Was haben Sanna Marin, Anna-Lena Baerbock, und die Europawahl-Spitzenkandidatin der österreichischen Grünen Lena Schilling gemeinsam? Was wie eine schlechte Scherzfrage klingt, verdient eine durchaus ernste Antwort: Alle drei sind Politikerinnen. Und alle drei mussten sich jüngster Zeit gefallen lassen, dass politisch völlig irrelevante Aspekte ihres Privatlebens in augenscheinlich sorgfältig orchestrierten Medienkampagnen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer beruflichen Laufbahn wurden. Die Affäre Schilling ist weit mehr als eine bizarre Randerscheinung des österreichischen Europawahlkampfes. Einmal mehr zeigt sich, wie nationale Medien auf europäischer und internationaler Ebene Politik machen – und wie sehr systemische Misogynie noch immer zu den Grundfesten unseres politischen Systems gehört.
Die österreichische Tageszeitung
Der Standard veranstaltet seit einigen Wochen eine
regelrechte Kampagne gegen die Grüne Europawahl-Spitzenkandidatin Lena
Schilling; seit Kurzem beteiligt sich nun auch der
Spiegel, jenes deutsche Qualitätsmedium, das sich
schon maßgeblich an Bemühungen beteiligt hatte, Anna-Lena Baerbock in
den politischen Ruin zu schreiben. Der Titel “Wie Österreichs Grüne sich
selbst und ihre Spitzenkandidatin zerlegen” ist ganz offensichtlich
hoffnungsfrohes Programm der Berichterstattung; auch der irreführende
Subtitel “Lena Schilling will für die österreichischen Grünen ins
EU-Parlament. Vorwürfe von Lügen und Gewalt überschatten diesen
Plan.” Hätte Lena Schilling nicht gerade ganz andere Schlachten zu
schlagen, läge rein darin bereits der Grund für eine Beleidigungsklage,
ist doch – zumindest im Zivilrecht – einer zweideutigen Aussage immer
der negativste Gehalt beizulegen. Auch die Kommunikationstheorie geht
davon aus, dass die Ursachen von Misskommunikation primär auf Seite der
Sendenden zu suchen sind. Und diejenige Leserin, die nicht bereits mit
der Affäre Schilling vertraut ist, wird hier schon im Vorfeld den
Eindruck gewinnen, dass Schilling selbst vorgeworfen werde, gelogen und
Gewalt ausgeübt zu haben. Dass der Artikel das selbst geschaffene
Missverständnis auch wieder aufklärt, ist hier nur bedingt von
Bedeutung, haben doch psychologische Experimente wieder und wieder
gezeigt, wie sehr der Ersteindruck jede weitere Information färbt, die
man über eine Person erhält.
Dass die Demontage der Grünen Spitzenkandidatin allerdings
nicht der eigenen Partei sondern vielmehr den Mainstream-Medien ein
besonderes Anliegen ist, wird in jedem Absatz des Spiegel-Artikels deutlich. Im
Fall Lena Schilling gibt es kaum gesicherte Fakten, wohl aber viele
Meinungen; mehr als sonst gilt also hier: der Ton der Berichterstattung
macht die Musik. Und dieser Ton ist in hohem Maße besorgniserregend: von
einem “»Gossip-Girl-Skandal« im Graubereich zwischen Privatem und
Politischem” liest man im Spiegel, von “einer
Mischung aus »Telenovela und ›House of Cards‹ für Arme«”. In einer
Zwischenüberschrift wird Schilling als “Lügen-Lena” apostrophiert.
Alles, wie man sich hervorzuheben beeilt, nicht die Formulierung des
Spiegel selbst; es handle sich ja lediglich um
Zitate aus der österreichischen Presse. Allein: die Auswahl dieser
Zitate hat der Spiegel wohl selbst zu verantworten.
Das Alignment mit deren Aussage- und Wertungsgehalt – bereichert um die
vermeintliche Legitimation durch den Ursprung im Heimatland des
Schilling-Skandals – ist offensichtlich.
