Der Frankfurter Kunstverein hat zwei aufstrebende Frankfurter Künstlerinnen, Gintarė Sokelytė und Sonja Yakovleva, eingeladen, ihre bisher größte institutionelle Einzelausstellung umzusetzen. Es sind gewaltige Neuproduktionen und autarke Bildräume entstanden, in denen Yakovleva und Sokelytė die Frage nach Macht stellen – welcher Macht Körper ausgesetzt sind und die Macht, die von Körpern im öffentlichen Raum ausgeübt wird.
Kuratiert von Franziska
Nori
Wir leben in einer Zeit der gesellschaftlichen Beschleunigung,
Flexibilisierung und Optimierung. Dieses Diktat nach ständig
gesteigerter Leistung und Effizienz bildet sich nicht in der Arbeitswelt
ab, sondern auch in jeder/jedem Einzelnen.
Sonja Yakovleva fertigt seit Jahren monumentale Scherenschnitte
mit überbordenden Bildkompositionen. Sie wurde durch die Ironie ihrer
pop-feministischen Motive bekannt, welche sich zu einem Manifest
selbstermächtigter weiblicher Körperlichkeit entwickelten. Mit der
aktuellen Ausstellung schaut sie auf Klassenfragen und Machtverhältnisse
in der Leistungsgesellschaft. Yakovleva karikiert den Körperkult, den
Schönheitswahn und den grassierenden Wettbewerb heutiger Fitnesskultur
auf sozialen Medien als Symptom verinnerlichter Normen. In ihren
Bildwelten inszeniert und offenbart sie die Arbeit am eigenen Körper als
Mittel des Leistungsdiktats. Als Gegenpol dazu untersucht die
Künstlerin Arbeit als Notwendigkeit, für Menschen und für das
Funktionieren von Städten und der Gesellschaft als Ganzes. Sie
beschäftigt
sich mit der Möglichkeit eines Streiks, in dem vor allem migrantische
Arbeiter:innen die Ausbeutung ihrer Körper in der Öffentlichkeit
verweigern und sich in Solidarität zusammenschließen, um Veränderungen
zu bewirken.
Gintarė Sokelytė zeichnet und malt, sie ist Bildhauerin und
Filmemacherin. Der Körper und dessen innere Landschaften bilden schon
immer den Kern ihrer Untersuchung. Er wird als Instrument betrachtet,
durch das das Selbst die Welt und seine eigene Existenz erfährt. Für den
Frankfurter Kunstverein hat Sokelytė einen gänzlich in sich
geschlossenen Parcours aus architektonischen Interventionen, Skulpturen
und Videoarbeiten geschaffen, in den sie uns eintreten lässt. Sie fragt
nach der Macht unausgesprochener Ängste und wie sie gebannt werden kann.
Sokelytė forscht nach einem zeitlosen Drang, mit dem sich der Mensch
gegen das Ungewisse durch Ordnung und Form widersetzt. Ihre menschlichen
Figuren sind das Feld, auf dem die Macht eines ewigen Kampfes
ausgetragen wird. Sie hinterfragt, was die menschliche Existenz ausmacht
und was der Mensch ist, wenn er nicht von seinen selbst geschaffenen
Ordnungsstrukturen getaktet wird.
Wer hat Macht? Körper im Streik ist eine Einladung, sich durch die Werke von Sonja Yakovleva und Gintarė Sokelytė Phänomenen der heutigen Zeit sinnlich zu nähern. Die Ausstellung ist eingebettet in die programmatische Ausrichtung des Frankfurter Kunstvereins, der sich für die Förderung junger Kunst aus Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet einsetzt und dabei innovative Perspektiven auf gesellschaftliche Fragen präsentiert.
In der Doppelausstellung Wer hat Macht? Körper im Streik bespielen Sonja Yakovleva und Gintarė Sokelytė jeweils eine Etage des Frankfurter Kunstvereins.

