Einem der herausragenden Vertreter der französischen Salonmalerei des 19. Jahrhunderts, Alexandre Cabanel (1823-1889), widmete das Kölner Wallraf-Richartz-Museum eine gelungene Ausstellung. Sie war der Anlass für den Münchener Kunsthistoriker Hubertus Kohle, in einem Vortrag die Stellung Cabanels in seiner Zeit im Hinblick auf den heutige Blick auf jene Epoche der Kunst geradezurücken, welcher sich allein an den Avantgardebewegungen Realismus, Impressionismus und den drei Vätern der Moderne, Gauguin, Cézanne und van Gogh, orientiert.
Paris
ist die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Diese berühmte Feststellung
Walter Benjamins gilt noch mehr als sonst, wenn man den Blick auf die
Kunst richtet. Wer sich für die Malerei in der Zeit zwischen Revolution
und erstem Weltkrieg interessiert, stößt meistens auf einen Franzosen,
und zwar einen in Paris agierenden. Andere Nationalitäten, Deutsche
etwa, spielen, vor allem im internationalen Maßstab gesehen, nur eine
marginale Rolle.
Spätestens seit der großen Revolution des späten 18. Jahrhunderts gilt
die französische Kunst als fortschrittliche Kunst. Dass der Begriff
Avantgarde ein französischer und übrigens ein militärischer ist, dürfte
kein Zufall sein. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die Avantgarde
mit den progressiven Malern der Jahrhundertmitte von Frankreich ihren
Ausgang genommen hat. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein
musste ein bildender Künstler wenigstens zeitweise in Paris gelebt und
gearbeitet haben. Hier labte man sich am Geist der Moderne, so wie man
sich bis ins 19. Jahrhundert hinein nach Rom begab, um an der Quelle der
Klassizität zu trinken.
Die Fixierung auf das Progressive hatte zur Konsequenz, dass auch
tatsächlich nur die progressiven Künstler heutzutage Chancen haben, von
einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Mit einer
Impressionistenshow durchbrechen manche amerikanischen Museen die
Millionen-Besucher-Grenze, eine Darbietung zu den gleichzeitigen
Akademikern bliebe eine Fußnote der Ausstellungsgeschichte, es sei denn,
sie würde irgendwie originell gestaltet und entsprechend beworben,
z. B dadurch, dass man sie von einem berühmten Modeschöpfer
einrichten lässt. Seitdem das Pariser Musée d’Orsay vor 30
Jahren damit begonnen hat, auch den konservativen bzw. offiziellen
Positionen ihr Recht zu lassen, mag sich an dieser manichäischen
Trennung zwar einiges geändert haben, Bewahrendes aber bleibt in der
modernen Kunst – anders als in der Politik – tendenziell negativ
konnotiert, nur die Innovation zählt. Und selbst in der
Kunstwissenschaft stellt sich die Sachlage nicht grundsätzlich anders
dar. Zwar hat es vor allem von amerikanischer Seite in wohl nicht
zufälliger zeitlicher Parallele zur Gründung des Orsay-Museums einige
bedeutsame revisionistische Ansätze gegeben; und vor allem der
institutionengeschichtlich gerichtete Blick hat gezeigt, dass hier
manches geradezurücken ist. Aber auch an den Universitäten wird die
Geschichte der Kunst der letzten 200 Jahre immer noch im Wesentlichen an
der Perlenschnur der Avantgarden aufgezogen. Es fängt mit der –
künstlerisch wie politisch – revolutionären Geste Jacques Louis Davids
an, setzt sich mit Delacroix fort, wandelt über Courbet zu Manet und
erstürmt dann mit dem Dreigestirn Gauguin, van Gogh und Cézanne den
absoluten Gipfel. Für eine rein ästhetisierende Kunstwahrnehmung mag das
angehen. Historisch ergibt es ein vollkommen schiefes Bild, und es
verfälscht im Übrigen das Verständnis vom Reichtum und der
Unterschiedlichkeit ästhetischer Praktiken, das in seiner Einseitigkeit
unbefriedigend bleiben muss.
Mir scheint, dass in eben dieser Feststellung das Verdienst der
Kölner Cabanel-Ausstellung liegt, die sich mit dem Maler aus
Montpellier einen besonders verschrienen Vertreter der akademischen
Kunstwelt ausgesucht hat. Das Image geht übrigens, und wie vielen von
Ihnen bekannt, ganz wesentlich auf dieses Bild zurück, auf das ich
gleich noch ausführlicher zurückkomme. Jeder, der die Ausstellung
gesehen hat, wird aber bemerkt haben, dass das Spektrum Cabanels doch
entschieden größer ist. Er oder sie wird vielleicht erstaunt
festgestellt haben, welch brillante Virtuosität hier zum Vorschein
kommt, wenn auch eine Virtuosität, die heute als rein äußerlich abgetan
wird. Und er wird sich wohl auch an der prallen erzählerischen Fülle
erfreut haben, deren Ablehnung zu einem Markenzeichen der Avantgarde
geworden ist. Geht er noch weiter und beschäftigt sich etwa auch noch
ein wenig mit dem Gott sei Dank ausgesprochen schlank geratenen Katalog,
dann wird er natürlich zudem festgestellt haben, dass für die
kunstinteressierten Zeitgenossen Leute wie Cabanel und andere, meist
heute völlig unbekannte Künstler, im Zentrum des Interesses gestanden
haben. Während die heutzutage berühmten Realisten und Impressionisten,
exakte Zeitgenossen Cabanels, der mit seiner Produktion in den späten
1840er Jahren beginnt und sie bis in die späten 80er fortsetzt,
historisch gesehen Randfiguren sind.