Auch an anderer Stelle geht man in der Selektion ähnlich subtil
vor: aus der rhetorisch ungeschickten aber menschlich und politisch
unanfechtbaren Unterstützungserklärung des Parteivorsitzenden Kogler
wird just jener Teil zitiert, der das höchste Maß an sprachlicher
Uneleganz mit dem geringsten Aussagegehalt vereint. Interessant auch die
Präsentation unterschiedlicher Meinungen aus den Reihen Schillings
eigener Partei: zwei knappe Zeilen widmet man Sybille Hamanns Vermutung,
dass institutionelle Misogynie etwas mit der Causa zu tun haben könnte,
um sie im nächsten Absatz und ohne weitere Begründung sogleich als
“etwas zu simpel” abzutun. Im Gedächtnis der Leserin bleibt der Umstand,
dass die zitierte Vertreterin der Gegenmeinung Anneliese Rohrer
kürzlich für ihr Lebenswerk geehrt wurde. Dass nicht erwähnt wird, dass
Hamann – von der altersbedingt noch nicht erfolgten Prämierung für das
journalistische Lebenswerk abgesehen – für ihr Werk weitgehend dieselben
Auszeichnungen wie Rohrer erhalten hat, ist sicherlich rein dem Zufall
und dem Bemühen um prägnante Kürze in der Berichterstattung geschuldet.
Unterfüttert wird all dies auch durch die vom
Spiegel selbst gewählte Terminologie: von einer
“Politaufsteigerin” und “charismatischen Quereinsteigerin” ist da die
Rede, die “das Rollenprofil jung, schlau, Frau und widerständig perfekt
zu erfüllen schien” (meine Hervorhebung);
erwähnenswert ist auch Schillings Bühnenerfahrung als Tänzerin, nicht
aber ihr politischer Lebenslauf.
Dankenswerter Weise streicht aber selbst der
Spiegel hervor, wie tendenziös schon die
ursprüngliche Berichterstattung über die Causa Schilling war, die am 9.
Mai dieses Jahres von der österreichischen Tageszeitung Der
Standard losgetreten worden war: Kritik an Schilling habe es
auch und vor allem aus den eigenen Reihen gegeben, heißt es da. Und
gerade mit “Dutzenden” dieser Kritiker:innen habe der
Standard gesprochen, bevor der Artikel erschien,
der den Stein ins Rollen brachte. Dass man auch Dutzende
Unterstützer:innen Lena Schillings kontaktiert habe, um den Leser:innen
ein ausgewogenes Bild zu bieten, ist der Berichterstattung hingegen
nicht zu entnehmen – gerade in einem medialen Klima, das sich bei jeder
auch noch so unpassenden Gelegenheit einem demokratiepolitisch höchst
bedenklichen Both-side-ism verschreiben hat, überrascht dies – oder etwa
nicht?
Sehen wir uns die Vorwürfe gegen Schilling einmal genauer an:
Die Grüne Spitzenkandidatin habe in private Rahmen geäußert, dass
Veronika Bohrn Mena Opfer häuslicher Gewalt geworden sei. Wie viele
andere vor ihr wurde sie daraufhin vom Ehepaar Bohrn Mena geklagt;
freiwillig erklärte sie sich daraufhin bereit, im Rahmen eines
gerichtlichen Vergleichs eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben.
Lena Schillings Äußerung – deren Wahrheitsgehalt noch nicht abschließend
feststeht – war sicherlich indiskret und, gemessen an den Maßstäben des
EU-Wahlkampfes, undiplomatisch. Dass das Gerücht über das Eheleben der
Bohrn Menas einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wurde, ist aber
mitnichten Schilling anzulasten – publik im eigentlichen Sinne machte es
immerhin erst die Berichterstattung des Standard.
Umso überraschender ist, dass das Ehepaar nunmehr Klage gegen Schilling
erhoben hat, nicht aber gegen jene Medien, welche die geäußerten
Vorwürfe einem breiten Publikum zugänglich machten – nach
österreichischem Recht wäre dies ebenso möglich: rechtlich zur
Verantwortung gezogen werden kann schlussendlich nicht nur diejenige,
die ein Gerücht in die Welt setzt, sondern auch diejenige, die es
weiterverbreitet.
Ihr Privatleben den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit zu
entziehen scheint den Bohrn Menas aber gerade kein besonderes Anliegen
zu sein, hätte man es diesfalls doch bei der bereits von Schilling
unterzeichneten Unterlassungserklärung bewenden lassen können. Alles
andere ist eine bewusste Herbeiführung des altbekannten
Barbara-Streisand-Effekts: erst durch das öffentliche Dementi wird der
vermeintlich geheimzuhaltende Sachverhalt der Öffentlichkeit bekannt.
