Wer bereit ist, das Brudervolk zu vernichten, was hat er mit dem Rest der Welt vor? Putin geht es um weit mehr als die Unterwerfung der Ukraine. Der Wirtschaftswissenschaftler und Osteuropaexperte Andreas Wittkowsky arbeitete mehrere Jahre im Kosovo, in der Ukraine und seit 2011 am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze. Mit ihm sprach Wolfgang Storz über den Krieg, Russland und über uns.
Wolfgang Storz: Herr Wittkowsky, Sie haben sich intensiv mit der Frage der Nationalstaatsbildung in der Ukraine beschäftigt. Haben Sie erwartet, dass das nationale Bewusstsein sogar so stark ist, dass sich zig Millionen BürgerInnen der Ukraine unter Einsatz ihres Lebens gegen ein übermächtiges feindliches und offenbar zum Teil brutales, kriegsverbrecherisches Militär für die Freiheit ihres Landes einsetzen?
Andreas Wittkowsky: Ja. Auch wenn wir uns das in unserer post-heroischen Nachkriegskultur oft nicht vorstellen können. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen: Hier geht es ums Ganze. Um Freiheit, Selbstbestimmung, um ein Leben in Würde und Frieden. Unser eigenes Bekenntnis zu den „europäischen Werten“ kommt uns oft recht locker über die Lippen in der Erwartung, selbst niemals dafür kämpfen zu müssen. Ein Großteil der Ukrainer ist bereit, hierfür ihr Leben einzusetzen. Weder wollen sie vom immer diktatorischer regierten Russland Wladimir Putins „befreit“ werden, noch in einem Vasallenstaat von seinen Gnaden leben.
Und das, obwohl der Preis dafür sehr hoch ist?
Der Preis eines russischen Erfolgs ist aus ukrainischer Sicht
nicht minder hoch – und schon seit Jahren sichtbar. Denn Putins Krieg
begann schon 2014, mit der Besetzung der Krim und der Ostukraine. Dies
war ein Fanal, das zeigte, was der Anschluss an die von Putin
beschworene „russische Welt“ (Russki mir) für die Betroffenen bedeutet.
Nach der Annexion der Krim sorgten die russischen Sicherheitskräfte
dafür, dass dort jede pro-ukrainische Opposition unterdrückt wurde. In
den von Russland gestützten „Volksrepubliken“ in der Ostukraine wurde
offener Terror gegen die widerständige Zivilgesellschaft ausgeübt.
Unzählige Menschen wurden zur Flucht gezwungen, verschwanden in
Gefängnissen und Folterzentren, wurden tot aufgefunden.
Bis dahin war in weiten Teilen der Ukraine — und zwar nicht nur dort, wo
man überwiegend russisch spricht — die Vorstellung der ukrainischen,
belorussischen und russischen Nationen als „Brüdervölker“ noch weit
verbreitet. Es gab familiäre und freundschaftliche Verbindungen, oft
noch aus sowjetischen Zeiten.
Mit dem Überfall am 24. Februar hat Putin nun endgültig das geschaffen,
was er um jeden Preis vermeiden wollte: eine geeinte ukrainische Nation.
Als es erste Anzeichen gab, auch Belarus könnte sich Putins Krieg
anschließen, schrieb mir ein Freund aus Kiew: „Gott sei Dank, dass wir
nur zwei Brüdervölker haben.“
Gibt es Aspekte, Argumente, historische Fakten, die für die Behauptung Putins sprechen, die Ukraine sei kein souveräner Staat?