Es lohnt sich, zum Verständnis Cabanels zunächst einen Blick auf die
kunstgeschichtliche Situation um die Jahrhundertmitte zu werfen.
Üblicherweise würde ich jetzt mit Courbet einsetzen und vielleicht sein
monumentales Atelierbild zeigen. Ich unterlasse das, weil es von
vorneherein ein unzutreffendes Bild von Zentrum und Peripherie der
französischen Kunst um 1850 erzeugen würde. Statt dessen zeige ich Ihnen
ein etwa gleichzeitiges, aber schon 1820 begonnenes Werk von Jean
Auguste Dominique Ingres, dem Haupt der französischen Schule, der die
große Tradition der klassischen Kunstpraxis fortzusetzen bestrebt und
als Referenzpunkt der Akademie allgemein anerkannt war. Monumentale
Figurengestaltung, ideale Nacktheit, allegorisierende Ausstaffierung:
das ganze Arsenal akademischer Kunstsprache ist hier kompromisslos
präsentiert.
Nun, der bürgerliche Markt, der sich seit der Revolution gegenüber den
alten Auftraggebern für Künstler, also vor allem Kirche und
Aristokratie, immer mächtiger und ausschließlicher etablierte, war mit
der akademischen Kunst vom Schlage Ingres’ nicht zufrieden zu
stellen. Allzu blutleer und gebildet kam sie daher, auch wenn sie
unbekleidete Frauen immer im Angebot hatte. Die Lust auf größere
Sensationswirkungen, der Hunger nach sinnlicheren Vergnügungen als sie
von der einigermaßen unaufreizenden Nacktheit von Ingres’
Quellallegorie geliefert wurde, bereitete der romantischen Bewegung den
Weg. Sie fand in Ingres’ Gegenspieler Eugène Delacroix ihren
idealen Repräsentanten. Dessen “Tod des Sardanapal”
von 1827 zeigt ein Chaos erregendster Farbwirkungen und ergeht sich in
der perversen Lust am Untergang. In weniger radikalen,
genrehaft-exotischen Stücken aus der Geschichte folgen ihm seine
romantisierenden Kollegen, auch Delacroix selber wird nach seinen
Skandalerfolgen der 1820er Jahre ruhiger und gleichsam klassischer. Mit
dieser widersprüchlichen Konstellation ist genau die Ausgangslage
beschrieben, an der Cabanel seine Karriere begann. Ich werde im
Folgenden zu zeigen versuchen, dass er darauf mit einer klar definierten
Strategie zu reagieren suchte. Denn als Akademiker musste er zusehen,
in dieser altehrwürdigen, im Laufe des Jahrhunderts unter dem Druck des
Marktes aber immer mehr an Macht verlierenden Institution zwar
einerseits die Fahne der Tradition hochzuhalten, gleichzeitig aber
moderne Publikumsbedürfnisse zu bedienen, um überhaupt verkaufen zu
können. Akademieprofessoren verfügten zwar über ein einigermaßen
auskömmliches Grundeinkommen, große Sprünge ließen sich damit aber nicht
machen. Paul Mantz, einer der einflussreichsten Kritiker seiner Zeit,
bringt dieses Grundcharakteristikum der Kunst Cabanels auf den Punkt,
wenn er in ihm zwei gegensätzliche Malertypen in einer Person vereinigt
sieht. Einmal denjenigen, der noch an die Größe glaubt, die er in Rom
gesehen hat – gemeint sind hier natürlich die Raffaels und
Michelangelos, die in der Akademie zu ewig gültigen Vorbildern
stilisiert worden waren – und dann aber auch noch den, der darum besorgt
ist, den “gens du monde” zu gefallen, also den modernen und an
aktueller Kunst interessierten Zeitgenossen. Manche von diesen begannen
zu gähnen, wenn sie mit einem Raffael konfrontiert wurden. Daran hat
sich ja im Grunde bis heute nicht viel verändert.
Schon dass Cabanel überhaupt im Salon ausstellte, war ein
erzwungener Kompromiss des Künstlers mit dem marktwirtschaftlichen
System. Die Akademie war eigentlich von Anfang an dagegen, diese
riesigen Ausstellungen zu beliefern, zu denen normalerweise mehrere
Hunderttausend Besucher pilgerten und die die Akademiker gerne als
Jahrmarktveranstaltungen denunzierten. Ich zeige Ihnen eine Karikatur
von Daumier. Und wenn man bedenkt, dass auf einer Ausstellung, bei der
Tausende von Bildern dicht gedrängt nebeneinander hingen, ein
richtiggehender Zwang bestand, so zu gestalten, dass man dem Publikum
durch Originalität und Auffälligkeit geradezu in die Augen sprang, dann
ist die Ablehnung einer Institution, die ihre Aufgabe in der Bewahrung
von künstlerischen Werten sah, absolut plausibel. Was künstlerisch
wertvoll ist – könnte man schlagwortartig formulieren – das bestimmen
wir, die Fachleute, und nicht ein Publikum, das mit solchen flüchtigen
Instrumenten wie dem Geschmack operiert oder einfach nur modisch oder
aus dem Bauch heraus argumentiert.