Sebastian Bohrn Mena scheint dies aber mittlerweile wenig zu stören –
schließlich teilte er den fraglichen Standard-Artikel auf Instagram. Das
Gerichtsverfahren gegen Schilling wird für Connaisseure des
Beleidigungsrechts noch spannend: Das österreichische Zivilrecht sieht
vor, dass dort Schadenersatz zuzuerkennen ist, wo die Klägerin durch
eine unwahre Tatsachenbehauptung einen finanziellen Schaden oder
Gewinnentgang erfahren hat, wozu im allgemeinen auch der– finanziell nur
schlecht bemessbare – politische Imageverlust zu zählen ist. Wie damit
umzugehen sein wird, dass der klagenden Partei, deren Image in den
österreichischen Medien ansonsten wahrhaft kein unbeflecktes ist, durch
eine unwahre Tatsachenbehauptung schlussendlich den Gewinn einer
geradezu überschäumend wohlwollenden medialen Berichterstattung und
einer ansonsten kaum zu erreichenden Medienpräsenz zugefallen ist, wird
noch abzuwarten sein.
Dass sich Sebastian Bohrn Mena unangenehm berührt fühlt, wenn
ihm eine Bekannte unterstellt, er habe seine Frau geschlagen, ist
freilich nachvollziehbar. Nachvollziehbar ist aber auch die Erklärung
Schillings, dass sie sich um ihre Freundin Veronika Bohrn Mena Sorgen
gemacht habe. Vorwürfe wie jene, die Lena Schilling in einem privaten
Chat gegen Sebastian Bohrn Mena erhoben hat, sind für Außenstehende
schwer verifizierbar: häusliche Gewalt ist oft von außen kaum sichtbar
und kommt in allen gesellschaftlichen Kreisen vor; dass Betroffene nicht
offen darüber reden oder die Täter:innen sogar aktiv schützen ebenso.
Ist es Lena Schilling also wirklich anzulasten, dass sie sich aus Sorge
über ihre Freundin anderen anvertraut und deren Rat gesucht hat?
Bedenklich ist vor allem der Zynismus, mit welchem eine solche Erklärung
als naiv und unglaubwürdig von der Hand gewiesen wird. Wieso
eigentlich? Erlauben Sie mir, Sie zu einem Gedankenexperiment zu
verleiten: Sie beobachten, dass sich eine gute Freundin immer mehr von
Ihnen zurückzieht. Sie haben den Eindruck, dass sie eheliche Probleme
hat, über die sie sich nicht zu sprechen traut; sie vermuten, dass der
Mann ihrer Freundin diese schlägt. Sie könnten nun die Schultern zucken
und die Sache ignorieren. Das tun Sie aber nicht: Sie sind ein
anständiger Mensch, und Ihre Freundin liegt Ihnen am Herzen;
gleichzeitig sind Sie aber auch ein wenig ratlos. Einerseits ist es
natürlich die Privatangelegenheit Ihrer Freundin; andererseits haben sie
die breit angelegte Kampagne zur Prävention von Femiziden mitverfolgt,
sind sensibilisiert für die Thematik häuslicher Gewalt gegen Frauen,
wollen sich nicht nachträglich Vorwürfe machen müssen, dass Sie wohl
etwas vermutet, aber nicht gehandelt hätten. Zur Polizei zu gehen
scheint Ihnen nicht ratsam – schließlich haben Sie ja keine Beweise,
sondern lediglich Ihr Bauchgefühl; also suchen Sie Rat im Freundeskreis.
Dass Sie sich Probleme mit den Betroffenen einhandeln können, wenn Sie
sich irren, ist Ihnen vage bewusst; was aber andererseits, wenn Sie sich
nicht irren? Wiegen die Unannehmlichkeiten, die Ihnen im Fall eines
Irrtums drohen könnten, nicht weit weniger schwer als die Gefahr, in der
Ihre Freundin möglicherweise schwebt? Wäre Lena Schilling Sekretärin,
Verkäuferin, Frisörin, Büroangestellte – man fände ihre Handlungen nicht
nur nachvollziehbar und entschuldbar, sondern nachgerade sympathisch:
ein Akt fehlgeleiteter Zivilcourage, aber Zivilcourage immerhin,
getragen von einem Übermaß an Empathie und einem Quäntchen
Unerfahrenheit.
