Im Titel des Projekts klingt eine quasi biblische Frage an: Was gilt es zu bewahren? Warum ist gerade angesichts einer Krise die Beschäftigung mit den Dingen so wichtig? Wie können wir die Aufmerksamkeit den Dingen gegenüber neu schärfen, den subjektiv-individuellen Blick gegen die groben Strategien der globalisierten Weltordnung behaupten? Das Private versus Welt... Das Gewahrwerden der eigenen Ding-Umwelt, die Vielstimmigkeit der Objekte, ihre vielfältigen Verbindungen zur Zeit bedürfen das Gewinnen einer neuen Übersicht. VON JEDEM EINS ist die Übersetzung dieser Perspektive der Übersicht und der Gleichzeitigkeit der Dinge in ein klanglich-performatives Format.
Neben Oliver Augst und Marcel Daemgen ist Karsten Bott seit Jahrzehnten eine präsente Figur in Frankfurts Kulturleben, so z.B. durch eine Dauerinstallation im Historischen Museum Frankfurt und eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle. Seine Arbeiten wurden ausserdem im Museum Morsbroich Leverkusen oder in der Kunsthalle Kiel sowie im MoMA PS1 New York gezeigt.
Seit 1988 betreibt Bott das sogenannte „Archiv für Gegenwarts-Geschichte“. Dort sammelt er Dinge aus unserem täglichen Leben und katalogisiert sie. Die Gegenstände sind für ihn Geschichtsdokumente der Menschheit; er versucht eine Bestandsaufnahme. Im Unterschied zu einem Museum, behandelt er alle Dinge gleich. Derzeit umfasst das Archiv etwa eine halbe Million Objekte.
Karsten Botts groß angelegtes Sammelprojekt birgt das
Utopische, und es zeugt von obsessiver Energie. Es ist so nah am Leben,
dass ein Ausweichen kaum möglich ist.
Es macht sichtbar, was jetzt auch ein winziges Ding – ein
Virus – schafft: Das Verhältnis zu den Dingen definiert das Verhältnis
zur Welt. Eine Welt, in der das Nahe und das Ferne, das Erreichbare und
das Unerreichbare, das Notwendige und das Entbehrliche neu definiert
sind. Im Außen verändert das Virus die gesellschaftliche Ordnung,
drinnen entsteht eine neue Innerlichkeit zwischen Beengtheit und
Freiheit. Virtualität vermittelt zwischen beiden Sphären, schafft und
ersetzt Verbindung. Die einzig zugängliche Dingwelt war, neben der
Warenwelt des Supermarkts, für die Wochen des Lockdowns das Zuhause.
Durch die Abgeschnittenheit vom Außen entstand eine historisch einmalige
Perspektive auf die Welt der Dinge. Wir saßen wie Karsten Bott auf den
Stegen. Die Verbannung durch das Virus in das eigene Heim schärfte den
Blick auf die Dinge und verursachte ein Bewusstwerden der eigenen
Dingumwelt. Bei vielen war die erste Reaktion auf eine dystopisch
scheinende Welt das Schaffen von Ordnung. Die gegenpoligen Dreiklänge
Sammeln/Archivieren/Erinnern und Sortieren/Entsorgen/Loslassen wurden
geläufige Praktik. Dabei entstanden täglich neue Nachbarschaften
zwischen den Dingen, neue Verbindungsfäden, Ensembles und neue
Kategorien: Erinnerungsstück, Müll, Alltagsgegenstand. Dinge gerieten in
Bewegung, wanderten beispielsweise in tausenden Kisten auf die Straßen
in den öffentlichen Raum.
“Die Weltdinge haben die Aufgabe, menschliches Leben zu
stabilisieren und ihre >Objektivität< liegt darin, dass
sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens (..) eine
menschliche Selbigkeit darbieten, eine Identität, die sich daraus
herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag
veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit
entgegenstehen.” (Hannah Arendt)
Heimatmuseum trifft ARCHIV DEUTSCHLAND
Bott nennt sein Museum der Dinge ein „Heimatmuseum“. Denn was waren
Zahnbürsten, Lockenwickler, Konservendosen anderes als die
Ausstaffierung unseres Heims, unserer näheren Heimat? So gesehen ist der
Supermarkt die Herzkammer dieser Heimat.
An verschiedenen Punkten trifft das Interesse Karsten Botts auf das der
Künstlergruppe textXTND, die nach ähnlichen Prinzipien seit Jahren ihr
Projekt ARCHIV DEUTSCHLAND verfolgt.
Gemeinsam wollen Bott und textXTND nun eine neue Darstellungsform der Ding- Sammlung entwickeln, auch in übergreifenden Medien und Formen. In einem segmentarischen Umgang sollen die Dinge durch den Zugriff der verschiedenen Künstler bearbeitet und in ein anderes Medium, das der musikalischen Performance, übertragen werden.
VON JEDEM EINS ist eine textXTND Produktion, gefördert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das Kulturamt der Stadt Frankfurt (im Rahmen einer Mehrjahresförderung), den Musikfonds e.V., den Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Stadt Offenbach durch ein Stipendium für Solo-Selbstständige in Kunst und Kultur, in Kooperation mit basis e.V.
„Ein Mensch ist reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge,
auf die er verzichten kann.” (Henry David Thoreau)