Das Regina Busch Ensemble zeigt die Szenische Lesung: „Eva Demskis 'Scheintod': eine Suche" am 30.11.2021 um 18.30 Uhr im Internationalen Theater Frankfurt. Die Produktion ist eine Kooperation mit „Frankfurt liest ein Buch" und dem Internationalen Theater.
Der
Roman „Scheintod“ ist ein politisches Zeitzeugnis Frankfurts während der
Unruhen Anfang der 70er Jahre und enthält eine differenzierte und
facettenreiche Schilderung des linken Milieus dieser Zeit. Ausgangspunkt
ist der plötzliche Tod des jungen aufstrebenden Anwalts Reiner Demski,
Ehemann von Eva Demski, der Gudrun Ensslin von der RAF bzw. Mitglieder der RAF-Sympathisantenszene vertrat, zudem aber
auch Kriminelle und Prostituierte, Rocker, Junkies und
Strichjungen.
In Tagebuchform erzählt Eva Demski aus ihrer weiblichen Perspektive den
äußerst schwierigen Selbstfindungsprozess von sich als Witwe, gegliedert
in zwölf Kapitel, die jedem der zwölf Tage von seinem Tod bis zur
Beerdigung gewidmet sind. Sie entdeckt auf ihrem Recherche-Weg in die
Vergangenheit die für sie bis dahin unbekannten Seiten im Leben ihres
Mannes. Dieser Weg zu den unterschiedlichsten Orten, die für ihren Mann
wichtig waren, wird zu einer Reise zu sich selbst. Sie erlebt noch
einmal zentrale Stationen ihrer Beziehung. Als Reiner Demski stirbt,
leben sie schon seit drei Jahren getrennt. Mit seinem Tod steht Eva
Demski vor einem gewaltigen Chaos. Die Umstände seines Todes sind
ungeklärt. Die Polizei ermittelt. Bald gerät die Witwe selbst ins Visier
der polizeilichen Ermittlungen, wird der Mitwisserschaft an politischen
Aktivitäten verdächtigt, während sie verschlüsselte Botschaften aus dem
politischen Untergrund erhält. Alle, Polizei und zwielichtige Klienten,
suchen nach einer Aktentasche mit “brisanten”
Unterlagen. Sie entdeckt durch einen Zufall in den Kellerräumen der
Kanzlei Reiner Demskis geheimnisvolle Akten. Es entwickelt sich ein
regelrechter Krimi um dieses Aktenmaterial. Um zu verstehen, was sich
abspielt, sucht sie seine Kollegen auf, Mandanten aus der Halbwelt,
Genossen und ehemalige Revolutionäre, und kehrt in dunkle Spelunken ein.
Immer tiefer wird sie in ein verborgenes Leben des Toten hineingezogen,
der ihr gleichzeitig immer fremder wird. Als die Leiche von Reiner
Demski obduziert ist – die Todesursache ist bis heute ungeklärt -, wird
sie schließlich zur Bestattung frei gegeben. Am zwölften Tag findet die
Beerdigung statt und nahezu alle Wegbegleiter – linke Gruppen,
ehemalige und aktuelle Klienten, Kriminelle, Transsexuelle,
Transvestiten, , Schwule, Verwandte, Freunde, Weggefährten –
sind gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen.
Der Roman
Erst
durch den Tod scheint sich „die Frau“, wie sie sich nennt, über die
Tragweite des Verlustes klar zu werden. Trotz aller Reflexionen bleibt
ihr Mann für sie rätselhaft. Reiner Demski vergnügte sich mit
jugendlichen Strichern, hatte seine politisch-anarchistische Philosophie
im Kopf und verteidigte auch Kriminelle aus dem Frankfurter
Drogenmilieu und sagte: “Jeder einzelne ist für die Revolution
wichtig, und gerade er hätte nicht verloren gehen dürfen”.
Zentrales Motiv des Romans aus heutiger Sicht – das Buch ist
von 1984 erschienen – sind die Suchbewegungen der Witwe, die
viele Jahre mit einem Menschen zusammenlebte, den sie offenbar nie
richtig kennen gelernt hatte. Mit seinem Tod beginnt sie sich noch
einmal mit ihm auseinanderzusetzen: mit seiner Arbeit, seinem Leben –
und ihrer Liebe.