Da Lena Schilling nun aber Politikerin ist, und
Politiker:innen, wie allgemein bekannt, weder menschliche Regungen noch
lautere Absichten und schon überhaupt kein Privatleben haben dürfen, ist
es Aufgabe der Medien, das politische Kalkül ihrer Handlungen und deren
Auswirkungen auf ihre berufliche Karriere zu ermitteln, sie in den
Kontext der nahenden Europawahl und der politischen Reputation ihrer
Partei zu stellen. Dass dies nicht wohlwollend geschehen darf, versteht
sich von selbst: nur kritischer Journalismus ist guter Journalismus;
wirklich konstruktive Kritik ist jene, die aus jedem noch so banalem
Tatsachensubstrat die weitreichendsten Querverbindungen zu politischen
Fehltritten der Vergangenheit zu konstruieren vermag. Der Kreativität
sind hier keine Grenzen gesetzt, schon garnicht jene der Logik und
Verhältnismäßigkeit. So verwundert es auch kaum, dass der
Spiegel die Handlungen Schillings mit der
Ibiza-Affäre in Verbindung bringt: Damals hatte ein führender Politiker
versucht, mittels Kontakten zu russischen Oligarch:innen die
auflagenstärkste Tageszeitung des Landes unter die inhaltliche Kontrolle
seiner Partei zu bringen. Heute erhebt eine junge Frau private Vorwürfe
gegen einen einflussreichen Umwelt-Aktivisten. Ersteres hat
weitreichende Konsequenzen für die demokratische Meinungsbildung im
eigenen Land und unterwandert die innenpolitische Souveränität
Österreichs; zweiteres hat Auswirkungen auf das persönliche Image Bohrn
Menas. Die Parallelen liegen also klar auf der Hand – zumindest für den
Spiegel. Ähnlich subtil die Vergleiche, die der
Standard bringt: hoffnungsfroh erinnert man an
jenes politische Erdbeben 2017, als Peter Pilz die Grünen verließ und
die gesamte Jugendorganisation der Grünen geschlossen zurücktrat, um
ihren Protest gegen die damalige Parteivorsitzende Eva Glawischnig
auszudrücken. Man sieht also, wohin die Reise gehen soll, wenn es nach
dem Standard geht.
Werfen wir aber zuerst einen kurzen Blick auf deren
Ausgangspunkt: einem Artikel im Standard Anfang
Mai, in welchem berichtet wurde, dass die Grüne Spitzenkandidatin sich
am 12. April in einer Unterlassungserklärung verpflichtet habe
(wohlgemerkt: im Rahmen eines Vergleichs, nicht aufgrund eines
Gerichtsurteils!), künftig nicht mehr zu behaupten, dass eine ihrer
Freundinnen Opfer häuslicher Gewalt geworden wäre. Dies machte der
Standard zum Ankerpunkt, weitere Beispiele für Lena
Schillings „problematischen Umgang mit der Wahrheit“ zu thematisieren.
Bezeichnend ist, dass der Standard nach eigenen
Angaben bereits Wochen vor der Veröffentlichung begonnen hatte,
„ergebnisoffen“ über die Grüne Spitzenkandidatin zu recherchieren. Denn,
so heißt es weiter, “beide Varianten wären politisch relevant: sowohl
eine orchestrierte Verleumdung von Schilling durch ihr früheres enges
Umfeld als auch eine Spitzenkandidatin, die problematische
Verhaltensmuster an den Tag legt.” Bemerkenswert ist hier vor allem jene
dritte Variante, die der Text nicht erwähnt: diejenige einer von
politischen Gegnern losgetretenen Hetzkampagne gegen die Grüne
Spitzenkandidatin. Vielmehr bemüht sich der
Standard, erstere Vermutung zu entkräften: Man habe
mit fünfzig Leuten gesprochen, „fast einhellig“ attestiere man
Schilling einen Hang zu Klatsch und Tratsch im Freundeskreis, und ein
Auge für den eigenen beruflichen Vorteil im Umgang mit Kolleg:innen. Wie
sehr dies die Leserin zu überraschen hat, bleibt dahingestellt: eine
gewisse Flexibilität im Umgang mit Fakten und die Fähigkeit, anderen die
eigene Sichtweise schmackhaft zu machen, sind einer politischen
Karriere gemeinhin nicht völlig abträglich.
Dass die Vorwürfe, die der Standard gegen
Schilling erhebt, nicht von jener Tragweite sind, die man ihnen gerne
beimessen möchte, sucht der Text mit Superlativen zu kaschieren: die
Unterlassungserklärung im Fall Bohrn Mena sei lediglich „die Spitze des
Eisbergs“, zitiert man Kritiker:innen Schillings; die junge Politikerin
habe vielerorts „verbrannte Erde“ hinterlassen. Das Tatsachensubstrat,
in dem diese Metaphern wurzeln, bleibt der Leserin verborgen: lediglich,
dass Schilling „viele Manschen verärgert oder verletzt, einige sogar in
existenzbedrohende Schwierigkeiten gebracht“ habe, erfährt man. Dass
ersteres im Kontext einer Polit-Karriere überhaupt erwähnenswert
erscheint, überrascht ebenso wie der Umstand, dass zweiteres nicht näher
ausgeführt wird: wenn die junge Politikerin tatsächlich mehrere
Personen in ihrer Existenz bedroht haben sollte, hätte die
wahlberechtigte Öffentlichkeit doch ein begründetes Interesse daran,
darüber genauer aufgeklärt zu werden.
