Putin selbst habe es immer wieder an die Wand gemalt: eine chaotische Selbstauflösung dieses von vielerlei Kräften und Tendenzen untergründig durchwirkten Staatsmolochs. Ein Szenario, das man sich so wenig wünschen könne wie irgendeines der anderen Szenarien. Gerd Koenen bringt im Gespräch mit Wolfgang Storz einige Aspekte in die Diskussion, nach denen die Bürger Russlands selbst sich bald fragen werden, wann und wie dieser Albtraum enden wird.
Wolfgang
Storz: Sie sagen, das Regime Putins trage immer noch
plebiszitäre Züge und sei nicht so hermetisch abgeriegelt wie Nordkorea
oder so flächendeckend totalitär überwacht wie China. Putin verdanke
seine Machtfülle vor allem „einer sozialen und mentalen, historisch und
sogar geophysisch begründeten Leere“, einer Art „horror vacui“. Erklären
Sie das bitte.
Gerd Koenen: „Plebiszitäre“ Züge trägt Putins Regime insoweit, als er sich selbst und ein Sortiment selbst kreierter oder zugelassener Duma-Parteien immer noch wählen lässt, wenn auch unter Ausschaltung jeder ernsteren Konkurrenz und aller unabhängigen Medien. Noch bezeichnender ist vielleicht, dass er Meinungsumfragen anstellen lässt, im staatlichen Auftrag, aber auch von dem unabhängigen Lewada-Zentrum, das sich seit 2018 zwar als „ausländischer Agent“ deklarieren muss, aber fast die letzte eigenständige Institution in Russland ist. Er ist also um seine „Popularität“ besorgt und wird nervös, wenn sie aus olympischen Höhen von 70-80 Prozent unter 60-50 Prozent sinkt, was schon der Fall war. Dann muss er umgehend neue Feinde ins Visier nehmen, einen neuen Krieg anstiften oder sonst etwas tun. Zwar hat er sich inzwischen ein Mandat auf Lebenszeit verschafft, aber wieder durch eine Verfassungsänderung und ein Referendum, und immerhin durch neue Wahlen in 2024.
In China wird nicht nur nicht gewählt — faktisch auf keiner Ebene — und auch nicht nur flächendeckend überwacht, sondern es wird jede Äußerung öffentlichen Protestes oder selbst eines unabhängigen Denkens und Handelns im Ansatz mit Gewalt oder durch soziale Ächtung unterdrückt. Mehr noch: Die Gesellschaft wird zunehmend aktiv gesteuert, psychisch und mental konditioniert, perspektivisch vielleicht sogar genetisch gescreent und „verbessert“. Für ein solches neo-totalitäres Eingreifen fehlen Putin die entscheidenden Instrumente: eine in jeden Winkel des sozialen Lebens und der Institutionen hineinreichende Partei samt Massenorganisationen, Nachbarschaftskomitees und so weiter. Russland ist ein viel chaotischeres, sozial diffuseres und eher neo-feudal strukturiertes Gebilde.
Man hat lange Zeit gesagt, seine anhaltende Popularität verdanke Putin der Stabilisierung des Landes und der Verbesserung des Lebensstandards in den 2000er Jahren. Aber diese Erklärung war schon für den kometenhaften Aufstieg des vollkommen unbekannten und uncharismatischen Geheimdienstoffiziers aus den Hinterstuben des Kreml 1999/2000 nicht ausreichend. Und seit seiner dritten Wiederwahl 2012, seit den willkürlich entfesselten Kriegen und Annektionen 2014 sowie angesichts des für alle Schichten fühlbaren sozialökonomischen Abstiegs des Landes, reicht diese Erklärung vollends nicht mehr hin.