Schon in seinen frühen Werken, den in Rom während des
Akademiestipendiums entstandenen, lässt sich ein Bestreben aufseiten
Cabanels feststellen, aus den Erfahrungen zu lernen, die die Kunst in
der Zeit des Bürgerkönigs Louis Philippe gemacht hatte, das sind die
1830er und 1840er Jahre. Einerseits malt er große Historienbilder,
eigentlich die einzige Gattung, die im akademischen Kontext respektabel
war. Mit dem “Tod des Moses” von 1850, den er als
Zeichen seiner in Rom vollzogenen künstlerischen Fortschritte an die
Lehrer nach Paris schickte, demonstriert er große Form und die intime
Kenntnis der Renaissance-Kunst, ist doch dieses Bild ohne die Vorgaben
aus Michelangelos Decke der Sixtina gar nicht denkbar. Aber schon das
Vorbild Michelangelo ist aufschlussreich, steht dieser in der
Künstlertopik tendenziell doch für romantischen Geniekult und die
äußerste Dehnung des antikischen Figurenideals. Womit er für den
neuerungssüchtigen Zeitgenossen immerhin interessanter war als Raffael.
Hier noch ein späteres Bild Cabanels, das das Künstlergenie in seinem
Atelier inmitten seiner Werke zeigt. Rechts tritt der Papst ein, was die
Bedeutung des Bildhauers entschieden steigert.
Romantisch grundiert sind auch andere Werke des frühen Cabanel, immer
wieder lässt er in die klassizistische Figurengestaltung originelle
Aspekte einfließen, die ihn über die strengen Regeln der Schule
hinaustreiben. Der “Gefallene Engel” von 1847 ist
zunächst eine akademische Figurenstudie reinsten Wassers, wie sie in der
Ausbildung zigfach geprobt wurde. Thematisch aber greift der Künstler
hier auf einen Stoff aus John Miltons “Paradise
Lost” zurück, einen Leitstern am Himmel romantischen
Originalitätskultes. Genauso wie übrigens auch und noch mehr auf
Shakespeare, den die französischen Romantiker gegen ihre eigene
klassizistische Tradition in Stellung gebracht hatten. Mit dem 1857
entstandenen “Othello, der von seinen Schlachtenerlebnissen erzählt” und
einer ganz späten Szene aus dem “Kaufmann von Venedig” setzt Cabanel
ihm zwei Denkmäler. Das vom gefallenen Engel inkarnierte Böse konnte bei
Charles Baudelaire, dem Protagonisten der schwarzen Romantik, zum
Inbegriff eines dunklen Schönheitskultes werden, um dann später bei den
Symbolisten in einer Ikonologie der Perversionen aufzugehen. Cabanels
“Albaydė” aus dem Jahr 1848 geht auf ein Gedicht
Victor Hugos zurück, der als Begründer der literarischen Romantik gelten
darf. “Ich wache, und Tag und Nacht träume ich entflammt/ Über meine
Wangen rinnen Tränen/ Seitdem Albaydé in ihrem Grab geschlossen hat/
ihre schönen Gazellen-Augen/ Denn sie war 15 Jahre alt, ein harmloses
Lächeln/ Sie liebte mich ohne Maß/ Und wenn sie die Arme vor ihrer
nackten Brust verschränkte/ Dann glaubte man in ihr einen Engel zu
sehen.” Die Figur der geheimnisvollen Frau treibt das ingreske
Frauenideal bei Cabanel ins Dekadente, fast schon fühlt man sich an die
Femme fatale des späteren Jahrhunderts erinnert. Die leicht schwüle
Treibhausstimmung des Bildes, die mit der eher kühlen Ausstrahlung der
Frau einen merkwürdigen Kontrast bildet, wird durch die Gestaltung des
Hintergrundes zweifellos bestärkt. Schon hierauf konnte sich Emile Zolas
Urteil beziehen, das er über die zeitgenössischen Akademiker im
Allgemeinen, Alexandre Cabanel aber im Besonderen fällte. Der ganz dem
Naturalismus zugeneigte Romancier Zola beschwert sich darin über
diejenigen, “welche die klassischen Prinzipien verraten, um die
akademische Strenge zu mildern und die Sympathien der Menge zu
erringen.” Die Kritik Zolas ist auch deswegen plausibel, weil er zu den
Progressiven gehörte und die Realisten pries. Mindestens so
aufschlussreich ist aber die allenfalls lauwarme Zustimmung der
Konservativen, merkten sie doch, dass mit Cabanel ein Künstler zugange
war, der die akademischen Prinzipien gleichsam von innen aushöhlte, um
damit der Tradition auf seine Weise mindestens so zuzusetzen wie die
Realisten.
Auf dem eingeschlagenen Weg sollte Cabanel weitergehen und damit seine
großen, wenn auch selten unumstrittenen Publikumserfolge feiern. Immer
war es ihm darum zu tun, das Überkommene zu pflegen, es aber
gleichzeitig an einen neuen Geschmack bzw. die historischen
Notwendigkeiten anzupassen. Die geläufige Trennung von
rückwärtsgewandter Akademiekunst und vorwärtsgewandter Avantgarde ist
insofern zumindest irreführend. Denn auch das scheinbar nur Akademische
ist modern, wenn auch in einer Weise modern, die uns heute nicht
durchwegs behagt. Dabei ließ Cabanel sich immer wieder von romantischen
Themenfindungen anregen, die aufgrund ihrer Unverbrauchtheit und ihrer
aktuellen Anklänge beim Publikum hervorragend ankamen. Das gilt zum
Beispiel auch für sein 1852 entstandenes Bild Velléda, das er für seinen
frühen Förderer Alfred Bruyas malte. Dieser hatte eigentlich ein
anderes Thema in Auftrag gegeben, Cabanel aber konnte ihn davon
überzeugen, einen Gegenstand zu wählen, der “un peu intéressant”, ein
wenig interessant sei. Das Interessante aber war mit dem Aktuellen
gleichzusetzen, es konnte nur dort dominieren, wo Zeitgenossenschaft
gefordert war. Ein weiteres Zeichen von Cabanels Gegenwartsbewusstheit.