Was sich Lena Schilling laut Standard zu
Schulden kommen lassen haben soll, bleibt jedenfalls weit hinter
„existenzbedrohend“ zurück: Außenstehende behaupten, Schilling habe
einem Journalisten vorgeworfen, sie belästigt zu haben; dieser habe die
Vorwürfe seinem Arbeitgeber gegenüber sofort entkräften können. Einem
anderen Journalisten habe sie Affären mit Grünen Politikerinnen
angedichtet; dass dies seine Karriere auch nur im Geringsten tangiert
habe, behauptet der Standard nicht einmal. Mit
Erstaunen stellt man fest, dass der Standard auch
daraus einen Vorwurf zu konstruieren versucht, dass Lena Schilling bei
einer Party im Wiener U4 von ihrem Parteikollegen Stammer belästigt
worden und in weiterer Folge von einem Journalisten beschützt worden
sei, den Stammer daraufhin tätlich angegriffen habe. Schilling habe
Stammer zuvor den ganzen Abend lang unfreundlich behandelt, liest man –
man möchte dem Standard beinahe victim
blaming auf unterstem Niveau vorwerfen, würde man nicht
darüber aufgeklärt, dass das eigentlich Problematische an der
Angelegenheit sei, dass man Schillings Namen nicht sofort offengelegt
habe. Von ähnlicher Gravität auch der letzte Vorwurf: Schilling habe in
ihrer Funktion als Jugendführerin das Vertrauen Jüngerer dazu genutzt,
ihre eigene politische Karriere zu fördern. Die unmittelbar Betroffenen
schweigen; der Standard beeilt sich aber zu
versichern, vertrauenswürdige Quellen gesprochen zu haben, welche
allesamt nicht genannt zu werden wünschen.
Ob man mit ähnlich gründlichen Recherchen im privaten und
beruflichen Umfeld der Spitzenkandidat:innen der anderen Parteien nicht
ähnlich Skandalöses zu Tage fördern hätte können, sei dahingestellt;
etwaiges Fehlverhalten der anderen rechtfertigt ja nicht das etwaige
Fehlverhalten Schillings. Ebenso dahingestellt lässt der
Standard aber die Frage, warum man gerade die
Spitzenkandidatin der Grünen derartig ins Visier genommen hat: Man
berichte ganz einfach die Fakten, beteuert man seitens der Tageszeitung.
Schlussendlich habe man auch über die strafrechtlich relevanten
Vorwürfe berichtet, die Vilimsky in der Spesenaffäre gemacht würden,
ebenso darüber, dass Lopatka an einer rechtsextremen Demonstration
teilgenommen haben soll. Beinahe rührend der Nachsatz: Politiker:innen
hätten höheren charakterlichen Maßstäben zu genügen als
Normalsterbliche, heißt es da sinngemäß; schlussendlich hätten sie ja
moralische Vorbildwirkung. Dass ein Medium, welches seit Jahrzehnten
investigativen Journalismus betreibt, noch an dieses Postulat zu glauben
vorgibt, erreicht ein Maß an Scheinheiligkeit, das selbst geübte
Politiker:innen nur selten herankommen. Ob der
Standard gerade deswegen meint, jene moralischen
und charakterlichen Standards festlegen zu können, welchen die Politik
ab sofort zu genügen hat, bleibt offen. Genauso wenig erfährt man,
weshalb es wünschenswert sein sollte, dass Politiker:innen (als
hoffentlich einzige Berufsgruppe!) an ihrem privaten Verhalten anstatt
ihrer beruflichen Kompetenz gemessen werden. Aber zumindest kann sich
die Leserin nun in einer Hinsicht beruhigt zurücklehnen: im
Umkehrschluss ist davon auszugehen, dass es über Schillings Kompetenz in
Fragen des Umweltschutzes und der Europapolitik nichts Negatives zu
berichten gibt.
Mittlerweile ist aber wohl auch dem
Standard bewusst geworden, dass ein anständiger
Polit-Skandal zumindest ein Mindestmaß an Politik erfordert. Und so wird
Lena Schilling seit dem 21. Mai vorgeworfen, sie habe darüber
nachgedacht, nach der Europawahl zur Linksfraktion zu wechseln. Sowohl
Schilling als auch die Grünen dementieren diese Gerüchte; selbst ein
SPÖ-Funktionär leistet
Schützenhilfe, indem er bezeugt, dass diese Idee lediglich scherzhaft
von anderen in den Raum gestellt worden sei. Der
Standard beruft sich auf „andere Gespräche“, auf eine
„eidesstattliche Erklärung“ nicht näher ausgeführten Inhalts, und auf
einige kontextbefreite Chat-Nachrichten, aus denen das Behauptete just
nicht hervorgeht. Als weiterer Beweis wird ein Bericht des
Spiegel zitiert, der sicherlich nur rein zufällig
von einem der Ko-Autoren des Standard-Artikels stammt; wo die Beweislage dünn
ist, muss man eben selbst Hand an die Tastatur legen.