Putin hat dieses Narrativ schon über Jahre bedient und im Sommer 2021 in einem grundsätzlich angelegten Geschichtsaufsatz systematisch entwickelt. Darin behauptet er, Russen und Ukrainer seien „ein Volk“. Außerdem sei die moderne Ukraine „ein vollständiges Produkt der Sowjetzeit“ und Russland in den 1920er Jahren mit der Schaffung der ukrainischen Sowjetrepublik um Territorium und Bevölkerung „beraubt“ worden. Seit 1991 sei die Ukraine mit westlicher Hilfe in ein „anti-russisches Projekt“ und einen „ethnisch reinen ukrainischen Staat“ transformiert worden. Die dort lebende russische Bevölkerung sei einer „Zwangsassimilation“ ausgesetzt, vergleichbar eines „Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns“. Drohend schließt der Aufsatz: „Und wir werden niemals erlauben, dass unsere historischen Territorien und die dort lebenden Menschen […] gegen Russland eingesetzt werden. Und jenen, die solch einen Versuch unternehmen, möchte ich sagen, dass sie derart ihr eigenes Land zerstören werden.“
Dieses Putinsche Narrativ ist eine krude Mischung. Einzelne
historische Fakten wurden um Fälschungen ergänzt, um der Ukraine ihre
Eigenstaatlichkeit abzusprechen und ein russisches, oder russisch
dominiertes, Imperium wieder zu errichten.
Die nationale Erweckung der Ukraine geschah aber, wie bei vielen anderen
Nationen in den europäischen Vielvölkerreichen, wesentlich früher als
Putin behauptet, bereits ab Ende des 18. Jahrhunderts. Sie knüpfte an
die Eigenständigkeit der Kosaken im 17.Jahrhundert an. Zunächst standen
Fragen der kulturellen und sprachlichen Identität im Vordergrund, dann
folgten politische Forderungen. Im Russischen Reich stand die weit
verbreitete Auffassung entgegen, die Ukraine sei „Kleinrussland“, die
ukrainische Sprache nur ein „kleinrussischer Dialekt“.
Seit wann kann denn politisch von einer ukrainischen Nation gesprochen werden?
Die politischen Bestrebungen kulminierten am Ende des 1.
Weltkriegs. Im Russischen Reich wurde eine Ukrainische Volksrepublik
ausgerufen, im habsburgischen Galizien eine Westukrainische
Volksrepublik. Nach deren Vereinigung infolge des Friedens von
Brest-Litowsk Anfang 1919 geriet der neue Staat zwischen die Fronten des
russischen Bürgerkriegs. Als die Bolschewiki obsiegten, erlaubten sie
aus machtpolitischem Kalkül, aus Rücksicht auf die sichtbar gewordene
nationale Mobilisierung der Ukrainer, die Schaffung einer eigenen
Ukrainischen Sowjetrepublik. Wie die gesamte Sowjetunion, so war auch
diese Ukrainische SSR
multiethnisch; Ukrainer stellten die größte, Russen die zweitgrößte
Bevölkerungsgruppe.
Dies blieb so auch nach der Unabhängigkeit 1991, also mit der Auflösung
der Sowjetunion. Die ethnischen Beziehungen blieben aber entspannt,
zumal ein beträchtlicher Teil der Ukrainerinnen und Ukrainer das
Russische als Verkehrssprache nutzt. Daran änderten auch die
Anstrengungen des Staates wenig, die Staatssprache Ukrainisch im
öffentlichen Raum stärker durchzusetzen. Von einer Unterdrückung des
Russischen oder „der Russen“, die Putin behauptet, kann keine Rede
sein.
Auch „der Maidan“ im Februar 2014 — der dreimonatige pro-europäische
Massenprotest auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit und in vielen
anderen Städten des Landes — war zweisprachig. Sehr viele Aktivistinnen
und Aktivisten sprachen russisch, man verständigte sich auch im
typischen, „surshyk“ genannten, sprachlichen Mischmasch der
Ukraine.
Der zweisprachige Maidan
Es ist eine
Debatte über die Fehler der Außenpolitik westlicher Staaten gegenüber
Russland in den vergangenen 30 Jahren ausgebrochen. Dabei stoßen sich
ausschließende Einschätzungen aufeinander: Der Krieg wäre ausgeblieben,
hätten Ukraine und NATO Russland
nicht so sehr provoziert, unter anderem mit einer Nato-Mitglieds-Debatte
und der Herabwürdigung Russlands zu einer Regionalmacht. Die andere
Sichtweise: Spätestens nach den russischen Übergriffen auf Georgien 2008
und die Ukraine/Krim 2014 hätte der Westen mit Militärhilfe, eigener
Aufrüstung und wirksamen Wirtschaftssanktionen viel härter reagieren
müssen. Können Sie dazu etwas sagen? Was ist spätestens seit 2008 gut,
was weniger gut oder gar schlecht gelaufen?