Über die germanische Seherin Velleda hatte schon Tacitus in seiner
“Germania” berichtet, der französische Romantiker Chateaubriand machte
aus ihr in seinen 1809 erschienenen “Märtyrern” eine gallische
Druidentochter, die heroisch gegen die Römer kämpfte. Sie reflektierte
damit einen Nationalstolz, der gerade auch im Zweiten Kaiserreich, also
in der Zeit, in der Cabanel seine größten Triumphe feiert, wieder
aufflammte. Aktualität konnte damit auch in einem für unseren heutigen
Geschmack ganz abseitigen historischen Stoff verkörpert sein. Velledas
Schicksal aber ist mehr als traurig. Sie verliebt sich unsterblich in
Eudore, den zum Christentum bekehrten griechischen Anführer der
römischen Besatzertruppen, wird von diesem zurückgestoßen, und tötet
sich aus Scham dann selbst – angeblich mit der Sichel, die auf Cabanels
Bild an ihrem Gürtel hängt. Im Bild sehen wir im Hintergrund Eudore,
prominent im Vordergrund aber Velleda mit ihrer Harfe. Verzweifelt
stiert sie aus dem Bild heraus und hat den Arm in hoher Erregung nach
vorne ausgestreckt. Die verzweifelte Tat scheint unmittelbar bevor zu
stehen. Hier ist alles versammelt, was ein breites Publikum begeistern
kann. Ordentlich sex and crime, tiefe Gefühle, vaterländische
Assoziationen. “Die Witwe des Kapellmeisters” zeige ich Ihnen hier
nicht, weil ich sie für ein besonders herausragendes Bild Cabanels
halte, sondern weil sie dessen sehr bewusste Karrierestrategien noch von
einer anderen Seite beleuchtet. Denn hier wagt sich der Künstler auf
das Feld der Genremalerei vor, das einerseits akademisch ohne jede
Reputation war, sich andererseits in den 50er Jahren einer riesigen
Nachfrage erfreute und von der Regierung gefördert wurde. Denn hier
wurden Menschen dargestellt, mit denen sich der durchschnittliche
Salonbesucher identifizieren konnte, nicht die Heroen der akademischen
Historienmalerei, die allenfalls verehrungswürdig waren. Auch in seinem
Genrebild bedient Cabanel wieder geschickt den Zeitgeist. Trauernde
Frauen, an erster Stelle eben die Witwe selber rechts von ihren Kindern
umstellt, sorgen für angemessene sentimentale Stimmung, die fast an die
weinerlichen Szenen eines Jean Baptiste Greuze erinnern und Bemerkungen
der Kritik erklären, Cabanel sei ein wiedergeborener Maler des
18. Jahrhunderts. Auch ganz wichtig: Die von der Tochter gespielte
Orgel verweist auf ein kirchliches Ambiente und bedient ein katholisches
Revival, das vom Kaiser und seiner spanischen Frau intensiv betrieben
wurde. Der Erfolg war schlagend, das Bild wurde direkt aus dem Salon
heraus verkauft und ist übrigens erst in den 1990er Jahren wieder
aufgetaucht und dann für den Pariser Petit Palais, das städtische
Kunstmuseum, angekauft worden.
Kaiser Napoleon III. kann nun in der Tat als der größte Fan Alexandre Cabanels gelten. Er lässt sich von ihm porträtieren, lädt den Maler zu sich an den Hof und fördert ihn, wo er nur kann. Wie sich Cabanel auch bei einer klassischen Aufgabe wie dem Herrscherporträt in seiner ganzen Janusköpfigkeit als “moderner Traditionalist” gibt, zeigt der Maler bei dem Bildnis Napoleons von 1865. Das wird insbesondere dann klar, wenn man es mit einem weiteren Porträt von dem gleichen Herrscher vergleicht, demjenigen Franz Xaver Winterhalters. Winterhalter zeigte Napoleon 10 Jahre vor Cabanel in allem nur denkbaren zeremoniellen Gepränge. Offizierstracht wird mit dem kaiserlichen Hermelin kombiniert, selbstbewusst hält der Usurpator – er hatte sich als Retter Frankreichs nach der 48er Revolution angeboten und die Macht staatsstreichartig an sich gerissen – die main de justice des höchsten Rechtssprechers in der Hand. In dem späteren Bildnis ist davon wenig geblieben. Der Herrscher erscheint in der aristokratischen Kniebundhose, die zu einem Habit gehört, das wohl zuallererst als Abendanzug durchgehen kann. Der Hermelin ist achtlos hinten auf den Tisch geworfen (“wie ein Überzieher, dessen man sich entledigt, sobald man nach Hause gekommen ist” heißt es spitz bei einem Kritiker), daneben all die anderen kaiserlichen Ausstellungsklamotten, ja man muss sie wohl Klamotten nennen. In seiner Bonhomie wirkt Napoleon eher wie der nette Onkel als wie ein autokratischer Herrscher. Ein Betrachter des Bildes hält diese “intime, halb bürgerliche Note” für völlig unangemessen bei der Darstellung eines Kaisers, denn es verfälsche flagrant den sublimen Glanz des Thrones.
