Er wurde 1915 im mexikanischen Chihuahua geboren. Nachdem der Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, ernährte der 12-jährige Antonio Rodolfo Quinn Oaxaca, der sich später Anthony Quinn nannte, die Familie mit, indem er so ziemlich alles tat, wofür man Geld bekam. Schließlich wurde er Bildhauer, Musiker und Maler, studierte Architektur bei Frank Lloyd Wright und stand als Schauspieler auf der Bühne. Er soll in 300 Filmen mitgewirkt haben; einige bleiben für immer mit seinem Namen verbunden wie La Strada, Alexis Sorbas und Der Glöckner von Notre Dame. Marli Feldvoß hat 1995 mit ihm gesprochen.
Marli
Feldvoß: Mister Quinn, Sie sind ein Überlebender der
Starära, Sie haben mit allen großen Stars gearbeitet. Sie haben auch
Ihren gleichaltrigen Freund Orson Welles in Jahren überrundet. Ihre in
den USA (1995) erschienene zweite
Autobiographie erinnert schon im Titel auf besondere Weise an ihn.
One Man Tango, der Mann, der allein den Tango
tanzt, so hat Orson Welles Sie einmal sehr treffend genannt.
Anthony Quinn: Der Titel bedeutet etwas auf Spanisch und in Latein-Amerika, auf Englisch überhaupt nichts. Man muss etwas vom Tango verstehen, man muss seinen Hintergrund kennen und die Frau verstehen, mit der man tanzt. Es war der Tanz der Prostituierten. Die Männer kamen nach sechsmonatiger harter Arbeit aus den Pampas in die Städte, um den Tango zu tanzen. Die Frauen in den Tanzschuppen trugen verschiedenfarbige Tücher, Orange, Rot und Gelb, um damit ihre Spezialität anzupreisen. Und der Mann suchte sich seine Farbe aus und probierte die Frau beim Tanz aus. Der Körperkontakt gab den Ausschlag. Er probierte solange, bis er eine Frau fand, die seinem Körperspiel entsprach. Ich meine das ganz wörtlich. Tango ist ein sehr persönlicher, ein einzigartiger Tanz. Wenn man dagegen den Walzer nimmt – da ist man zwei Fuß voneinander entfernt. Kein Tanz gleicht dem Tango, auch nicht der Sirtaki. Man ist ganz ineinander verstrickt.
Als ich in dem Film König der Toreros mit
Rita Hayworth den Tango tanzte, verliebte sich Orson Welles in sie. Sie
war eine Freundin von mir, deshalb bat er mich um ihre Telefonnummer. Er
hatte sie noch nie getroffen, aber er war entschlossen, sie zu
heiraten. Seltsam. So, als wenn ich mir vorgenommen hätte, Greta Garbo
oder irgendein Model zu heiraten. Er sagte: Tony, ich liebe sie
wirklich, ich will sie heiraten. Tat’s und war drei Jahre
später wieder geschieden. Er nannte mich „One Man Tango“ und meinte
damit, dass ich keinen Partner brauchte, dass ich alles allein
konnte.
Sie kommen aus einfachen Verhältnissen, mussten früh die
Familie ernähren, waren auf sich gestellt. Waren Sie überhaupt auf so
ein Leben als Schauspieler, auf einen Ort wie Hollywood
vorbereitet?
Keiner ist darauf vorbereitet. Keiner. Und heute ist das
Filmgeschäft wieder ganz anders als damals. Ich muss es ja wissen, ich
kenne das Geschäft, weil mein Vater schon beim Stummfilm gearbeitet
hat. Das Kino ändert sich alle zehn Jahre. Heute wird Kino von Agenten
gemacht. Universal wird von einem Manager von ICM kontrolliert. Wassermann ist ein Agent,
kein richtiger Filmmensch. Aber heute ist er Eigentümer der reichsten
amerikanischen Filmgesellschaft. Deshalb hat sich das Kino verändert. In
Hollywood trägt heute keiner mehr Verantwortung, es gibt dort keine
Filmemacher mehr, außer den jungen Typen, die Jurassic
Park und Star Wars gedreht haben.
Stephen Spielberg und George Lucas. Die meisten Regisseure sind heute
Independents.
Sie haben 1936 als Schauspieler in Hollywood angefangen, war
es damals besser?