Ich kenne eigentlich niemanden, der behauptet, die westlichen Staaten hätten im Umgang mit Osteuropa keine Fehler gemacht. Die herablassende Bemerkung Präsident Obamas, Russland sei nur eine Regionalmacht, gehört dazu. Allerdings ist es mit der Fehlerdiskussion auch so eine Sache. Hinterher haben es alle immer schon vorher gewusst. Sicherheitspolitische Fragen werden selten in voller Harmonie gelöst, konfliktive Konstellationen sind ihnen ebenso immanent wie machtpolitische Aushandlungen.
Ein strategischer Fehler, insbesondere der USA und Großbritanniens, war mit Sicherheit die zögerliche Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014. Sie war ein eklatanter Verstoß gegen das 20 Jahre vorher unterzeichnete Budapester Memorandum. In ihm hatten sich Russland, die USA und Großbritannien verpflichtet, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine zu achten, weil diese bereit war, ihr sowjetisches Atomwaffenarsenal aufzugeben. Als Russland dieses Versprechen 2014 gewaltsam brach, hätten die anderen Garantiemächte schneller und härter reagieren müssen. Doch die Garantien erwiesen sich als Fata Morgana. Und Deutschland unterstützte 2015 noch eine zweite NordStream-Pipeline für russische Gasimporte durch die Ostsee…
All das ist übrigens auch ein Menetekel für weitere
diplomatische Versuche, andere Staaten davon abzuhalten, die nukleare
Schwelle in ihren Rüstungsprogrammen zu überschreiten.
Intensiv wird die Frage einer NATO-Mitgliedschaft debattiert. Worin besteht da der entscheidende Fehler: diese Mitgliedschaft überhaupt angeboten oder nicht vollzogen zu haben?
An der Frage einer NATO-Mitgliedschaft scheiden sich die Geister. Bis weit in konservative amerikanische Sicherheitskreise wird vertreten, dass es ein Fehler war, der Ukraine 2008 – vor allem auf Drängen der USA – eine entsprechende „Perspektive“ eröffnet zu haben. Doch hätte die Alternative eines neutralen Pufferstaats wirklich mehr Sicherheit gebracht? Oder hätte eine solche Neutralität nicht den im selben Jahr von dem russischen Präsidenten Medwedjew formulierten Anspruch auf eine „Sphäre privilegierter Interessen“, eine russische Einflusssphäre, widerspruchslos anerkannt – mit allen absehbaren Folgen für Gesamteuropa?
War es nicht vielmehr ein entscheidender Fehler, der Ukraine zwar die „Perspektive“ zu eröffnen, den konkreten NATO-Beitrittsprozess dann aber auf Eis zu legen? Die deutsch-französische Hinhaltetaktik in dieser Frage war vielleicht gut gemeint, als deeskalierendes Signal an Russland. Aber sie führte konkret dazu, die Ukraine im sicherheitspolitischen Limbo zu belassen, gewissermaßen zwischen Baum und Borke, bis sie im Februar 2022 angegriffen wurde.
Die letzte Frage lautet dann, ob ein neutralitätspolitisches Entgegenkommen die Ambitionen des Kreml tatsächlich befriedigt hätte. Immerhin müssen wir konstatieren, dass Putin auch im eigenen Land immer repressiver gegen zivilgesellschaftlichen Protest, freie Medien und gesellschaftliche Vergangenheitsaufarbeitung vorgeht. Die Diffamierung der Empfänger von internationaler Unterstützung als „ausländische Agenten“ oder das noch kurz vor Kriegsbeginn erfolgte Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial sind dafür symptomatisch. Diese Entwicklung auf politische Entscheidungen und eventuelle Fehler des Westens zurückzuführen, wäre falsch.
Garantien für die Ukraine? Eine Fata Morgana
Trotzdem
noch die Nachfrage: Wäre es unter Ihrem Aspekt der Politik des
Interessenausgleiches und der Deeskalation nicht von Anfang an sinnvoll
gewesen, wenn die Ukraine versucht hätte, sich — mit Hilfe des Westens —
als neutraler Staat, als Brückenkopf zwischen Russland und der EU zu
positionieren, vielleicht eine Art Schweiz Osteuropas zu werden?
