die Tatsache, dass diese
Hassform wieder in unserem Leben präsent ist, bedeutet nicht nur eine
nicht zu unterschätzende Gefahr für jüdische Mitbürgerinnen und
Mitbürger. Sie zeigt auch an, dass der Mensch immer noch imstande ist,
seine eigene Humanität in Frage zu stellen.
Wer das Böse und Grausame überstürzt in eine psychologische oder strategisch-politische Perspektive rückt, wer sich beeilt, das Unergründliche loszuwerden, indem er es in relationale und kritische Kontexte stellt, hat seine Menschlichkeit im Wirrwarr von Ideologie und scheinheiligem Psychologismus verloren.