Ja, es war besser. Ein Studio-Boss hatte eine Vorstellung
davon, was für Filme er machen wollte. Louis B. Mayer zum Beispiel, der
Chef von MGM, hatte eine Schwäche
für Musicals, Singing in the rain. Das entsprach
seiner Mentalität. Oder Jack Warner, der sich auf hartgesottene
Gangsterfilme spezialisierte. Oder Columbia-Boss Cohn, der alle in
Hollywood herausforderte. Aber alle unterlagen einem Gesetz, das ein
Mann namens Green aufgestellt hatte. Dass man nicht länger als 15
Sekunden küssen durfte und wenn das Ganze im Bett stattfand, hatte ein
Fuß sichtbar auf dem Boden zu sein. Es gab moralische Gesetze. Der Gute
hatte immer Recht, und der Bösewicht musste ins Gras beißen. Diese
Gesetze waren Religion. Heute gibt es keine Gesetze mehr. Ein Mann, der
schwanger ist – soll das ein Film sein?
Sie haben erst sehr spät, erst um die vierzig herum, den
Durchbruch zum Weltstar geschafft. Fellinis La
Strada gab den Ausschlag. Warum hat es solange
gedauert?
Ich habe vielleicht dreihundert Filme gedreht. In den ersten zehn Jahren war ich in Hollywood bei praktisch allen Studios unter Vertrag, außer bei MGM. Bei Warner Brothers, Columbia, Paramount, Twentieth Century Fox, RKO. Ich war ein Nebendarsteller, das, was man einen „supporting actor“ nennt. Ich habe zwei Oscars als Nebendarsteller erhalten. Aber ich mag diesen Titel nicht. „Supporting actor“, einer, der einen Star unterstützt.
Sie sind Deutsche, Sie hatten auch ein ethnisches Problem. Es
gab und es gibt noch immer ein ethnisches Problem in Amerika. Es gibt
eine Reihe von wunderbaren ethnischen Schauspielern (ethnic
actor), die niemals Stars werden, weil sie Latinos sind oder
einen Latino-Hintergrund haben. Raoul Julia wurde aus diesem Grund nie
ein Star. Er war Puerto-Ricaner. Welcher ethnische Schauspieler könnte
sich für 200 Millionen einen Flop leisten, der nichts einspielt? Aber
jemand wie Kevin Costner kommt ungeschoren davon.
Wie ist es mit den afro-amerikanischen Schauspielern? Die
scheinen doch einen viel besseren Stand zu haben.
Die schwarzen Schauspieler waren am intelligentesten. Sie haben
dafür gekämpft, dass sie mit einem bestimmten Prozentsatz in Film und
Fernsehen vertreten sind. Sie haben mit ihrer Gilde gegen die
Diskriminierung gekämpft. Sie sagten: Wir stellen 40% der Bevölkerung,
also müssen wir auch zu 40% auf der Leinwand vertreten sein. Die
schwarzen Schauspieler haben große Fortschritte erzielt. Die Latinos
sind nicht so gut organisiert. Da sie aus 29 verschiedenen
latein-amerikanischen Ländern kommen, ist das schwer zu machen. Es gibt
insgesamt viel mehr Latinos als schwarze Schauspieler, aber sie kämpfen
nicht um ihre Rechte. Ich kämpfte für meinen Platz, indem ich Amerika
verließ und in Italien, Griechenland und Ungarn gedreht habe.
Sie sagen selbst, dass von den 300 Filmen, die Sie gedreht
haben, nur 75 erwähnenswert seien. Aber ich finde, dass Sie oft besser
sind als der Film.
Das ist interessant, dass Sie das sagen. Viele Leute finden das
falsch. Man sollte nicht besser sein als der Film, man sollte einen
Farbton im Film abgeben. Ich verfolge das gleiche Prinzip beim Malen. In
der Malerei darf auch nicht ein Element herausstehen, es sei denn, es
ist das Thema. Aber oft verkörpere ich nicht das Thema des Films,
sondern bin eine ergänzende Farbe, nicht die bestimmende. Wenn man seine
ganze Persönlichkeit in eine Rolle legt, wird das Gleichgewicht des
Films gestört.
Sie behaupten auch, dass Sie kein konkurrenter Schauspieler
sind. Aber war das in Ihrem Verhältnis mit Marlon Brando nicht anders?
Hatten Sie nicht ein Problem mit Marlon Brando? Sie haben ja beide den
Stanley Kowalski in Tennessee Williams Endstation
Sehnsucht gespielt.
Ach wissen Sie, das sind doch alles Legenden. Wir, Sie und ich,
wir stricken doch beide an der Legendenbildung. Ich erinnere daran, was
Fellini eines Tages zu mir gesagt hat, als ich gerade ein Interview
gab: Warum erzählst Du die Wahrheit? Weißt Du nicht, dass sie nicht die
Wahrheit drucken, sondern die Legende. Du solltest Geschichten erfinden,
ihnen wunderbare Lügen erzählen, das werden sie drucken: Das Erfundene.
