Im Frankfurter Museum für Kommunikation wurde am 25.04.2024 eine umfassende Werkschau des Zeichners und Malers Volker Reicher eröffnet. Dort gibt es neben den frühen Donald Duck Zeichnungen, Mecki, dem Strizz oder Reiches liebenswerten Karikaturen auch eine ganz andere Seite zu sehen. Unter dem Titel „Killing is fun“ beispielsweise versammeln sich apokalyptische Höllen-Szenarien in Anlehnung an Hieronymus Boschs „Inferno“. Wir bedanken uns bei Andreas Platthaus, Literatur-Chef der FAZ, dass er uns seine geistreiche Eröffnungsrede über das Werk Volker Reiches zur Verfügung gestellt hat. Diese beginnt mit einem Zusammenspiel von Leben und Comic der besonderen Sorte, wenn Andreas Platthaus mit den Worten öffnet, mit denen Reiche eine Zeichnung Platthauses selbst untertitelt hat: „Derjenige, den Sie jetzt vor sich sehen, nimmt, wie wir hier aus berufener Zeichenfeder informiert werden, den Mund gerne voll: „Sie werden alles erfahren! Über alles!“
Derjenige, den Sie
jetzt vor sich sehen, nimmt, wie wir hier aus berufener Zeichenfeder
informiert werden, den Mund gerne voll: „Sie werden alles erfahren! Über
alles!“ Nichts Geringeres habe ich tatsächlich heute Abend vor, aber
seien Sie unbesorgt: Sie kommen vor Mitternacht nicht nur hier wieder
heraus, sondern sogar in die Saalfluchten hinein, die auf zwei Ebenen
dieses Hauses in nie dagewesener Vollständigkeit das Werk von Volker
Reiche würdigen. Eines Mannes, der seine Figuren den Mund gerne voll
nehmen lässt – denn was wäre mein projiziertes Alter Ego anderes als die
Wunscherfüllung seines Zeichners, der seine Sprechblasen, wie Sie sich
nachher überzeugen lassen werden oder es ohnehin längst wissen, bis zu
einer Intensität füllt, die in der Comicgeschichte kaum ihresgleichen
hat. Edgar Pierre Jacobs könnte man vielleicht nennen. Oder Robert Crumb
in seinen glossolalischsten Momenten – nein, dieses Beispiel ist
unfair, nehmen wir (Bild 4) etwas Harmloseres (harmloser, was den
Textumfang, nicht was den Textinhalt angeht) und doch allemal noch für
Crumb Typisches. Aber da kann sein Kollege Reiche mithalten. Für ihn
gilt, untypisch kurz gesagt: Wes Herz voll ist des Mund geht über.
Volker Reiche hat’s nicht nur mit den Comics, sondern auch mit den
Klassikern, und Luther ist gewiss der Größte, den wir hierzulande haben.
Immerhin legte er die deutsche Sprache Gott persönlich in den Mund, bei
Volker Reiche hat es immerhin noch für einen Kater gereicht..
Nun aber genug mit dem kleinen Mundvoll zu Beginn, wie wir mit einem
weiteren Klassiker sagen könnten. Schauen wir lieber einmal achtzehn
Jahre zurück. Damals zeigte das Museum für Kommunikation schon einmal
eine Volker-Reiche-Ausstellung, und schon damals hatte
ich das Privileg, die Eröffnungsrede halten zu dürfen. Deren Thema war
seinerzeit die Lautmalerei, die zwar etwas anderes ist als die
Großsprecherei, aber auch Lautmalereien können gehörigen Lärm machen.
Dass ich dieses expressive Bild erst heute zeige, hat seinen simplen
Grund darin, dass es 2006 hier im Museum nur um Volker Reiches
Comicserie „Strizz“ ging, während dieser akustischer Exzess aus einem
anderen seiner Werkkomplexe stammt: den Geschichten um Willi Wiedehopf.
Dass ich sie kaum minder schätze als die für meinen Arbeitgeber, die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ entstandenen „Strizz“-Folgen, hat seine
Ursache in einer zweiten lebensweltlichen Parallele neben unserer
Freude an Redseligkeit: Wir sind beide Donaldisten, und diese
Leidenschaft hört man Volker Reiche nicht nur an, sondern kann sie
seinen Figuren abschauen.