Dass Schilling sich nicht untadelig verhalten hat, scheint
offenkundig, auch wenn ihre Fehler in ihrer moralischen und menschlichen
Tragweite wohl weit hinter jenen zurückbleiben, welche der
Standard als Vergleichswerte ins Spiel bringt. Das
Narrativ, das man mit ein wenig Wohlwollen und Fingerspitzengefühl
konstruieren hätte können, hätte auch ganz anders aussehen können:
Anstatt die augenfällige Naivität und Ungeschicklichkeit Schillings zum
Kritikpunkt zu erheben, hätte man sie sich als positiv konnotiertes
Alleinstellungsmerkmal hervorstreichen können: die Grünen als jene
Partei, die selbst dort Kritik zulässt, wo es dem eigenen Geldbeutel
schadet; die Enthusiasmus und Zivilcourage auch dort anerkennt, wo
einmal versehentlich über das Ziel hinausgeschossen wird; die Fehler
zulässt, weil man eben nicht nur erfahrene Polit-Profis in den
Vordergrund stellt – kein schlechtes Gegengewicht zu den für viele
unwählbar gewordenen Karrierepolitikern, die das tatsächliche
Wähler:inneninteresse ganz selbstverständlich dem eigenen Macht- und
Imageerhalt opfern.
Und an diesem Punkt wird nun hoffentlich augenfällig, in
welchem Umfang die gesamte Angelegenheit in ein System nicht nur
institutionalisierter, sondern auch im psycho-logischen Sinne zutiefst
internalisierter Misogynie eingebettet ist: wenn die beste Strategie im
Umgang mit einem beruflichen Fehlgriff einer Politikerin der Rückzug ins
Klischeehafte ist; wenn die Selbstapostrophierung als
„Zuckergoscherlrevolutionärin“ plötzlich als unironisches Branding
funktioniert und traditionell weiblich konnotierte Eigenschaften wie
Empathie, Impulsivität und unreflektierte Emotionalität die beste
Verteidigungsstrategie sind, dann krankt es nicht nur am politischen
System, sondern an der gesamtgesellschaftlichen Werteordnung.
Will man die Causa Schilling in diesem Lichte besser begreifen,
so lohnt es sich, das Augenmerk auf drei unterschiedliche Facetten zu
richten: Zum Ersten hat Schilling gegen die Regeln des politischen
Systems verstoßen, nach welchen man parteiinterne Kritik oder Kritik an
außerparteilichen Unterstützern nur dann nach außen trägt, wenn dies
politisch opportun ist. Zum Zweiten hat Lena Schilling den Verdacht
häuslicher Gewalt aufgezeigt und damit Gerüchte über das Eheleben eines
befreundeten Paares in die Welt gesetzt. Und zum dritten ist sie eine
Frau. Dass diese drei Ebenen in der Praxis untrennbar miteinander
verbunden sind, bedeutet keineswegs, dass man sie in der kritischen
Auseinandersetzung auch so behandeln dürfte; je enger die Verknüpfungen
und Interaktionen, desto unerlässlicher ist es, den Versuch einer klaren
Trennung dieser Komponenten zu unternehmen. Nur so kann man sich der
Frage, ob und welchem Maße die mediale Kritik an der Grünen
Spitzenkandidatin erklärbar und gerechtfertigt ist, auch nur
einigermaßen reflektiert annähern.
Blicken wir auf die erste Ebene, jene der Berufspolitik, so
kommt man nicht umhin einzuräumen, dass Lena Schilling ungeschickt
gehandelt hat: Bohrn Mena ist ein wichtiger und finanziell nicht
unbedeutender Unterstützer Grüner Agenden, und als Spitzenkandidatin
beißt man nun einmal nicht die Hand, die die eigene Partei füttern
könnte. Nicht nur deswegen ist die Kritik, die Lena Schilling sich
mitunter auch aus eigenen Reihen gefallen lassen muss, nachvollziehbar.