Für das gewandelte Herrscherbild wird man zwei Gründe angeben
können: In der Mitte der 1850er Jahre, also in der Zeit, in der
Winterhalter sein Porträt malt, war Napoleon auf dem Höhepunkt seiner
Macht angekommen, er herrschte geradezu unumschränkt, Mitte der 1860er
Jahre aber hatte er unter dem Druck einer wachsenden Opposition
notgedrungen liberale Reformen eingeleitet. Die Vermenschlichung seiner
Person scheint darauf zu reagieren. Zum zweiten war das Bild für die
Privaträume der Kaiserin Eugenie vorgesehen. Symptomatisch bleibt das
Porträt trotzdem: Als es im Salon ausgestellt wurde, versahen es einige
der teilweise eben schon zitierten Kritiker der Zeit mit Kommentaren,
die den Befund unmissverständlich bestätigen. “Fashionable” nennt es der
eine, und gemeint sein dürfte einerseits der modische Abendanzug,
andererseits aber auch die durchaus modische Gesamthaltung des Malers,
mit der er akademische Grundsatztreue modifizierte und dem Zeitgeist
anpasste. Ein weiterer Kritiker schlägt einen sehr aggressiven Ton an,
wenn er behauptet, nie zuvor sei ein Kaiser trivialer und vulgärer
dargestellt worden. In den zeitgenössischen Karikaturen konnte die Figur
des Kaisers entsprechend als Oberkellner erscheinen: “Madame, es ist
angerichtet”. Wie fast immer, ist speziell die negative kunstkritische
Reaktion ausgesprochen signifikant und benennt treffend – wenn auch
abwertend – entscheidende ästhetische Charakteristiken des Werkes. Mit
der Figur des Kaisers ist auch Cabanels berühmtestes Bild verbunden,
seine 1863 ausgestellte “Geburt der Venus”, die ich
eben schon erwähnt und gezeigt habe. Berühmt ist vielleicht gar nicht
der richtige Begriff, genau genommen ist es das einzige Bild, das auch
in einer kunsthistorischen Fachöffentlichkeit bekannt ist. Im Pariser
Musée d’Orsay prominent platziert, ist es zum Inbegriff einer
dekadenten Pompier-Kunst geworden, gegenüber der die entstehende
Avantgarde in um so hellerem Licht erstrahlt.
Wieder ist das Bild vor allem als Kombination von traditionellem Gehalt
und modernistischer Adaption interessant, einmal abgesehen davon, dass
es auch heute noch manch lüsternen Männerblick erfreut, der sich für
vulgäre Pornographie zu fein ist. Die Aspekte sind in der
zeitgenössischen Kunstkritik, die in diesem Fall besonders umfangreich
ist, sehr präzise adressiert. Es lohnt sich daher, diese gleich etwas
ausführlicher zu betrachten. Das Thema der schaumgeborenen Venus ist in
der frühneuzeitlichen Kunst verbreitet, berühmt ist die Erfindung
Botticellis, die wohl aus dem Jahr 1484 stammt. Wie hier, ist die Venus
in fast allen Bildern der Kunstgeschichte stehend dargestellt, auch noch
in den Cabanel zeitlich benachbarten Darstellungen eines Amaury-Duval,
Ingres und Bougereau. Amaury-Duvals Bild kann uns hier insofern
interessieren, als weibliche Nacktheit nicht unbedingt identisch ist mit
erotischer Attraktivität. Der Künstler tut alles, um dieser Frau
jedwede Form von Sinnlichkeit auszutreiben, so sehr ästhetisiert er
ihren Körper in der Schönlinigkeit der Zeichnung. Nur die Nazi-Maler
werden später noch erfolgreicher darin sein, den Frauenkörper radikal zu
entsinnlichen. Ingres’ berühmte Venus Anadyomene ist hier entschieden
attraktiver. Allerdings kommt man nicht umhin, dem prominenten Kritiker
Maxime Du Camp recht zu geben, der meinte, “Monsieur Ingres habe die
Nacktheit in all ihrem Glanz gezeigt, ohne jedoch, und sei es in dem
kleinsten Detail, ihr die Keuschheit abgesprochen zu haben.” Ganz
anders Cabanel: Wenn er die Venus liegend zeigt, wofür ihm nur sein
geliebter Rokoko-Maler Francois Boucher ein Beispiel gegeben hat, der
aber seinerseits ungewohnt züchtig mit dem Gegenstand umgeht, dann
scheint seine Absicht klar, zumal man sich kaum vorstellen kann, wie
eine solche Geburt aus dem Meer überhaupt statthaben soll, wenn die
Geborene gleich liegend aus diesem auftaucht. Wie man sich den Vorgang
der Geburt aus dem Meer heraus vorstellen darf, ist wohl am besten in
einer säkularisierten Anverwandlung zu sehen, die in einem der neueren
James-Bond-Filme geliefert wird. Ich meine die berühmte Szene mit Halle
Berry in „Die Another Day“, die wiederum – gleichsam selbstreferentiell –
auf die noch berühmtere Episode mit Ursula Andress in „James Bond jagt
Dr. No“ zurückgeht. Der mythologische Hintergrund einer solchen im
modernen Film naturalisierten Szene ist ebenso deftig wie für
aufgeklärte Ohren unglaubwürdig, wobei hier erwähnt werden darf, dass
der Film seit der Wende zum 20. Jahrhundert vielfach die Stoffe und
Gestaltungsweisen der traditionellen Historienmalerei übernimmt, die
dann in der Avantgarde obsolet werden. Die Liebesgöttin ist einer
schaumigen Masse entwachsen, welche sich aus einer Mischung aus Blut und
Samen des Uranos einerseits und des Meerwassers andererseits gebildet
hat, nachdem dessen Geschlecht von der Sichel des Kronos abgeschnitten
worden war. Die mythologische Hochzeit von Himmel und Erde wird in der
neuzeitlichen Malerei zum mehr oder weniger idealen Frauenbildnis, und
Cabanel dürfte als derjenige gelten, der diese Entmythologisierung am
entschiedensten durchgeführt hat. Wenn er seine Venus in Liegeposition
bringt und damit klassische Vorbilder der Renaissance aufnimmt, die aber
eben nicht die schaumgeborene Venus zeigen, so spielt er auf den
Beischlaf und dessen Folgen an, auf die auch in anderer Hinsicht
unmissverständlich verwiesen ist. Das ausladende Becken der Venus, das
in den zeitgenössischen Karikaturen noch akzentuiert wird, verweist auf
die Gebärende. Die leicht geöffneten Augen der liegenden Göttin locken
den männlichen Betrachter in einer mehr als unziemlichen Weise, die auch
von den Kritikern durchaus beobachtet und beschrieben wurde.