Was weiß sie eigentlich von diesem Mann, den sie einmal geliebt hat, der
ihr so vertraut war? Demskis Weg führt sie ins
transsexuelle/transvestitische und homosexuelle Milieu und ins politisch
linke Milieu Frankfurts, in beiden war er aktiv. Auf ihrer Suche
verändert sich ihr Blick auf ihre Beziehung zu ihm und zu sich selbst.
Zugleich beschreibt sie ihre Stadt Frankfurt am Main Anfang der 70er
Jahre im politischen Aufbruch des linken Milieus und der aufblühenden
sexuellen Revolution mit dem Überwinden spießbürgerlicher
Begrenzungen.
Eva Demski selber sagt über ihr Buch, dass sie Gefühle festhalten
wollte, um sie bei Bedarf wieder abrufen zu können. Und so beschreibt
„Scheintod“ losgelöst vom politisch-gesellschaftlichen Kontext als Roman
eine intensive, aber höchst ambivalente Liebe.
Die szenische Lesung beginnt mit dem 12. Tag nach Reiner Demskis Tod,
mit dem Tag seiner Beerdigung. Alle sind gekommen: Familie,
Freund*innen, Kolleg*innen, Weggefährten, Aktivisten aus dem linken
politischen Lager, Männer aus dem homosexuellen und
transsexuellen/transvestitischen Milieu, Kriminelle, es fehlen nur die
Prostituierten und die mittlerweile gestorbenen Revolutionäre der linken
Gruppe, mit der er sympathisierte.
Die kreisende Suchbewegung Eva Demskis wird mit postdramatischen Mitteln
aufgegriffen. Hierfür wird die 12-Tage-Struktur des Romans von uns
aufgebrochen zugunsten eines inhaltlich fokussierten Kaleidoskops. Es
gibt in unserer Produktion nicht eine Eva Demski, sondern mehrere, die
allen drei Schauspielerinnen wechselweise zugeordnet werden, je nach den
verschiedenen Persönlichkeitsanteilen – die Kämpfende, die Trauernde,
die Liebende – und Themen der Eva Demski auf ihrer
Recherche-Reise. So gibt es eine Eva Demski mit dem Thema linkes Milieu
und linksradikale RAF, die Eva
Demski und das transsexuelle/transvestitische und homosexuelle Milieu
Frankfurts, ihr und Reiners persönliches und familiäres Umfeld, eine dem
kriminellen Milieu zugeordnete Eva Demski (einer ihrer Lebensgefährten
war ein Krimineller), eine dem Rotlichtmilieu Zugeordnete u.a.
Im Roman nennt Eva Demski nie ihrer beider Namen, Reiner und Eva,
sondern schreibt durchgehend von „die Frau“ und „der Mann“, auch der
junge Geliebte von Reiner heißt „der Junge“. Das schafft Distanz zum
Beschriebenen. Der Titel ist vieldeutig gesetzt: Scheintod ist eine
Bezeichnung für einen Zustand, in dem ein Mensch ohne Bewusstsein und
nur scheinbar tot ist, es also nicht klar ist, ob die Person noch lebt
oder nicht. Der Titel könnte sich auf Eva Demskis Zustand in den 12
Tagen nach seinem Tod beziehen, in denen Reiner für sie lebendiger war
als je zuvor, und sie sich immer wieder selber ‚wie tot‘ fühlte. Oder
darauf, dass sie sich noch nie so sehr als Ehefrau von Reiner gefühlt
hat wie in diesen 12 Tagen. Er könnte sich auf ihren Wunsch, er möge
leben, beziehen. Und er könnte gerade auf seinem Weg ins Zwischenreich
sein und sie als Seele „besuchen“. Solche Momente beschreibt Eva Demski
im Roman immer wieder: die Phantasie, dass Reiner noch ‚da‘ ist,
Einfluss auf sie nimmt in konkreten Situationen, in denen sie ihn
herbeiwünscht, um ihr ersehnte Gedanken einzuflüstern, auch glaubt sie
seine Anwesenheit förmlich zu spüren.
Die Szenische Lesung / Der Film