Meine aus einer historischen Langzeitbeobachtung gewonnene Hypothese ist — mehr als eine Hypothese kann es nicht sein, denn alle rätseln ja darüber, warum das Gros der Bevölkerung dies alles mit sich machen lässt —, dass Putins obsessiv vorgetragene Beschwörung eines möglichen Zerfalls Russlands etwas Reales ist. Erstens hat die russische Gesellschaft — schon durch die Weite des Landes und ihre jeweilige regionale Einkapselung — nur ein vages, mythisch verblasenes Bild von sich selbst, geschweige denn eine reale, landesübergreifende soziale und politische Struktur. Zweitens addiert sich der Rückzug aus weiten Gebieten, die kaum noch bewirtschaftet und erschlossen werden können, mit einem rapiden demographischen Verfall, der selbst gar nicht einfach zu erklären ist. Drittens ist es dieser Gesellschaft kaum möglich, sich ein Bild ihrer katastrophal verlaufenen Geschichte zu machen, namentlich der Selbstzerstörungen und Selbstzerfleischungen im 20. Jahrhundert, obwohl das in die meisten Familienbiographien düster oder blutig eingeschrieben ist.
Mehr noch: Die Gesellschaft scheut sich, in diesen Spiegel zu
schauen, und flüchtet sich in die alles übergreifende nationalreligiöse,
tragisch grundierte Große Erzählung vom Großen Sieg im Großen
Vaterländischen Krieg. Diese Erzählung hat sich längst schon vom
Überfall durch das nationalsozialistische Deutschland 1941 zu lösen
begonnen und wird mittlerweile über fast zwei Jahrhunderte und über alle
Höhen und Tiefen dieser „russländischen“ Reichsgeschichte ausgespannt.
Und die Feinde kamen dabei immer aus einem „Westen“, egal ob es die
Polen oder die Schweden, die Franzosen, die Deutschen oder die
Amerikaner waren. Das alles ist zwar vollkommen widersinnig, aber es ist
ein Akt der „Sinnstiftung des Sinnlosen“, durch den das Regime
vergessen machen kann, was allein schon die Institution, der Putin
entstammt, die Geheimpolizei als Staat im Staate, dem eigenen Volk
angetan hat.
Aber geht es nicht doch auch um authentische und ganz
handfeste soziale und politische Ängste der Bevölkerung hier und heute,
die das Gros der Bevölkerung noch immer mit dem Regime und mit Putins
Großrussland-Plänen verbinden?
Ich will ja gerade auf das durchaus Reale dieses „horror vacui“
abheben, über alle künstlich erfundenen und in sich völlig unstimmigen
Geschichtsnarrative hinaus. Allerdings ist es eine paradoxe Reaktion,
sich um ein Regime zu scharen, welches das Land so erkennbar in eine
historische Sackgasse geführt und nun sogar in einen so katastrophalen
Bruderkrieg verstrickt hat. Russland hat an dem gewaltigen
weltwirtschaftlichen Boom der letzten dreißig Jahre nur sehr einseitig
teilgenommen, eben als Rohstoff- und fossiler Energielieferant für die
anderen Länder. Dabei ist es in Wirklichkeit als Binnenland von dem
überwiegend maritim abgewickelten Weltverkehr abgeschnitten geblieben.
Es hat seine aus der Sowjetzeit überlieferten technologischen und
humanen Potentiale kaum weiterentwickelt oder sie sogar an die westliche
Welt verloren — vor allem, was seine aktiven, gebildeten,
unternehmungslustigen jungen Leute betrifft. Und dazu kommt nun auch
noch die Kette dieser ruinösen Kriege und Eroberungspolitiken seit 2014,
die im besten Fall reine Pyrrhussiege sind und nun in der Ukraine zu
einer faktischen Niederlage werden können. Um diese abzuwenden, müssen
von Putin immer noch monströsere, abstoßendere Mittel eingesetzt werden,
bis irgendeine „Lösung“ gefunden wird oder ein neuer „eingefrorener“
(schwärender) Konfliktherd, der Russland selbst weiter isoliert und das
Mark aus den Knochen saugt.