Über den gegenüber Ingres und Amaury-Duval veränderten Charakter von
Cabanels Göttin gibt die Kritik eines gewissen Gueulette Aufschluss, der
in seinem „Les peintres de genre au Salon de 1863“ formuliert: „Die
Art, in der sie posiert, und auch die Amoretten, die sie umschwirren,
nehmen dem Bild seinen ernsthaften Charakter und machen es zu einem
Genrebild“. Diese im Gewand einer gattungstheoretischen Überlegung
daherkommende Frage ist weniger harmlos als sie scheint. Im Genrebild
ist die Welt der Alltäglichkeit erfasst, das Historienbild mit seinem
ernsthaften Charakter erlaubt sich nur abstraktere Sinnlichkeit, es
evoziert gleichsam das Jenseits im Diesseits. Vom Jenseits ist aber in
den Augen dieses Kritikers bei Cabanel wenig zu spüren. Die Frau ist so
aufreizend dargestellt – und schaut den Betrachter andererseits selber
so aufreizend an – dass man sie ohne weiteres auch als Pin-up-Bild
verwenden kann. An anderer Stelle wird das noch konkreter benannt. Einem
Kritiker fällt besonders die Physiognomie auf. Wenn schon der Körper
noch derjenige einer Göttin sei, so habe das Gesicht weder etwas
Göttliches noch etwas Antikes. Die Augen seien in hohem Maße
provozierend, kokett und ein wenig schäbig (Kat. Montpellier 215). Und
die radikale Vergegenwärtigung des Mythos, die Verwandlung einer Göttin
in eine nur allzu lebendige Frau gelingt dem Maler in den Augen des
schon erwähnten Zola dadurch, dass er deren Körper mit der Puderquaste
traktiert. Damit habe er die „alte klassische Maske mit einer zarten und
träumerischen Heiterkeit“ vitalisiert.
Indirekt, aber für jeden Zeitgenossen unmittelbar verständlich, sind die
Anspielungen auf ein Problem, das zu den drängendsten sozialen
Ungerechtigkeiten der Pariser Belle Époque gehört, das aber in dem Bild
und vielen seiner Besprechungen auf genussvolle Weise verharmlost wird.
Ich meine die Prostitution, die hinter dem Cliché von Paris als Stadt
der Liebe steht. Wir wissen, dass sich im Paris des späteren 19.
Jahrhunderts mehrere 10.000 junge Frauen diesem Gewerbe hingaben,
hingeben mussten, weil sie keine andere Möglichkeit sahen, ihr Leben zu
fristen. Bei ihnen handelte es sich zumeist um Frauen, die aus der
Provinz in die Hauptstadt gekommen waren, dort einer einfachen
Beschäftigung nachgingen, davon aber nicht leben konnten und sich daher
gezwungen sahen, sich zusätzlich als Prostituierte zu verdingen. Wenn
ein Kritiker von Cabanels Bild eine wollüstige Venus erwähnt, die gemalt
sei, “um die Sinne zu betören, so wie diese vom Mabille-Garten und der
Porte St. Martin betört werden”, so ist die Anspielung klar. Im Mabille
Garten traten die Cancan-Tänzerinnen auf, die Porte St. Martin ist in
dem Pariser Quartier südlich der Gare de l’Est angesiedelt,
das bis heute als Prostituierten-Viertel gilt. Im Kontrast zu Cabanels
Venus stehen zwei Bilder des Avantgardisten Edouard Manet, die gleichsam
ex negativo den Charakter der akademischen Gestaltungsweise noch einmal
schlaglichtartig beleuchten. Das „Frühstück im Freien“ ebenfalls aus
dem Jahr 1863, das im Salon nicht zugelassen wurde und dann mit einem
Platz im berühmt gewordenen „Salon des Refusés“, dem Salon der
Abgelehnten vorlieb nehmen musste. Und die Olympia, die zum
Skandalerfolg des Salons des Jahres 1865 wurde. Das “Frühstück im
Freien”, welches der Kaiser bei seinem Besuch des Salons wutentbrannt
mit seinem Stock traktiert haben soll, zeigt eine nackte Frau zwischen
zwei bekleideten Dandys. Diese Kombination wurde von der Kritik als im
hohen Maße unanständig gewertet. Von der gleichen Kritik, die im Falle
von Cabanels Venus häufig augenzwinkernd reagierte, auch wenn die eben
erwähnten Kritiken etwas anderes suggerieren. War die Vergegenwärtigung
des Mythos bei Cabanel nur implizit, so gab sich Manet entschieden
explizit. Eine ausgezogene Frau mitten zwischen Männern: das konnte nur
als subversiver Anschlag auf die Sitten gewertet werden, während die
Venus Cabanels doch immerhin vorgeben konnte, in einer eigenen Sphäre zu
wesen. Schlimmer noch die Olympia, welche schon durch ihren Namen auf
die Sphäre des Prostituiertentums verwies. Wo aber im Falle der
Cabanelschen Venus diese dort ja auch vorhandene Assoziation die
Machtverhältnisse zwischen betrachtendem und in der Betrachtung
dominierendem Mann unangetastet ließ, kam Manets Olympia entschieden
unverschämter daher. Ihr selbstbewusster Blick richtet sich aus dem Bild
heraus auf den Betrachter, wenn auch auf merkwürdige Weise auch ein
wenig an ihm vorbei. Der kalkige Körper der Frau gibt keinen Anlass zum
Träumen, sondern fügt der Betrachtung ein prosaisches Element hinzu, das
entschieden desillusionierend wirkt und etwa auch noch über den
Pantoffel am Fuß der Frau verstärkt wird. Und vor allem: Das Faktum der
Prostitution, egal wie präsent es in der Pariser Gesellschaft auch war,
