Oxymorisch veredelt der Titel der Ausstellung „heilige Scheiße“ mit dem Künstler Michael Kalmbach die verbindende Kraft menschlicher Ausscheidungen. Gezeigt werden groß- und kleinformatige Aquarelle sowie Skulpturen aus Pappmaché. Die neuen Werke tragen das Abgeben im Zentrum. Das Abgeben von Gedanken oder Exkrementen. Die Figuren denken oder scheißen. Es entsteht und zerfällt. Und aus ihren Körperöffnungen, mental oder physisch, strömt Zeitlichkeit und laufen Bahnen, mal in geordnete Richtungen, mal nicht. Die Löcher der menschlichen Somata, gerade in den Aquarellen, wirken wie Ausbrüche; Gewirre, die auf ein Zentrum zulaufen oder aus dem sie herauswirbeln. Diese wolkenhaften Auswucherungen sind das verbindende Glied zwischen ihnen allen.
Schon ein
erster Blick auf die in der Thomas Rehbein Galerie ausgestellten Werke
zeigt, dass es
Michael Kalmbach mit dem Ausstellungstitel nicht nur um einen
allgemeinen Ausdruck des Erstaunens geht, sondern tatsächlich um die
künstlerische Verquickung des Hohen und Niedrigen, des Reinen und
Unreinen, des Heiligen und Abjekten, kurz: um die Amalgamierung
gegensätzlicher Kunst-, Wissens- und Empfindungsfelder.
Stets ist in den Zeichnungen, Malereien und Skulpturen des in Berlin
lebenden Künstlers der Körper Dreh- und Angelpunkt eines faszinierenden
Spiels von oralen und analen Ein- und Ausschlüssen, wobei die
Ausscheidungen nicht selten zu einem dynamischen Kreislauf und
einheitlichem Kraftfeld verschmelzen. Das leichthin mit Geschissenem und
Erbrochenem assoziierte Unästhetische und Unhygienische, das
Widerwärtige, die Abscheu, ausgeprägte Schmutz- und Ekelvorstellungen
verflüchtigen sich in der intensiven Betrachtung der Werke jedoch bald.
An ihre Stelle tritt die Aufmerksamkeit für raffinierte Form- und
Farbspiele und erzählerische, symbolhafte Andeutungen von
Zusammenhängen, die älter sind als alles Abstoßende und Trennende, das
gemeinhin mit den im Alltag tabuisierten Körperausscheidungen verbunden
wird.
„Holy Shit“ klingt weniger drastisch als „Heilige Scheiße“, aber hier
wie dort ist die indogermanisch etymologische Wurzel von Scheiße skei.
Skei steht für separieren, trennen und unterscheiden. Science (oder
Naturwissenschaft) wird gekennzeichnet durch separieren, trennen und
unterscheiden. Schisma, Schizophrenie sind ebenfalls Beispiele, die in
unserer Sprache auf skei gründen. Shit oder Scheiße ist also das, von
dem wir uns trennen wollen, mit dem wir nichts mehr zu tun haben wollen.
Fragen wir aber, was die Komplemente zu trennen, separieren,
unterscheiden sind, dann kommen wir auf vereinen, verbinden,
vereinheitlichen, also auf eine Form des Denkens, in der das Integrative
im Mittelpunkt steht. Auf ein Denken in Zusammenhängen, ein
kontextuelles Denken. Auf Synthese. Kalmbachs Bilder sind Ausdruck einer
Haltung, die die Dinge im Zusammenhang sehen will. Das Gebende und das
Empfangende, das Formlose und Geformte wechseln in seinen Bildern
ständig die Rollen, ergänzen sich und sind oft beides in
einem.

Die hockenden Figuren
Der durch die Ausscheidung ausgelöste Schub hat seinen Urheber, eine „Hockende Figur“ (2021/14), raketenartig auf die größtmögliche Höhe katapultiert. Mehr scheint der eruptive Ausstoß der Exkremente nicht herzugeben und damit ist die maximale vertikale Ausdehnung, der dynamische Höhepunkt erreicht. Wir ahnen, dass sich im nächsten Moment die Umkehrung der Kräfte vollziehen und die Schwerkraft das Geschehen dominieren wird. Thematisiert wird also ein „fruchtbarer Moment“ im doppelten Sinn, weil nicht nur das Vorausgegangene und Kommende sich in der Vorstellung verknüpfen, sondern noch etwas Neues, Unvordenkliches hinzukommt. Wie dieses Neue aussehen könnte, wird bei einer anderen Figur deutlich, bei der sich die Ausscheidungen nicht weiter strecken und dehnen, sondern wieder in Richtung einer bestimmbaren, skulpturalen Masse zu verdichten beginnen. (Hockende Figur 2022/11) Dieser Prozess der formalen Komprimierung ist bei einer ebenfalls als „Hockende“ bezeichneten Figur (2022/12) bereits so weit fortgeschritten, dass das anthropomorph anmutende körperliche Etwas unter seinem After mit an Darmwülste gemahnenden Fußgliedern kurz vor der Abnabelung von seinem „Schöpfer“ und der Entlassung in ein unabhängiges Sein zu stehen scheint.