Für mehrere Jahre verfolgte die Ukraine tatsächlich eine Zwei-Vektoren-Außenpolitik, die auf eine Kooperation mit der ehemaligen sowjetischen Hegemonialmacht und den Westen gleichermaßen ausgerichtet war. Dies war schon rational wegen der fortbestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen und Abhängigkeiten in beide Richtungen. In dieser Zeit war die Russische Föderation noch vorrangig mit internen Problemen beschäftigt, dem wirtschaftlichen Verfall und Separatismen im eigenen Staatsgebiet.
Aber zunehmend tendierte die russische Politik dahin, Einfluss auf die innere und äußere Entwicklung der post-sowjetischen Staaten zu nehmen. Als politische Hebel dienten beispielsweise die „eingefrorenen“ Konflikte in Moldova (Transnistrien) und Georgien (Südossetien und Abchasien), in denen auch russische Friedenstruppen involviert waren, oder die Abhängigkeit der Nachbarstaaten von russischen Energielieferungen. Während der Präsidentschaft Putins fand dann das Narrativ der Russki mir zunehmend Gehör, der Anspruch auf eine „Sphäre privilegierter Interessen“ leitete zunehmend Entscheidungen und Handlungen.
All dies beunruhigte die postsowjetischen Staaten und
entfremdete sie von Russland. Sie wollten alles, nur nicht Teil eines
neutralen Zwischeneuropas sein. In dem Maße, wie die Furcht wuchs, dem
neo-hegemonialen Streben Russlands zum Opfer zu fallen, verstärkten
diese Staaten ihre Anstrengungen, sich diesem russischen Anspruch durch
eine euro-atlantische Orientierung nachhaltig zu entziehen – oft mit dem
Argument, dass das Zeitfenster dafür begrenzt sein könnte.
Dabei konnten sich die Ukraine und ihre Nachbarn auch auf die
Grundlagendokumente der OSZE
berufen, die Helsinki-Schlussakte und die Pariser Charta, die allen
beteiligten Ländern die freie Wahl ihres Bündnisses zusichern. Auch die
Sowjetunion hat diese Dokumente unterzeichnet, die Russische Föderation
ist als ihr Rechtsnachfolger an sie gebunden. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997
bekräftigte Russland nochmals diese Prinzipien.
Der Störfaktor — Putins Anspruch auf den „Russki mir“
Gab
es in diesem Zeitraum, über den wir sprechen, irgendein Ereignis, eine
Äußerung einer der Konfliktparteien, bei dem Sie aufmerkten und dachten:
Hier könnte ein Ansatz für vielversprechende Verhandlungen sein?
Im Rahmen der OSZE gab es einige Ansätze für vertrauensbildende Maßnahmen. Allerdings waren die Positionen schon seit einigen Jahren verhärtet, insbesondere nach der Annexion der Krim. Im Dezember 2021 legte Russland dann den USA und der NATO zwei Vertragsentwürfe vor. Ihr Inhalt unter anderem: keine weitere Aufnahme von NATO-Mitgliedern, Rückabwicklung aller NATO-Stationierungen im Rahmen der Osterweiterung ab 1997, keine US-Militärbasen und -Kooperationen im post-sowjetischen Raum sowie der Abzug aller US-Nuklearwaffen aus Europa; letzteres unterlegt mit deutlichen Warnungen vor den Gefahren einer nuklearen Eskalation.
Man sollte der erfahrenen russischen Diplomatie nicht
unterstellen, dass sie diesen Versuch, die USA und ihren nuklearen Sicherheitsschirm
aus Europa zu verdrängen, Aussichten auf Erfolg einräumte. Die Antworten
der USA und der NATO, aus diesen Entwürfen Grundlagen für
weitere Verhandlungen zu destillieren, aber auf dem Grundsatz souveräner
Entscheidungen zu beharren, war unter diesen Bedingungen konstruktiv –
sie wurden aber von Putin als unzureichend abgelehnt.