Auch das Argument, dass man als Politikerin sich des Umstandes gewahr
sein müsse, dass das Private eben nicht privat bleibt, hat Gewicht. Was
erschwerend hinzukommt ist, dass einige von Schillings Vorwürfen
Journalisten betreffen: kein kluger Schachzug, wenn man mitten im
Wahlkampf steht und auf mediales Wohlwollen für sich selbst und seine
Partei angewiesen ist. Hier hat Schilling also zweifellos Fehler
gemacht; hat gegen geschriebene und ungeschriebene Regeln des Systems
verstoßen, in dem sie sich bewegt und als dessen Teil sie sich eine
berufliche Karriere aufbauen will. Dass dieses System in seinem
zynischen Opportunismus zutiefst fragwürdig und reformbedürftig ist, tut
hier wenig zur Sache: Revolution von innen sieht anders aus. Schillings
Vorgehen war, an allen etablierten Maßstäben gemessen, schlicht und
einfach unprofessionell. Diese Unprofessionalität durch Alter oder
Geschlecht zu rechtfertigen, schlägt, wie wir gerade gesehen haben, in
eine höchst problematische Kerbe: „junge Frauen sind eben so“ sollte
heutzutage kein Argument mehr sein, der Zweck des Gender-Stereotyps
heiligt auch hier nicht das Mittel. In welchem Ausmaß Schilling dieser
Fehler nun aber angelastet wird, und mit welchen Mitteln die Grüne
Spitzenkandidatin in den Medien desavouiert wird, ist allein dadurch
aber nicht zu erklären.
Die Erklärung liegt also anderswo – und zwar just dort, wo die
Grüne Spitzenkandidatin noch direkter mit patriarchalen Machtstrukturen
in Konflikt geraten ist: Wer sich als Außenstehende mit Befürchtungen
über häusliche Gewalt Dritter an die Öffentlichkeit wagt, bewegt sich
notwendigerweise in einem sehr prekären Spannungsfeld zwischen der
Wahrung der Privatsphäre anderer und dem Schutz der Betroffenen. Und
wenn der angebliche Gewalttäter ein politisch einflussreicher,
finanziell potenter und überaus klagfreudiger Mann wie Sebastian Bohrn
Mena ist, dann können die Konsequenzen sehr unangenehm werden – bis hin
zur Zerstörung der eigenen beruflichen Zukunft. Der eklatante Mangel an
medialer Selbstreflektion der gesellschaftlichen Verantwortung, welche
die Berichterstattung über eine solche Thematik mit sich bringt,
erschreckt. Fatal wäre es, wenn die Woge der medialen Empörung über
Schillings vermeintliche Indiskretion zur Folge hätte, dass sich
Zeug:innen häuslicher Gewalt aus Angst vor persönlichen Konsequenzen nun
erst recht nichts mehr zu sagen trauten; naheliegend ist eine solche
Vermutung aber durchaus. Der Standard, ansonsten
nicht scheu sich feministische Politik auf die Fahnen zu heften, ist
sich dieses blinden Flecks scheinbar nicht bewusst.
Hier kommt nun die dritte Ebene zum Tragen: die Mutmaßung, dass
ein großer Teil der Kritik an Schilling auch dadurch (mit)bedingt ist,
dass sie eine Frau ist, ist keinesfalls von der Hand zu weisen; wenn sie
uns naiv erscheint, so nur deswegen, weil diese Betrachtungsweise die
beiden anderen Ebenen mitunter zu weit in den Hintergrund stellt, die
Querverbindungen zu wenig aufzeigt – und letztendlich zu offensichtlich
ist, als dass man sich als deren Vertreterin auf die Fahnen heften
könnte, etwas grundlegend Neues entdeckt zu haben. Dass es Frauen
mitunter schwieriger haben als Männer, hat man schlussendlich schon ad
nauseam gehört. Doch das diese Beobachtung mittlerweile langweilig
geworden ist, macht sie nicht weniger korrekt. Mit großem Bedauern lasse
ich meine persönliche Eitelkeit also nun kurz beiseite und behaupte:
dass Lena Schilling eine Frau ist, hat ganz maßgeblich mit dem, was hier
geschieht, zu tun. Gestatten sie mir ergänzend auch die unoriginelle
Anmerkung, dass der Mediendiskurs sich merklich anders gestalten würde,
wenn im Mittelpunkt der Kontroverse ein fünfzigjähriger Mann anstelle
einer dreiundzwanzigjährigen Frau stünde. Sollten Sie selbst eine Frau
sein oder die eine oder andere Frau kennen, haben Sie dieses Phänomen
vielleicht schon einmal beobachtet: Eine junge Frau, die, wie Hamann es
plakativ formulierte, nicht stillsitzt und den Mund hält, eckt fast
unweigerlich an – und diese Erfahrung musste, nach ihrer deutschen
Parteikollegin Annalena Baerbock, nun auch die österreichische Grüne
Spitzenkandidatin machen.
