Zuweilen soll es ihn noch geben, den Hoteldirektor, der die Stammgäste unter Einhaltung einer gewissen Distanz mit vertraulicher Diskretion empfängt und die Bedürfnisse vieler neuer Gäste unmittelbar erkennt. Er muss ein großer Psychologe sein und zugleich der Gehorsam fordernde Organisator seines Hauses. Thomas Rothschilds Vignette fasst einen aussterbenden Beruf in den Blick.
„Sollt’ es Ihnen noch
nicht aufgefallen sein, was für komplizierte Subjekte wir Menschen im
Grunde sind? So vieles hat zugleich Raum in uns –! Liebe und Trug
… Treue und Treulosigkeit … Anbetung für die eine
und Verlangen nach einer andern oder nach mehreren. Wir versuchen wohl
Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch
nur etwas Künstliches … Das Natürliche … ist das
Chaos. Ja – mein guter Hofreiter, die Seele … ist ein weites
Land, wie ein Dichter es einmal ausdrückte … Es kann übrigens
auch ein Hoteldirektor gewesen sein.“
Diese Worte legt Arthur Schnitzler seinem Hoteldirektor Aigner in den
Mund, und sie enthalten die Formulierung, die dem Stück seinen Titel
gab: „Das weite Land“.
Solchen Hoteldirektoren und mit ihnen ihren einen Rang tiefer stehenden
Abbildern, den Empfangschefs, begegnet man nur noch selten. Das
gepflegte Familienhotel mit unverwechselbarem Charme und eben auch
unverwechselbarem Direktor wurde abgelöst von seelenlosen Hotelketten
wie der Tante-Emma-Laden von den Supermärkten. Amerikanische Touristen
bevorzugen den Lichtschalter und die Seifenablage an der zuverlässig
immer gleichen Stelle gegenüber einem Hoteldirektor, der sich die Namen
der Gäste über Jahre hinweg merkt, sie persönlich begrüßt und nach ihrem
Befinden befragt, ihnen die vertraute Morgenzeitung an den
Frühstückstisch bringt. Die Kommunikation mit einem Menschen statt per
Magnetkarte. Der Direktor ist höflich, freundlich und vermeidet auf ganz
unzeitgemäße Weise jedes Gesprächsthema, das zu Auseinandersetzungen
führen könnte. Das ist auch für den größten Streithansel gelegentlich
erholsam.
Der im übrigen promovierte und adelige Hoteldirektor Aigner gehört als
Gegenspieler von Friedrich Hofreiter zu den sympathischen Figuren in
Schnitzlers „Weitem Land“. Nun müssen einem Hoteldirektoren nicht
unbedingt sympathisch sein. In Joseph Roths Feuilleton „Der Patron“
bekennt der Autor:
„Obwohl er ein durchaus mondäner Hoteldirektor in einem mondänen Hotel
ist, spricht das Personal nicht anders von ihm als vom
‘Patron’. Es mag den armen Menschen, obgleich sie
ihr ganzes Leben in der Nähe des modernen Kapitals verbringen, sehr
mühsam sein, sich eine Aktiengesellschaft als Brotgeber vorzustellen,
einem abstrakten Begriff, hervorgesprungen aus den dünnen Kolonnen des
Kurszettels, zu dienen und den Mann, der sie aufnimmt und entlässt, der
ihnen das befiehlt und jenes verwehrt, ebenfalls nur für den
Angestellten einer geheimnisvollen Aktiengesellschaft zu halten. Es ist
einfacher, ihn für den Patron zu halten. Wäre er nun wirklich der
Besitzer, ja, wäre er auch nur an der Aktiengesellschaft beteiligt, er
würde, wie ich ihn kenne, sich den populären und provinziellen und die
ganze Größe des Betriebs beleidigenden Titel nicht gefallen lassen. So
aber behagt dem Direktor die Anrede ‘Patron’, sie
schmeichelt ihm sogar.
Derlei Geheimnisse seiner Seele, die ich manchmal zu erraten glaube,
aber auch noch andere sichtbare Eigenschaften des Charakters haben mich
lange gehindert, den Direktor sympathisch zu finden, so, wie ich es
gewollt hätte. Denn die schriftstellerische Objektivität erfordert eine
ganz bestimmte Art von Sympathie für die zu beschreibenden Menschen,
eine literarische Sympathie, deren sich unter Umständen auch ein Schuft
erfreuen kann. Aber mein privates Herz schlägt in einer sentimentalen
(und jüngst wieder etwas unmodern gewordenen) Weise für die kleinen
Wesen, denen man befiehlt und die gehorchen, gehorchen, gehorchen, und
lässt mich selten zu der Objektivität für die großen gelangen, die
befehlen, befehlen, befehlen.“
Doch dann erzählt Joseph Roth:
„Gegen zehn Uhr vormittags kam ein Mann durch die Drehtür in die leere
Halle. Der Direktor stand gerade vor der Tür des Empfangschefs und
wollte sich bereits entfernen. Der arme Mann blieb in der Mitte stehen,
als hätte ihn jemand hingestellt und wieder verlassen. Er trug einen
viel zu langen Überzieher. Die sichtbaren Reste der roten Hände, die aus
den Ärmeln kamen, erinnerten eher an Stümpfe. Das Gesicht war mager,
aber peinlich rasiert und sogar frisch geschnitten. Der dünne Hals
wackelte im viel zu weiten, aber steifen und sehr weißen Kragen. Etwas
tiefer ahnte man (aber man sah nicht) ein weiches, blaugestreiftes,
nicht mehr ganz sauberes Hemd.
Der Direktor sagte zu dem Mann: ‘Gehen Sie hinaus, aber kommen
Sie wieder durch die Seitentür für Gepäckträger
herein!’
Das tat der Mann. Er trat wie aus einer Kulisse. Er benahm sich
überhaupt wie auf der Bühne. Er schnallte ein Gummiband von einer
Brieftasche und entnahm ihr einige Papiere.
Der Direktor befahl dem Mann, sie selbst zu entfalten. Er nahm sie
nicht, strich nur mit einem seiner hurtigen Blicke darüber. Dann
schüttelte er den Kopf.
Der arme Mann ging. Da sagte der Direktor ganz leise:
‘He!’
Der Arme wandte sich um.
‘Kommen Sie dennoch heute zu Mittag, pünktlich
zwölfeinhalb!’
Der Arme lächelte und versuchte, auf dem Teppich eine Art Knicks zu
machen. Dann ging er wieder.
‘He!’ sagte der Direktor noch einmal leise.
Der Arme wandte sich etwas schneller um, zutraulicher als das
erstemal.
Da sprach der Direktor zum Portier: ‘Lassen Sie ihm einen
Milchkaffee geben, komplett!’ und entfernte sich schnell.
Mitten im Gehen blieb er plötzlich stehen und rief, ohne sich
umzuwenden, über die Schulter zurück:
‘Mit Schlagsahne!’
Und verschwand im Kontor.
Seitdem glaube ich zwar noch nicht, dass der Mensch gut ist. Aber ich
habe endlich die nötige literarische Objektivität gegenüber dem
Direktor.“