wird bei Cabanel nur metaphorisch assoziiert, bei Manet ist es massiv
präsent und kann gar nicht umgangen werden. Ein verflossener Freier
lässt durch die dunkelhäutige Dienerin Blumen überbringen, der nächste
steht vor der Tür, und es wird suggeriert, dass es der Betrachter sei.
Mit Adorno könnte man sagen, dass Manet das Faktum der Prostitution zur
Kenntlichkeit entstellt und ihm gleichzeitig ein subversives Element
hinzufügt, während Cabanel es augenzwinkernd affirmiert. Bei allen
Rehabilitationsversuchen, die in der hiesigen Ausstellung und auch in
meinem Vortrag unternommen werden: Diese in hohem Maße skandalöse,
gleichzeitig für einen Maler, der sich als Teil der Gesellschaft und
nicht als deren kritischer Gegenpart verstand selbstverständliche
Tatsache, sollten wir nie übersehen.
Mit der “Geburt der Venus” ist Cabanels Reputation endgültig besiegelt. Er wird zum einflussreichsten und mächtigsten Vertreter der sozusagen offiziellen Kunstwelt des Kaiserreichs und der frühen Dritten Republik. Über Jahrzehnte sitzt er in den Salonjurys und hat damit entscheidenden Einfluss auf Wohl und Wehe seiner Künstlerkollegen. Er kann die höchsten Preise verlangen, und er besitzt ein feudales Atelier in einer der vornehmsten Gegenden von Paris, direkt am Parc Monceau. Seiner Strategie, die akademische Kunstübung im Hinblick auf ein tendenziell sensationslüsternes Publikum aufzupeppen, bleibt er weiterhin treu. Besonders erfolgversprechend war hier ein Genre, dem sich eine ganze Reihe seiner Kollegen vor allem der zweiten Jahrhunderthälfte zuwandten, am prominentesten wohl Jean-Léon Gérôme, dem das Musée d’Orsay gerade eine umfassende Ausstellung gewidmet hat. Ich meine das orientalische Genre, das sich ideal dazu eignet, das eigene westliche Überlegenheitsgefühl mit der schaurigen Lust an blutrünstigen Szenen aus einer angeblich unzivilisierten Welt zu kombinieren. Typischerweise wählt Cabanel historische Szenen dafür aus, er ist nicht an der Gegenwart des Orients interessiert und hat diesen im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen auch nicht bereist. Seine Bilder sind dem Traum vom Orient gewidmet – womit übrigens nicht gesagt ist, dass nicht auch die Orientreisenden unter den europäischen Malern in erster Linie ihre Klischees im Kopf hatten, die sie dann auch auf die Leinwand übertrugen. “Thamar” stammt aus dem Jahr 1875 und ist dem Alten Testament entnommen. Die jungfräuliche Thamar wird von ihrem eigenen Bruder Amnon vergewaltigt, daraufhin flieht sie zu einem weiteren Bruder Absalom, dessen Racheschwur Cabanel als Bildthema wählt. Der Gegenstand ist hinreichend überdreht, um beim verwöhnten Pariser Publikum auf Anklang zu stoßen. Deutlich auf Delacroix bezogen ist die dunkelhäutige Dienerin rechts, die ganze Szene ist von einer derartigen Ausstattungsfülle überschwemmt, dass sie ohne weiteres für orientalischen Luxus und Überfluss stehen kann bzw. das, was die überhitzte europäische Phantasie dort hineinprojizierte. Fasziniert sein und wohlig erschauern konnte man auch im Anblick von “Kleopatra, die an zum Tode Verurteilten Gift ausprobiert”, das kurz vor Cabanels Tod entstandenen ist. Die schamlose Gewalttätigkeit des Thamar-Bildes war hier noch zu übertreffen, und Cabanel gelingt dies mühelos. Schien die frühe Albadye nur auf die fatale Frau hinzuweisen, so haben wir es hier mit eben dieser Männermörderin in reinster Form zu tun. In einem Ambiente, dessen archäologische Authentizität ganz außer Zweifel steht – der Maler hatte für dieses Bild die entsprechenden ägyptologischen Handbücher intensiv studiert – siedelt er eine durch und durch skandalöse Szene an. Hatten viele seiner Vorgänger die berühmte, bei Plutarch erzählte Geschichte von dem Römer Antonius und der ägyptischen Pharaonin Kleopatra meist mit Blick auf deren Selbstmord thematisiert, so weicht Cabanel davon ab. Wir dürfen davon ausgehen, dass er dies erneut aufgrund einer Originalitätsforderung machte, die in meinen Augen seine gesamte Strategie prägt. In seinem Bild thematisiert er Kleopatras menschenverachtende Egozentrik, eine Eigenheit, die ganz in das Orientbild des 19. Jahrhunderts hinein passte und – wenn man ehrlich ist – auch unser heutiges noch mit beeinflusst. Vollkommen entspannt sitzt die barbusige Herrscherin da und beobachtet die grausige Szene, die sie inszeniert, um das Gift zu bestimmen, das am wenigsten Schmerzen verursacht, auf dass sie es dann zur eigenen Verwendung auswählen kann. Die ihr Luft zufächelnde Dienerin schaut interessiert herüber, so als käme dort gerade der Milchmann vorbei. Stattdessen aber winden sich dort die Opfer im Schmerz oder sind schon gestorben. Auch der Leopard als apartes Haustier dürfte beim Betrachter zu genau der erwünschten Stimmung von Faszination und gleichzeitigem Ekel beigetragen haben.