Ist es sinnvoll oder auch nur legitim, Wladimir Putin mit
Adolf Hitler zu vergleichen oder sogar gleichsetzen und etwa zu „Putler“
zu machen, wie dies auf Plakaten bei Solidaritätsdemonstrationen zu
lesen ist?
Solche historischen Analogien sind durchaus legitim — und trotzdem natürlich falsch. Mir fällt eher zunächst das stalinistische Element in Putins Reden auf, so wenn er jetzt eine große „Säuberung“ der Gesellschaft von allen westlich infizierten Elementen ankündigt. Oder wenn er die gewählte Regierung in Kiew zu einer „nazistischen Junta“ machen möchte — was so ziemlich den Klischeebildern der „Nato=Nazi-Generäle“ und den US-Präsidenten als den „Nachfolgern Hitlers“ in den Karikaturen und Propagandatiraden der 1950er bis 1970er Jahre entspricht, mit denen Putin in der damaligen Sowjetunion ja sozialisiert worden ist.
Der Vergleich mit Hitler ist aber auch nicht völlig abwegig, insofern ein derartiger, unprovozierter militärischer Überfall auf ein international anerkanntes, souveränes Nachbarland eigentlich seit dem Zweiten Weltkrieg so nicht mehr vorgekommen ist. Und selbst die Begründungen dieser Invasion — die Ukraine habe Russland angegriffen und mit Genozid bedroht — gleichen Hitlers berühmter Phrase „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“ beim Angriff auf Polen 1939 verblüffend. Auch das großrussisch-völkische Element in der Argumentation Putins lässt an die entsprechenden Volkstumspolitiken der Nationalsozialisten denken. Und das Risiko eines Weltkriegs, das Putin sehr offensiv als eine Drohgebärde in den Raum stellt und sogar mit nuklearen Mobilmachungen garniert, die Hitler allerdings noch gar nicht zu Gebote standen, trägt ebenfalls eher faschistische als sowjetische Züge. Andererseits sind die Eroberungsziele Putins natürlich beschränkter als die eines Adolf Hitler, und irgendwelche Durchmarschphantasien nach Mitteleuropa hinein halte ich eher für deplaciert. Er kann ja nicht mal die Ukraine schlucken.
Überhaupt fehlt dieses brutale Bündel sozialer, ökonomischer,
technischer, organisatorischer und militärischer Fähigkeiten, das Hitler
bei seinem Versuch, ein großgermanisch-arisches Kontinentalreich zu
errichten, auf die schrecklichste Weise entfesseln konnte. Putin besitzt
ja schon ein gigantisches eurasisches Kontinentalreich, das er kaum
bewirtschaften und zusammenhalten kann. In diesem Sinne hat sich mir die
Gegenüberstellung von „Volk ohne Raum“ versus „Raum ohne Volk“
aufgedrängt: Hier die Losung des Nazi-Eroberungsprojekts, das in
irrsinniger, aber pseudo-logisch noch halbwegs nachvollziehbarer Weise
nicht nur auf eine Zusammenfassung aller „großdeutschen“ Reichsteile
zielte, sondern darüber hinaus noch die Eroberung und Unterwerfung neuen
„Lebensraums im Osten“ mitsamt riesiger helotischer Bevölkerungen ins
Auge fasste. Und dort Putins Idee der Rückholung einer fiktiven
„russischen Welt“ — von angeblich 23 Millionen außerhalb der Grenzen
lebender Russen — außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation heim
ins Reich. Und das, obwohl es alle Nöte und Schwächen seines bereits
heute überdehnten und strukturlosen Staatswesens noch immer weiter
steigern würde. Und er ja umgekehrt die hinzueroberten Gebiete selbst
aus seinem ausgedünnten Bevölkerungsfundus neu besiedeln müsste. Ein
Irrwitz-Ding.