Deutlich wurde an diesen Entwürfen auch, dass es Putin um mehr als die
Ukraine geht. Insofern wäre die Annahme zu kurz gedacht, der
gegenwärtige Krieg — der in Russland nicht Krieg genannt werden darf —
sei mit der militärischen Unterwerfung der Ukraine beendet. So
pathetisch es klingen mag: Die Ukraine kämpft gegenwärtig auch für
unsere Freiheit – und Deutschland tut sich schwer, sie dabei maximal zu
unterstützen.
Gegenwärtig ist es viel schwieriger für Verhandlungsoptionen, zumal Putins „Militärischer Sondereinsatz“ mit Forderungen wie der vollständigen „De-Nazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine einhergeht. Obwohl es inzwischen Gespräche zwischen beiden Seiten gibt, leugnete Russlands Außenminister Lawrow noch am 10. März in Antalya, dass Russland die Ukraine überhaupt angegriffen habe. Eine wirkliche Chance für Verhandlungen gibt es wohl erst wieder, wenn eine Seite vollständig unterliegt oder ihr der Preis einer weiteren militärischen Auseinandersetzung zu hoch wird. Wir können dazu beitragen, indem wir die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine stärken und die Kosten der russischen Aggression mit Sanktionen erhöhen.
Russlands Versuch, die USA aus Europa zu verdrängen
Der
Ansatz der vernetzten Sicherheit, zu dem Sie gearbeitet haben, geht
davon aus, Sicherheit könne am besten geschaffen werden, wenn die
Instrumente des Militärs, des Zivilen, der Diplomatie und der
Entwicklungszusammenarbeit intelligent aufeinander abgestimmt und
eingesetzt werden. Was bedeutet dieser Ansatz jetzt unter diesen
desaströsen Bedingungen?
Auch wenn dies wohl die wenigsten gegenwärtig so diskutieren: Wir erleben gerade eine gewaltige Anstrengung des Westens, einen Ansatz der vernetzten Sicherheit zur Wirkung zu bringen. Kombiniert werden die Unterstützung der Ukraine mit Abwehrwaffen, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland als schärfste Form ziviler Machtmittel, diplomatische Anstrengungen auf vielen Ebenen sowie humanitäre Hilfe.
Der Krieg zeigt auch, dass der starke deutsche Wunsch, ausschließlich auf zivile Konfliktbearbeitung zu setzen, zwar moralisch gut gemeint, aber nicht realitätstauglich ist. Wer eine Bundeswehr hat, die sich von Mangel zu Mangel laviert und in größerem Umfang kaum einsatzbereit ist, der verliert nicht nur bei den internationalen Partnern an Reputation. Auch mögliche Gegner lassen sich mit guten Worten alleine kaum beeinflussen.
War es nicht in jedem Fall höchst fahrlässig, sich auf Dauer
in eine Rohstoffabhängigkeit gegenüber einer Diktatur wie der von Putin
zu begeben, wie das alle deutschen Regierungen gegenüber Russland seit
Jahrzehnten zugelassen, sogar aktiv betrieben haben?
Uns fällt gerade auf die Füße, dass sich auch in strategischen Schlüsselsektoren in Deutschland und anderswo in den vergangenen Jahrzehnten ein geradezu blindes Vertrauen in Marktkräfte durchgesetzt hat. Insbesondere dort jedoch, wo die Marktteilnehmer Staatsunternehmen sind, die auf eine geopolitische Strategie ihres Landes verpflichtet werden, ist dies absolut fahrlässig.
Die jahrelange Verteidigung von Nord Stream 2 als
„privatwirtschaftliches Projekt“ war ein flagrantes (und im Übrigen
parteiübergreifendes) sicherheitspolitisches Versagen. Der
„Neoliberalismus“ ist mir ein allzu abgedroschenes Feindbild – doch das
seit 1989 herrschende marktliberale Leitbild, das wir auch den
Transformationsländern angedient haben, das aber die (geo-)politische
Ökonomie und Marktversagen weitgehend ausblendet, hat sich endgültig
desavouiert.
Das Gespräch erschien zuerst am 21. März 2022 im Blog bruchstücke sup>
Blindes Vertrauen in Marktkräfte