AUSSTELLUNGSPARCOURS
Sonja
Yakovleva hat neue Werke geschaffen und über drei Räume
eine monografische Präsentation entwickelt. Seit mehr als zehn Jahren
perfektioniert sie die Kunst des Scherenschnittes. Sie überführt dieses
historische Medium in die absolute Gegenwärtigkeit. Für den Frankfurter
Kunstverein hat Yakovleva ihren Blick und ihre intensive Recherche auf
neue Bereiche gerichtet.
Als ersten thematischen Schwerpunkt ihrer neuen Werke hat
Yakovleva mit Bildern aus Instagram Fitness Feeds gearbeitet. Das
zentrale Element ist der Körper als optimierbare Materie. Der
Selbstdarstellungskult, der sich mit Verrenkungen und Überdehnungen der
eigenen Körper äußert, wird zum Motiv und künstlerisch überzeichnet.
Yakovleva eröffnet den Ausstellungsparcours mit
Gym bro und
Pink sexy gym boot
camp, zwei überdimensionalen Figuren aus dem
Körperkult der Fitnesswelten. Zwei Silhouetten, eine männliche und eine
weibliche, in der Pose des Muskeln flexens – Körper aus der CrossFit
Welt – bigger than life, muskulös, stark und geformt. Zwischen
Selbstinszenierung und Empowerment verkörpern die Figuren die Zwänge
digitaler Netzkulturen mit ihren Körper- und Schönheitsidealen. Anhand
von Beauty-Filtern und der Übertreibung einzelner Merkmale passen
Menschen die digitalen Abbilder ihrer eigenen Körper an die
entsprechenden Normen an – ein Zeitgeist Phänomen ist einstanden:
Snapchat-Dysmorphia.
In einem zweiten Raum erschafft Yakovleva ihre
Schattenbildarbeit zum ersten Mal als Deckeninstallation. In
INSTAREXIE
erkundet Yakovleva Fitnesswelten als Orte und Bühnen solcher
Körperinszenierungen. Sechs Bildflächen mit insgesamt 240 Kacheln
komponieren das monumentale Motiv. Die Besucher:innen werden eingeladen,
die im Raum verteilten Trainingsgeräte als Liegemöglichkeiten zu
verwenden. Die Deckenareale zeigen Boutique Gyms,
in sich geschlossene Fitnesswelten mit differenzierten
Community-Ästhetiken – Barry’s Bootcamp, Urban Heroes, Pilates
Fused und unzählige mehr. Yakovleva portraitiert in ihren
Scherenschnitten diejenigen, die fanatisch Körperarbeit unter den
Blicken der Anderen ausüben, sowie die Orte, in denen quantifizierte
Leistungssteigerung durch Coaches, Headsetkommandos und präzise
Taktungen angetrieben wird. Die großflächigen Spiegel, transparenten
Glasfassaden und allgegenwärtigen Handykameras dienen nicht nur als
perfekte Kulissen für die Präsentation des Körpers. Sie dienen auch der
Selbstkontrolle, zum Vergleich, zum Antrieb und der Konkurrenz.
Yakovlevas monumentale Bildwelten verdichten und komprimieren, zitieren
und karikieren Fitnesswelten.
In einem dritten Raum hat Yakovleva eine über 10,5 Meter lange
Wandarbeit geschaffen. Mit State of
Strike fragt sie nach einer Stadt, in der die
Arbeiter:innen ihre schlecht bezahlte Arbeit verweigern, mit ihren
Körpern die Straßen besetzen. Die Macht des Körpers wird hier zu einer
politischen, vielleicht transformatorischen. Zu sehen ist ein dichter
Strom an Menschen und eine Stadt, in der Onlineversandhandel,
Fleischindustrie, Lieferdienste, Kitas, Krankenhäuser, Baustellen,
Gebäudereinigung, Gastronomie auf engstem Raum verdichtet wurden. Die
Stadt wird hier als Symbol der Moderne und der Gesellschaft dargestellt.
Yakovleva treiben die Widersprüche einer zunehmend flexibilisierten und
von Unsicherheit gezeichneten Arbeitswelt um. Menschen, vor allem
Personen mit migrantischer Geschichte, sind oft dazu gezwungen
schwierige Arbeitsverhältnisse anzunehmen, die von schlechten
Arbeitsbedingungen bestimmt sind. Was wäre, wenn nicht nur die
gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, sondern auch sie die
Arbeit niederlegen würden?