Wie ist das System, das Putin verkörpert, denn überhaupt zu
charakterisieren: als eine autoritäre Formal-Demokratie, als eine
faktische Diktatur, als ein ideologiefreier Mafia-Staat… oder als
was?
Von allem etwas, und noch vieles mehr. Da ist einmal das
quasi-monarchische und quasi-theokratische Gepräge seines Regimes, dann
der ständestaatliche oder neofeudale Charakter dieser
Staatsgesellschaft, dann die kapitalistisch-oligarchischen und
kleptokratischen Züge, durch die eine neue Klasse staatsmonopolistischer
Shareholder oder privater Großeigentümer mit einer Kerngruppe
sogenannter „silo-wiki“ (Machtträger), insbesondere aus Geheimdienst,
Militär, Polizei, Justiz, Regierungs- und Verwaltungsapparat und so
weiter mafiotisch verschmolzen und ihr vielfach tributpflichtig geworden
ist. Und schließlich ist da noch das militaristisch-faschistische
Bewegungselement in Gestalt eines ausgedehnten Kreises von teils
hochdotierten, teils eifrig-beamtenhaften Ideologen, Propagandisten,
Medienleuten, darunter auch viele Frauen als Teil einer sonst betont
maskulin-verschworenen Machtkohorte … . Das alles zusammen lässt sich
nur schwer auf einen Begriff bringen. Der flexible, gemischte,
multipolare Charakter dieses Macht- und Gesellschaftssystems lässt
übrigens wieder eher an faschistische als an kommunistische Regimes
denken. Aber womöglich müsste man völlig neue Kategorien finden.
Und nun drei Fragen im Zusammenhang auf einen Schlag: Erste
Frage: Hat der Westen einen entscheidenden Zeitpunkt verpasst, zu dem er
noch hätte Einfluss nehmen können — in Richtung mehr Demokratie in
Russland, in Richtung mehr Frieden und Freiheit mit Russland? Zweite
Frage: Hätte der Westen nicht zusammen mit der Ukraine bereits vor
Jahren sagen sollen: keine NATO-Mitgliedschaft, wir schaffen eine
neutrale Ukraine mit gesicherter territorialer Souveränität, eine
Vermittlungsglied zwischen Ost und West. Dritte Frage: Hätte dies
Wladimir Putin von seinem jetzigen Krieg abgehalten?
Es ist ein Teil westlicher Hybris zu glauben, alles hinge von unseren Entscheidungen ab — obwohl man sich ja schon fragen könnte, was „der Westen“ in den letzten dreißig Jahren denn eigentlich gewesen ist. Wie auch immer: Für Putin war — das liegt nun ganz offen auf dem Tisch und konnte aber auch aus frühen Äußerungen in den 1990er oder frühen 2000er Jahren schon deutlich eruiert werden — der Zusammenbruch der UdSSR die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“; man beachte den Superlativ — und identisch mit einem Machtverlust Russlands. Und das hätte niemals geschehen, geschweige vertraglich abgesichert werden dürfen. In seiner absurden Rede vor der Ukraine-Invasion hat er sogar rückwirkend Lenin dafür verantwortlich gemacht, dass dieser in der Verfassung von 1922 die Sowjetunion als eine (nominelle) Föderation selbständiger Republiken konstruiert und damit die Ukraine ebenso wie Weißrussland oder andere Republiken überhaupt erst „erfunden“ habe, statt von vornherein einen großrussischen Moskauer Einheitsstaat zu gründen, wie Stalin es damals vorgeschlagen habe.
Dann hätte es die Ukraine ebenso wie Weißrussland und andere neue Republiken gar nicht gegeben. Sondern die Ukrainer als „Kleinrussen“ wären mit den Großrussen und Weißrussen von vornherein in seinem Staat, in Putins Staat, der „Russländischen Föderation“, vereint gewesen — so wie es im zaristischen Zensus immer der Fall gewesen war.