Doch die Kampagne gegen Schilling richtet sich keineswegs nur
ad personam; vielmehr ist es ein konzertierter
Angriff auf die Grüne Partei, der man inhaltlich in diesem Wahlkampf
nicht viel vorzuwerfen hat. Die Medien haben zweifellos nicht unrecht,
wenn sie mutmaßen, dass das Spannungsverhältnis zwischen Grünen
Parteiinteressen und Grüner Genderpolitik, zwischen Loyalität zu
plakativen Ehrlichkeitsidealen und Loyalität zu ihrer allzu menschlichen
Spitzenkandidatin, welches sich aus dem Schilling-Dilemma ergibt, dem
parteiinternen Zusammenhalt nicht förderlich sein kann. Mit
offenkundigem Missfallen muss man nun aber konstatieren, dass die Grüne
Partei das Narrativ der politischen Selbstzerstörung aber nur sehr
begrenzt mitträgt. Der Umgang mit den Turbulenzen, in welche ihr
EU-Wahlkampf geraten ist, ist geradezu vorbildlich – man ist um
Schadensbegrenzung und Informationsmanagement bemüht, präsentiert eine
geschlossene Front und pocht auf Inhaltliches. Die mediale Empörung
darüber, dass das Schilling-Skandälchen von selbst nicht ganz zum
Skandal werden möchte, ist demzufolge groß: die Partei habe sich
geschlossen hinter die junge Spitzenkandidatin gestellt, klagt man; nur
ganz vereinzelt gäbe es Kritik aus den eigenen Reihen. Anonyme Vorwürfe
habe man als anonyme Vorwürfe bezeichnet, Gerüchte als Gerüchte. Kurz
gesagt: es gibt nicht viel zu kritisieren – also stößt man sich, wieder
und wieder und mit wachsendem theatralischen Entsetzen, an der Wortwahl
des Parteivorsitzenden. Voll berechtigter Empörung, dass das, worüber
man eigentlich berichten möchte, schlicht und einfach nicht stattfindet,
sehen die Medien keinen Ausweg mehr, als den prognostizierten Untergang
der jungen Europapolitikerin und den Zerfall der Grünen selbst
herbeizuführen – man will doch nicht riskieren, sich in den
Polit-Prognosen geirrt zu haben. Noch weniger will man in Kauf nehmen,
dass das Interesse der Öffentlichkeit sich auf das Niveau reduziert,
welches die Angelegenheit eigentlich verdienen würde, dass die Klicks
und Verkaufszahlen wieder schwinden. Und Schillings kolportierte
Attacken auf Journalisten gilt es am Rande auch noch zu rächen.
Doch die Hartnäckigkeit, mit der die mediale Berichterstattung
das Grüne Parteiimage zu torpedieren sucht, legt nahe, dass hier
fundamentalere Interessen zu Grunde liegen als reine journalistische
Eitelkeit. Im Grunde genommen geht es hier auch nicht um Innen- oder
Europapolitik, sondern um die subliminalen gesellschaftlichen Werte,
welche die Causa in Frage zu stellen droht: Wollen wir denn wirklich
eine Welt, in der Täter befürchten müssen, dass häusliche Gewalt nicht
mehr als pure Privatangelegenheit gesehen wird? Eine Welt, in der
einflussreiche Männer Kritiker:innen nicht nach Belieben mundtot klagen
können? Eine Welt, in der ein zynisches Kalkül in der Politik weniger
Berücksichtigung findet als Empathie und Toleranz für menschliche
Fehler? In der patriarchale Strukturen ungestraft aufgebrochen werden
können und eine junge Frau zur Europawahl kandidieren kann, ohne es sich
gefallen lassen zu müssen, dass das mediale Establishment in ihrem
Privatleben wühlt und mit erhobenem Zeigefinger über ihre charakterliche
Eignung urteilt? In der nicht nur eine Einzelperson, sondern eine ganze
Partei sich gegen das stellt, was immer war und immer funktioniert hat?
Schier untragbar wäre es offenbar, dass die Grünen, die diesmal mehr
als je zuvor mit der Wahl ihrer Spitzenkandidatin die grundlegendsten
Strukturen des Patriarchats in Frage gestellt haben, ungestraft damit
davonkommen. Während die Politik langsam erkennen muss, dass die
Aufrechterhaltung des genderpolitischen Status quo sich nicht mehr
uneingeschränkt als explizites Parteiprogramm eignet, ist die Sicherung
des patriarchalen Grundgefüges nun Aufgabe der Medien: wer aufmuckt,
wird kleingeschrieben.