Die Darstellung einer abstrakten Macht, die unser
Zusammenleben strukturiert und in Körpern eingeschrieben ist, ist auch
das übergeordnete Thema der neuen Werke von Gintarė
Sokelytė. In der oberen Etage des Frankfurter
Kunstvereins hat Sokelytė eine geschlossene Welt erbaut, die nur durch
den Aufzug von den Besucher:innen erreicht werden kann.
Der Parcours beginnt mit der mehrteiligen
Installation Asterisk.
Wenn sich die Tür des Aufzugs öffnet, befindet man sich in einer
vorzeitlichen Höhle, einer Rekonstruktion der südafrikanischen Blombos
Höhle. Blombos ist die älteste steinzeitliche Fundstätte, in der
Zeugnisse menschlicher Kreativität und Kultur entdeckt worden sind. Der
Höhlenkorridor führt die Besucher:innen zu einer großen geometrischen
und begehbaren Skulptur, in der fünf Filme gezeigt werden. Sokelytė hat
fünf Menschen, fünf Freiwillige, an Armen und Beinen an einer
Metallskulptur festgebunden und beim Beantworten von Fragen zu Angst,
Macht und Ordnung gefilmt. Jede:r sucht in seinem/ ihrem tiefsten
Inneren nach Antworten, während der unbekleidete Körper dem Zwang, dem
Schmerz der Fesselung und der Kamera unterworfen ist.
Die Form der begehbaren Skulptur ist ein Dodekaeder – eine
geometrische Konstruktion mit zwölf gleichgroßen Flächen und dreißig
gleichlangen Kanten. Sokelytė hat das Innere des Dodekaeders mit
zahlreichen Textkopien von internationalen Staatsverfassungen und
Gesetzessammlungen, von der Prähistorie bis in die Gegenwart,
ausgekleidet. Für die Künstlerin definieren sie einen Übergang in der
Menschheitsgeschichte hin zu der normativen Ordnung für das
gemeinschaftliche Leben. Der Dodekaeder bildet somit für die Künstlerin
einen konzeptionellen Gegenpol zur Ursprünglichkeit der Höhle.
Durch einen zweiten, schmaleren Durchgang führt die Höhle in einen zweiten Raum, in dem die Großinstallation A-Type Complex mittig im Raum steht. Menschliche Figuren stehen aufrecht oder sitzen in einer iglu-artigen Halbkugelarchitektur. Sie ist aus geborgenen, rostigen Baugittern geflochten. Sokelytės Figuren sind weder weiblich noch männlich. Sie sind keine Individuen, sondern Formen des Menschseins. Die Skulpturen sind aus Gips gefertigt und wurden mit ausgebranntem Maschinenöl bemalt, sie sind offen, roh und durchlässig. Sie erinnern an Überlebende einer Katastrophe.

An
der Wand befindet sich das dreidimensionale Werk
25, ein fünf Meter
langes schwarzes Wandrelief. Ein dichtes Gebilde aus Architektur,
geometrischen Strukturen, Ruinen aus Gittern und Stein und einem
Menschenstrom, der sich durch die Konstruktion windet. Sokelytė hat es
aus Fundmaterialien gebaut. Auch das Wandbild ist durch verbrauchtes
Motoröl geschwärzt.

Die
von ihr verwendeten Wertstoffe, wie Motoröl und Steinkohle, verkörpern
die Zeit in sich – von ihrer urzeitlichen Entstehung vor 350 Millionen
Jahren über ihre Rolle als Katalysator für die menschliche
Energiegewinnung in der Frühzeit bis hin zur Nutzung als Rohstoff und
Treiber für die toxischen Umweltauswirkungen der Industrialisierung im
Zeitalter der Maschinen. Zeit und Vergänglichkeit, Vergangenes und immer
Wiederkehrendes als ewiges Prinzip allen Lebens.