Die Ukrainer, die ja 1991 mit rund 90 Prozent für die Unabhängigkeit gestimmt haben, dürften diesen moskowitischen Hegemonialanspruch je länger, je mehr gespürt haben. Und deshalb hatten sie nach 2004 ins NATO-Bündnis aufgenommen werden wollen — was man ihnen in der Ära Bush leichtsinniger Weise für eine fernere Zukunft als Möglichkeit vorgegaukelt hat, ohne später je irgendeinen Schritt in diese Richtung zu tun. So etwas ist natürlich besonders gefährlich.
Der Anlass für die Maidan-Revolte war aber ein bloßes Assoziierungsabkommen mit der EU. Und wenn man schon von „Finnlandisierung“ spricht — im Sinne einer Halbsouveränität, die die Finnen überhaupt nicht gerne hören —, dann ist Finnland ja immerhin ein Vollmitglied der EU. Aber schon dieses halb-unterzeichnete Assoziierungsabkommen mit der Ukraine hatte Putin gereicht, um 2014 den ersten Krieg gegen die Ukraine zu entfesseln, auf der Krim und kurz darauf im Donbass, und ansatzweise auch schon in Charkiw oder Odessa. Es war gerade die Nicht-Reaktion der Europäer und des westlichen Bündnisses auf diese Aggressionen, die ihn ermutigt haben, jetzt einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen.
Ansonsten ist diese ganze, endlos repetierte Meme von der „vorrückenden Nato“ und dem sich „zurückziehenden Russland“ sowieso völlig krumm. Erstens haben beide Seiten massiv abgerüstet und sich bis auf ein paar eher symbolische Reste zurückgezogen, so 200.000 US-Truppen vom europäischen Kontinent, der Kern der hier stationierten amerikanischen Streitkräfte — mitsamt einem Großteil ihrer militärischen Basen und Infrastrukturen; man schaue sich nur Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet an. Alle europäischen Armeen sind in den letzten dreißig Jahren massiv verkleinert und heruntergerüstet worden, allen voran die Bundeswehr, die wie die meisten anderen Nato-Armeen die Wehrpflicht abgeschafft hat. Und auch die aus eigenem Entschluss neu hinzugekommenen Mitgliedsstaaten haben nur relativ kleine Streitkräfte, von denen nicht der Hauch einer Bedrohung für Russland ausgeht — noch abgesehen davon, dass es ja fast überhaupt keine gemeinsamen Grenzen gibt.
Und was das berühmte „Versprechen“ von Kohl gegenüber
Gorbatschow von 1990 angeht, dass die Nato nicht „vorrücken“ werde: So
ist es ja eine putzige und zugleich arrogante Vorstellung, es hätten ein
deutscher Kanzler und ein sowjetischer Generalsekretär per Handschlag
vereinbaren können, dass alle Mitglieder des in Auflösung befindlichen
Warschauer Paktes kein Recht auf freie Bündniswahl besäßen. Das würde
ich einen letzten Reflex des alten, imperial getönten deutschen
„Russland-Komplexes“ sehen, wonach zwischen Moskau und Berlin die
Zukunft und Sicherheit des Kontinents abgestimmt und geregelt werden
müsste oder könnte.
Wie erklären Sie es sich, dass Putins Russland in den letzten
zwei Jahrzehnten zum Schlüssellieferanten für die deutsche Gasversorgung
werden konnte?
Das gehört – von allen sachlich-ökonomischen Gründen abgesehen – ebenfalls in diesen eben erwähnten Komplex. Wobei es sich von russischer Seite allerdings um einen klar erkennbaren geopolitischen Schachzug gehandelt hat, der auf eine spezielle deutsch-russische Verbindung und eine dazu gehörige europäische Dissonanz setzte. Auf deutscher Seite — wobei die verschiedenen Merkel-Regierungen direkt auf den von Schröder gestellten Weichen weiterfuhren und dessen Dienste als politischer Einflussagent des Kreml unbedenklich in Anspruch nahmen — handelte es sich um eine illusionäre „Realpolitik“.