Wir leben in einer Scheinwelt. Erzähl’ ihnen nur nicht die
Wahrheit, wie hart die Arbeit ist, dass wir morgens um sechs Uhr
aufstehen müssen, in die Maske, dann auf den Set gehen, müde werden,
erzähl’ ihnen das ja nicht. Erzähl’ ihnen, wie
wunderbar das alles ist, die Agenten, die Rollenangebote, das ganze
Theater. Er hatte Recht.
War Fellini für Sie der größte Regisseur ?
David Lean war der beste Regisseur. Er hatte die größte Vielfalt von allen, mehr als Fellini. Fellini war ein Gefangener seines Auges, und er war besessen von seiner Jugend. Sehen Sie, wer ihn dargestellt hat. Marcello hat nie Fellini gespielt. Marcello spielte immer Marcello. Meinen Sie, dass sich Fellini als „latin lover“ gesehen hat? Nein, er sah sich als der kleine Junge, der in die dicke Lady verliebt war.
Aber zurück zu Marlon Brando. Er ist einer der am besten aussehenden Männer, die ich je getroffen habe. Ein Junge mit einer unglaublichen Courage, der Dinge auf der Bühne tat, die nie einer zuvor getan hat. Er kratzte sich auf der Bühne, dann sprach er so leise, dass sich die Leute vorlehnen mußten, um ihn zu verstehen. Er war wie ein Magnet. Einfach wundervoll. Und dann sollte ich auch den Kowalski spielen. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, weil ich dachte, dass es zwischen mir und Marlon Ähnlichkeiten geben müsse.
Das erinnert mich an die Geschichte von Picassos Vater, der sein Brot als Maler verdiente. Und eines Tages, als sein Sohn 14 oder 15 war und ein Bild malte, fragte ihn sein Vater, wer das gemalt hätte. Ich, sagte Picasso. Und sein Vater gab ihm daraufhin alle seine Farben und Pinsel und sagte: Von jetzt an bist Du der Maler, nicht ich. Ich kann nicht malen, aber Du. Und Picasso sah ihn an und fragte: Warum gibst Du mir all Deine Farben und Pinsel? Weil ich nicht mehr malen werde. Darauf Picasso: Ich ändere meinen Namen. Du bist ein Feigling, weil Du aufgibst, nur weil Du denkst, dass ich besser male. Ich möchte von jetzt an Picasso heißen. Er nahm den Namen seiner Mutter an.
Sie haben mich nicht weggeschickt, weil ich nicht wie Marlon
Brando war, sie wollten mich haben. Und so habe ich mir die Rolle auf
meine Art angeeignet. Ich bin neidisch. Ich bin nicht mit Marlon Brandos
Aussehen geboren, ich hatte nicht seine besonderen Talente. Ich kenne
seine Schwächen. Aber warum über seine Schwächen reden, wenn seine
Stärken als Schauspieler so viel größer sind. Es ist albern, eine
Konkurrenz zwischen uns aufzubauen. Ich habe andere Schauspieler
beneidet, aber ich habe nie mit ihnen konkurriert. Weder mit Clark Gable
noch mit Gary Cooper, den ich sehr bewunderte. Mir gefiel, wie er sich
bewegte, wie er sprach. Ich habe versucht, meine eigenen Manierismen zu
finden. Es hat mich viele, viele Jahre gekostet, meine eigene
Persönlichkeit zu finden. Aber ich denke, jetzt habe ich sie endlich
gefunden. Ich reagiere heute sehr gelassen darauf, ob man mich mag oder
nicht. Das bin ich gewöhnt. Ich bin daran gewöhnt, dafür bestraft zu
werden, dass ich ein Einwanderer in Amerika bin.
Sind Sie altmodisch?
Weit gefehlt. Wenn überhaupt, bin ich ein Prophet. Ich kann Ihnen voraussagen, was in den nächsten 25, 50 Jahren geschehen wird. Revolutionen. Jedes Land wird seine Revolution erleben. Weil alle unsere Wertvorstellungen, Religionen, Geld, alles, was wir heute für so wichtig halten, einen Bedeutungswandel durchlaufen wird. Unsere Lebensart wird sich ändern.
Wer hätte gedacht, dass Deutschland in zwei Länder geteilt
würde und damit vierzig Jahre leben könnte? Nein, erklären Sie nichts,
denn genau so sehen die kommenden Veränderungen in dieser Welt aus.