Das Zyklische
Zu den beeindruckendsten Plastiken gehört eine kleine, nackte männliche Figur mit dem Titel „Ewigkeit“. In drei Schwüngen scheint sie mal schneller, mal langsamer und bis in alle Ewigkeit auf einer durch ihre Ausscheidungen selbstgeschaffenen, kurvenreichen Flugbahn zu gleiten und dabei ihr Dasein lustvoll zu bejahen. Sie spielt mit verschiedenen althergebrachten Darstellungen eines zyklischen Zeitverständnisses und evoziert das Bild einer sich in den Schwanz beißenden Schlange, einer Darstellung des Ouroboros, über das Nietzsche sagt, es sei ein Bild, das zeige, dass allem Zukünftigen das Vergangene in den Schwanz beißen muss. Ja, vielleicht ist es sogar erlaubt, mit einem Augenzwinkern hier an Nietzsches Gedanken von der ewigen Wiederkunft zu verweisen.
„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Der Genesende, 2. Kapitel, Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechter, München 1982, S. 463)

Die
Vision der ewigen Wiederkunft ist jedoch nicht nur Lebensbejahung,
sondern verdeutlicht auch etwas sehr Erschreckendes, denn neben dem
Hohen muss auch alles Niedrige wiederkehren. So wie Zarathustra dem
gedanklichen Ungeheuer, das ihm da in den Schlund gekrochen war und ihn
würgt, schließlich den Kopf abbeißen muss, um sich zu befreien, so
könnte sich auch die in der Endlosschleife gefangene Figur von Kalmbach
durch einen kräftigen Biss von ihrer Bestimmung lösen. Aber das scheint
sie gar nicht zu wollen. Indem ihr Schlund und After Ausgangs- und
Zielpunkt eines Kreislaufs bilden, wird vielmehr jenes mit zahlreichen
Interpretationen und Auslegungen beschwerte Bild von der ewigen
Wiederkunft hier von allem pessimistischen Ballast befreit und somit
erneut zum Urbild höchster Lebensbejahung.
Im Zyklus „Heilige Scheiße“ von 2022, der sich ebenfalls einem Kreislauf
aus oralen und analen Ausscheidungen verdankt, fällt ein Figuren-Paar
auf, das in einem späteren Aquarell mit dem Titel „Braune Madonna“
(2022/04) noch einmal aufgegriffen wird. Die hier wie dort aus der
dunklen Ursuppe entstiegene weibliche Figur wird als Ziehmutter einer
kleinen männlichen Figur gegeben. An ihrer prallen Brust nährt sich ein
junger Mensch, ein Wesen, das zu jener Spezies gehört, die die braune
Scheiße produziert und sich gleichzeitig von dieser ernährt. Dass die
„Braune Madonna“ durch eine rote Sonnenscheibe im Hintergrund wie mit
einem Nimbus ausgezeichnet erscheint, erhöht ihre Stellung und erinnert
an jene besonders wundersamen „Schwarzen Madonnen“, die im christlichen
Raum die mythischen Aspekte und abgründigen Seiten der reinen,
hellhäutigen Gottesmutter verkörpern. Nigra sum sed formosa. Das die
nährende Madonna möglicherweise selbst eine Kopfgeburt des Knaben ist,
legt ein Blatt mit dem Titel „Christophoruserbauung“ (2022/03) nahe.
Hier formen drei durch Gloriolen gekennzeichnete Heilige aus der dunklen
Materie ihren eigenen Nothelfer und Schutzpatron, von dem sie dereinst
auch tatkräftige Unterstützung erwarten.
Verschmelzungen
Versteht man zunächst unter dem Dionysischen eine Kunst des Rausches, in der jede maßvolle Zusammensetzung verloren geht, in der Selbstvergessenheit und Übersteigerung regieren, dann steht im Kontrast hierzu das Apollinische für das Traumhafte, weil es den Raum des Scheins öffnet, ohne den Bezug auf das subjektive Prinzip aufzugeben. Und ähnlich wie im Spätwerk Nietzsches das Dionysische das Apollinische in sich aufnimmt und schließlich nicht mehr als Gegensatz verstanden wird, so zeigen auch die Kunstwerke Michael Kalmbachs Interesse an einer Verschmelzung der ursprünglich entgegengesetzten, bipolaren Sphären. Vielleicht sind das Paradies und die Hölle am Ende ein und dasselbe, vielleicht findet sich die Einheit der Gegensätze an den Wurzeln des Lebens. Der Mystiker und Philosoph Jakob Böhme schrieb bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts in seinem Mysterium Magnum: „Der heilige Gott und der Gott der Finsternis sind nicht zwei Götter: es gibt nur einen, den einzigen Gott. Er ist in sich selbst ganz Wesen, er ist das Gute und das Böse, der Himmel und die Hölle, das Licht und die Finsternis, Zeit und Ewigkeit, Anfang und Ende.“2 Oder anders ausgedrückt: Heilige Scheiße, das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, das ist die Einheit der Widersprüche, ein Sein, das zugleich nicht ist, ein Ich, das sich gleichzeitig in einem Bündel von Beziehungen auflöst.
Text: Andreas Bee, 2023