Historienmalerei hatte traditionell das Ziel zu erfreuen und zu
belehren, docere et delectare. Sie wählte Szenen aus Bibel und meist
antiker Geschichte, um grundlegende Eigenheiten der conditio humana zu
verbildlichen. Cabanels Anspruch scheint weniger ambitioniert. Ihm geht
es um einen Blick durch das Schlüsselloch auf Episoden der Geschichte,
der möglichst erregende und sensationelle Aspekte eben dieser Geschichte
offenbart. Belehrend sind diese in keiner Weise mehr, sie wenden sich
an ein Bedürfnis nach Unterhaltung, das in gewisser Weise typisch ist
für die moderne bürgerliche Gesellschaft. Aus der Malerei verschwinden
sie tendenziell mit dem Sieg der Avantgarden – ich hatte es vorhin schon
einmal erwähnt – aber sie verschwinden damit nicht ganz und gar. Im
Gegenteil, sie feiern in populären Medien wie dem Film ihre
Wiederauferstehung und bleiben damit im Bildgedächtnis der modernen
Gesellschaften vielleicht universeller verwurzelt als die elitäre
Hochkunst.
Sie haben es bemerkt, die Bilanz, die ich zur Produktion des Akademikers
Alexandre Cabanel ziehen würde, ist ein wenig zwiespältig. Als Maler
ist er zunächst einmal mit allen Wassern gewaschen, beherrscht die
handwerklichen Grundlagen seiner Kunst vollkommen und weiß um die
Möglichkeiten traditioneller Bildsprache. Allein das sollte schon einmal
ausreichen, um ihn nicht im Orkus der Geschichte verschwinden zu
lassen. Seine ganz im Dienste der herrschenden Gesellschaft verortetes
Werk allerdings will in unser heutiges Bild von der Kunst nicht mehr so
richtig hineinpassen, das reflexive und kritische Distanz voraussetzt
und damit eher auf die Avantgarde verpflichtet ist. Wer sich mit Cabanel
beschäftigt, sollte wissen, welches die Alternativen sind. Aber anders
herum gilt das genauso.
veröffentlicht am 28.4.2011
Der Vortrag wurde am 14.4.2011 im Wallraf-Richartz-Museum/ Fondation Corboud, Köln gehalten
1. Patricia Mainardi, The
end of the Salon: art and the state in the early Third Republic,
Cambridge 1993; dies., Art and politics of the second empire : the
universal expositions of 1855 and 1867, New Haven 1987
2 Alexandre Cabanel. Die Tradition des Schönen, hrsg. von Andreas Blühm,
Ausstellung Köln 2011, München 2011.
3 Vgl. Alexandre Cabanel, 1823 – 1889; la tradition du beau,
Hgg. Michel Hilaire, Sylvain Amic, Ausstellung Montpellier, Musée Fabre,
Paris 2010, S. 317.
4 Zu diesem zentralen Mechanismus vgl. Stefan Germer, Alte Medien, neue
Aufgaben : die gesellschaftl. Position des Künstlers im 19. Jh., in:
Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst: das Funkkolleg zum Verständnis der
Gegenwartskunst, Reinbek 1991, S. 94-114.
5 Victor Hugo, Les troncons du serpent, in: ders., Les Orientales
(OEuvre poétique, Paris 1869f., Bd. 2), S. 127f.
6 Emile Zola, Salon de 1875, hier zitiert nach
www.insecula.com/contact/A005673.html (Übersetzung – wie auch
im Folgenden – von mir, zuletzt geprüft am 28.4.2011)
7 Katalog Cabanel (wie Anm. 3), S. 173.
8 Ebd., S. 194.
9 Ebd.
10 Ebd., S. 194.
11 Ebd., S. 188.
12 Ebd., S. 216.
13 Ebd., S. 213.
14 Ebd., S. 215.
15 Ebd., S. 214
16 Hollis Clayson, Painted love: prostitution in French art of the
impressionist era, New Haven 1991.
17 Ebd., S. 217.
18 Vgl. Linda Nochlin, The Imaginary Orient. In: Art in America, Mai
1983, S.118-131 und 187-191.