Sehen Sie sich Amerika an. Die Republikaner und die Demokraten bekämpfen
sich zu Tode, weil sie in zwei Jahren die Wahl gewinnen wollen, um das
Land auf ihre Art zu regieren. Meinen Sie nicht, dass das eine
Revolution ist?
Das ist Ihre Definition von Revolution. Ich habe eine andere,
positiv besetzte Vorstellung von Revolution.
Ich kenne ganz Amerika, jeden Staat, jede Stadt. Ich sehe es. Da ist heute eine große Angst in Amerika wegen der Bombenattentate, Angst vor der Gewalt. Man lebt in ständiger Gefahr. Man weiß nicht, wo die nächste Explosion hochgeht.
Sehen Sie, was man in Amerika angerichtet hat, sie haben alle
Indianer umgebracht, finden Sie das gut? Sie werden dafür bezahlen
müssen. Jede Schuld muß gesühnt werden. Das ist meine Überzeugung. Man
kann nicht einfach sagen: Wir nehmen die Forellen aus dem Fluß und tun
dafür Lachs hinein. Das ist in Amerika geschehen. Sie haben die Indianer
umgebracht, um das Land zu säubern. Wie kann man mit so etwas leben?
Sie reden darüber, wie der Wald vernichtet wird. Sie sind es, die
vernichten.
Meinen Sie das ernst, dass wir für alle unsere Sünden bezahlen
müssen?
Amerika soll sich mit diesen Fragen im Kino beschäftigen. Der
Neorealismus hat diese Fragen damals in Italien aufgegriffen. Als ich
La Strada gedreht habe, hat es angeblich keinen
Faschismus in Italien gegeben. Wir dürfen nicht die gleichen Fehler
machen. Man muß sich selbst realistisch betrachten. Wir haben neulich
abends darüber gesprochen, wie Deutschland seinen Weg zurück in die
Filmindustrie finden könnte. Ich sagte: zuallererst muß man den Mut
haben, sich selbst zu kritisieren. Es gibt kein Land, das keine
Konflikte hat. Man muß Geschichten über Konflikte erzählen. In Amerika
machen wir Filme über unsere Konflikte. Deshalb wird Amerika immer die
Nummer Eins in der Welt-Filmproduktion sein. Die Kamera hat keinen
politischen Standpunkt, der Film hat keinen politischen Standpunkt. Es
gibt nur den politischen, den philosophischen Standpunkt, den der
Künstler hineinlegt.
Lieben Sie die Kamera?
Es gibt viele Schauspieler, die die Kamera besser kennen als
ich. Anna Magnani und Ingrid Bergman kannten die Kamera sehr gut. Ich
wollte die technische Seite der Kamera nie so genau kennenlernen. Ich
habe einmal Regie in einem Film mit Charles Boyer geführt. Er wollte nur
von der linken Seite fotografiert werden. Ich fand, dass er auf beiden
Seiten gut aussah. Die Kamera ist eine Röntgen-Maschine. Sie schaut in
deine Seele, sie sieht alle deine Fehler. Wenn man älter wird,
entwickelt man zwangsläufig solche Manierismen, die der Kamera nicht
gefallen. Das Gesicht und die Augen fangen an zu zucken.
Aber Sie machen doch einen sehr ruhigen Eindruck.
Das ist alles Training. Wenn ich fotogafiert werde, versuche
ich immer, die Kontrolle zu behalten, auch während des Interviews. Ich
versuche, die Kontrolle zu behalten, weil das mein Leben ist. Ich will
nicht, dass die Welt alles von mir weiß. Die Kamera mag manche Seiten
von mir, andere nicht. Ich bitte die Kamera darum zu verstehen, dass ich
nicht mehr 45 Jahre alt bin, nicht einmal mehr 60, dass sie einige
meine Fehler übersieht und dafür die guten Seiten einfängt. Ich spreche
mit der Kamera. Ich gebe es nicht so gerne zu. Ich habe oft genug
falsche Entscheidungen vor der Kamera getroffen und versuche, mich davor
zu bewahren.
Sie machen weiter. Obwohl Sie wissen, dass der Starruhm
vergänglich ist, obwohl Sie Stars vorwerfen, dass sie oft keine
Persönlichkeit haben.
Wie bei Marilyn Monroe, sie hatte keine Persönlichkeit. Aber um
sie ist etwas Mysteriöses. Ihr ganzes Leben wurde zur Tragödie. Sie ist
heute populärer als Greta Garbo und wird womöglich eines Tages heilig
gesprochen. In fünfzig oder hundert Jahren ist sie eine wahre Göttin.