Mit ihrem Mantra „Sicherheit gibt es nur mit Russland, nicht
gegen Russland“ glaubten alle Koalitionen der letzten beiden Jahrzehnte,
sie könnten mit einer massiven Anbindung der deutschen
Industriepotentiale und sogar der Gesellschaft im Ganzen an die
russischen Energielieferungen einen positiven „Wandel durch
Verflechtung“ herbeiführen und vor allem „Sicherheit“ garantieren. Das
Gegenteil war der Fall, wie sich jetzt zeigt.
In Ihrem Essay „Autokratischen Herrschern hilflos
ausgeliefert“, veröffentlicht am 21.3. in der FAZ, sagen Sie, es sei kein für Putin
gesichtswahrender Ausgang zu sehen. Und siegen könne er auch nicht, da
er die Ukraine, selbst wenn er ihre Städte vernichte oder sie als Staat
zerstückele, nie werde kontrollieren können. Wie sieht dann aus Ihrer
Sicht das „endgame“ aus, von dem Sie sprechen?
Das Russland des Wladimir Putin — und er hat sich ja tatsächlich in der anachronistischsten Weise zum alleinigen Entscheider und Sprecher seines Landes aufgeworfen — wird mit diesem Krieg in einen Abwärtsstrudel geraten, in dem es auch längst schon steckt. Was immer er an sich reißen mag, ob irgendwelche Ölschiefer-Vorkommen im Donezker-Gebiet oder Gas-Reserven vor der Schwarzmeerküste — dieser Krieg wird den Abstieg seines sozial, intellektuell und politisch weiter verödenden Landes nur beschleunigen.
Ein überdimensionales, hermetisch abgeschlossenes Nord-Korea kann er daraus aber auch nicht machen, obwohl es einem teilweise schon so vorkommt. Er kann zum Klienten, Lieferanten und Minenhund Chinas werden, das heute bereits das Zehnfache an sozioökonomischen und teilweise auch schon an technologischen Potentialen auf die Waage bringt. Aber auch China ist selbst keineswegs gegen Krisen und Einbrüche gefeit, wie beispielsweise aktuell die abenteuerliche, von KP-Chef Xi par ordre du mufti verhängte „Null-Covid-Strategie“ zeigt.
Und ob China an einem kompletten friendly-takeover seines ihm nun in „grenzenloser Freundschaft“ verbundenen Nachbarn und der Auffüllung seiner inneren Leere interessiert sein dürfte, ist auch die Frage. Zumal diese Perspektive in Russland vielleicht noch panischere Reaktionen auslösen dürfte als das Szenario einer westlichen Einkreisung und Intrusion.
Oder aber es passiert das Folgende nach einer halben Niederlage
oder einem ruinösen neuen Pyrrhus-Sieg in der Ukraine — Putin selbst
hat es immer wieder an die Wand gemalt: eine chaotische Selbstauflösung
dieses von vielerlei Kräften und Tendenzen untergründig durchwirkten
Staatsmolochs. Ein Szenario, das man sich so wenig wünschen kann wie
irgendeines der anderen Szenarien. Und hier endet im Moment meine
Phantasie — wie die aller äußeren Beobachter, oder vermutlich auch aller
Bürgerinnen und Bürger Russlands selbst, die sich (offen oder
insgeheim) fragen oder bald fragen werden, wann und wie dieser Alptraum
enden wird.
Dr. Gerd Koenen ist Historiker,
Schriftsteller und Publizist. Er veröffentlichte u.a. „Der
Russland-Komplex – Die Deutschen und der Osten 1900-1945“ (2005) sowie
„Die Farbe Rot — Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ (2017). Viele
seiner publizistischen Arbeiten sind einsehbar auf seiner Website www.gerd-koenen.eu
Das Gespräch wurde zuerst am 25.04.2022 im blog bruchstücke strong> veröffentlicht.