Ich habe sie nie besonders verehrt. Aber die Kamera liebte sie. Sie
liebte Marilyn Monroe mehr als jede andere Schauspielerin. Ich schätze
sie als Star vor der Kamera. Die Kamera machte sie zum Star, aber ihr
persönliches Leben war armselig. Muß man so armselig sein, um berühmt zu
werden. Ich wollte nicht so armselig leben, nur um Anthony Quinn zu
sein. Für mich steht das Leben an erster Stelle. Ich habe nie Drogen
genommen, war nie alkoholabhängig. Als „womanizer“, als Verführer, halte
ich den Hollywood-Durchschnitt. Ich kenne so viele
Hollywood-Schauspieler, die außereheliche Kinder haben und es nicht an
die große Glocke hängen. Ich kann mit solchen Geheimnissen nicht
leben.
Wie haben Sie das gemeint, dass Sie sich als Prophet sehen?
Meinen Sie das wirklich ernst?
Ja, ich glaube, dass ich diese Gabe habe, dass ich sie mir verdient habe. Isaac Newton löste eine große Revolution aus, als er unter einem Baum saß und einen Apfel herunterfallen sah. Oh, ich habe die Schwerkraft entdeckt, sagte er. Und die ganze Welt sprach über die Schwerkraft, und er veränderte die ganze Welt. Aber dann fanden sie heraus: Es stimmt nicht. Dann kam Mr. Einstein, einer meiner großen persönlichen Helden, und entdeckte die Relativitäts-Theorie. Und alle sprachen darüber, wie sich der Weltraum an einer Stelle im Universum begegnet. Aber dann hieß es wieder: Es stimmt nicht. Die großen Geister sind auch nur in ihren Gedanken gefangen.
Hier stehe ich am Ende eines Jahrhunderts, dessen Probleme ich alle miterlebt habe. Ich wurde selbst in einer Revolution geboren, als die Menschen wirklich für ein Anliegen gekämpft haben, für ein Stück eigenes Land in ihrem eigenen Land. Die Mexikaner lebten auf den großen Haziendas, die den Großgrundbesitzern gehörten. Sie besaßen nicht einmal ein Stück Dreck, alles gehörte dem Boss. Das war ein gerechter Krieg. Die Revolution hat zwar kein gesundes, aber ein neues Mexiko hervorgebracht. Meine eigene Philosophie ist ein Überbleibsel. Ich habe so viele Menschen getroffen. Die griechische Königin war meine persönliche Freundin, die mexikanischen Präsidenten waren persönliche Freunde. Jimmy Carter ist ein persönlicher Freund, Ronald Reagan, John F.Kennedy, Roosevelt, alles persönliche Freunde. Sie alle haben ihren Stempel auf mir hinterlassen. Ich kann gar nicht sagen, wer dieser Anthony Quinn eigentlich ist. Ich bin ein Produkt all dieser Winde, die mich umweht haben.
Sie haben gefragt: Sind Sie ein Prophet? Ich glaube, das wollte
ich immer sein, mehr als ein Schauspieler, mehr als ein Maler. Ich will
Spuren in der Zeit hinterlassen. Nicht ich, Tony Quinn. Aber ich möchte
wissen, wie das Leben einmal aussehen wird, nicht wie es heute
aussieht. Das weiß ich nur allzu genau. Es ist krank. Die Zeit ist
krank. Wir können keinen Fisch mehr aus dem Meer essen, wir können
bestimmte Früchte nicht mehr essen, weil sie vergiftet sind. Wir können
bestimmte Rosen nicht mehr berühren, weil sie in Kolumbien oder sonstwo
in Südamerika mit Gift behandelt wurden. Sie sind wunderschön, aber sie
haben keinen Duft mehr. Das Meer ist vergiftet. Es gibt ein Bermuda-Loch
zwischen Amerika und den Karibischen Inseln. Es gibt ein Loch in der
Atmosphäre. Es entsteht ein neues Loch in Chile. Ich sehe das alles. Ich
sehe es. Ich sehe den ganzen Jugoslawien-Konflikt, keiner kann damit
umgehen, keiner will intervenieren, Deutschland, Frankreich, die
UNO, keiner. Das ist doch krank.
Einfach krank. Wie kann ich da kein Prophet sein.

Das Interview wurde am 11. August 1995 in Muggendorf,
Fränkische Schweiz als Hintergrund für ein Porträt im FAZ-Magazin (15.12.1995) geführt. Als
Interview gesendet in BR 2 Kultur.