Das werden Sie heute auch noch in der Ausstellung sehen, wenn Sie es mir
nicht jetzt schon glauben, denn der wie aus Entenhausen entsprungene
Willi Wiedehopf zählt zu den prominenten Figuren, die dieses bald
achtzigjährige Zeichnerleben hervorgebracht hat und die entsprechend
Platz in der Retrospektive gefunden haben. Denken Sie aber nur nicht,
dass Sie alles sehen können, was Volker Reiche sich ausgedacht hat,
deshalb müssen Sie ja mir jetzt zuhören. War übrigens jemand von Ihnen
auch schon vor achtzehn Jahren dabei? Keine Sorge, Sie werden sich nicht
langweilen, denn was ich Ihnen heute unter anderem vorführen möchte,
ist das, was vor achtzehn Jahren themenbedingt fehlen musste: das
Restwerk, das ein Riesenwerk ist. „Statt Strizz“ gewissermaßen, und das
in der Strizz-Stadt Frankfurt. Wobei es auch für „Strizz“-Exegeten
unentbehrlich ist, sich dem Restriesenwerk des Volker Reiche zuzuwenden,
denn in „Strizz“ steckt alles drin, was vorher war. Und mutmaßlich auch
das, was noch kommen wird. Aber was man noch nicht sehen kann, darüber
muss man schweigen. Stattdessen sei als Beleg für die Kulmination des
reicheschen Gesamtschaffens in „Strizz“ ein gewisser Herr Leo angeführt,
der seinen ersten Auftritt bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte,
ehe Volker Reiche ihn dann als den Firmenchef vorstellte, den wir alle
kennen. Zuerst jedoch war Herr Leo Psychoanalytiker (den einige von uns
auch real kennen könnten). Ich füge hier ein Dokument aus den
Notizbüchern des Künstlers an, das belegt, dass sich Herr Leo im
Gegensatz zu seinem Angestellten Strizz von den ersten Entwürfen zur
Zeitungsserie bis zu deren Abdruck kaum verändert hat – logisch, er war
ja auch schon in der Welt.
Oder nehmen wir, als ein anderes Beispiel, eine Szene aus einer
„Mecki“-Seite des Jahres 1989. Da haben wir bereits mehr als ein
Jahrdutzend vor „Strizz“ einige der Protagonisten aus Rafaels
Stofftiermenagerie, im Falle von Herrn Krock sogar bereits ein
Äquivalent zu dessen aufgeblähtem Spätzustand nach einer missglückten
Waschaktion. Kenner werden wissen, wovon ich spreche.
Und sie werden auch „Snirks Café“ kennen, jenes Zwischenspiel aus dem
Jahr 2014, als Volker Reiche „Strizz“ in der Zeitung zwar schon wieder
aufgegeben, aber noch längst nicht aus unser aller Köpfe bekommen hatte,
weshalb er auf inständiges innerredaktionelles Bitten und ausgiebiges
außerredaktionelles Barmen für einige Monate ein Spin-off seiner
Erfolgsserie veranstaltete: eben „Snirks Café“, in dem der Titelheld,
den mit dem allseits bekannten Strizz nicht nur die Namensassonanz
verband, sondern auch eine gewisse physiognomische Ähnlichkeit (und, wie
Sie sehen können, ein postrafaelitischer Neffe namens Julian), eine
Geschäftsidee entwickelte, die ihn schließlich bis in die Karibik führen
sollte. Hier sehen wir ihn aber noch daheim in Frankfurt – es handelt
sich um ein Panel der sechsten, also noch sehr frühen Folge – und zwar
im Moment der Namensgebung seines Start-up-Unternehmens, die sich, wie
wir lesen können, der snirkschen Erinnerung an einen
Science-Fiction-Comic aus einem Blatt namens „Zebra“ verdankt. Nur
eingefleischte Reiche-Fans werden wissen, dass es dieses Comic-Magazin
tatsächlich gibt und dort jener Science-Fiction lief, der Snirk so
beeindruckt haben muss. Auch dazu habe ich den Bildbeleg.
Allerdings ist diese Farbversion ein Auszug aus einem Band, denn nun
nicht einmal die eingefleischtesten Reiche-Fans kennen können, weil er
nie erschienen ist. Er wurde 2001 zusammengestellt, als es galt, eine
Durststrecke des Künstlers zu überwinden: Nach fünfzehnjähriger Arbeit
für die Programmzeitschrift „Hörzu“ an deren Comicserie „Mecki“ war
Reiche gefeuert worden, und von „Strizz“ war da noch keine Rede, also
wurden in der nunmehrigen freien Zeit gute alte Geschichten noch besser
gemacht. Dabei kann man dann auch gleich einen Vorläufer für Kater Paul
aus „Strizz“ bestaunen.
Zugleich aber hatte der Künstler auch wieder einmal Muße für etwas, das
bislang bei ihm zu kurz gekommen war und bei mir bisher zu kurz gekommen
ist in meinen Ausführungen über alles, was Volker Reiche angeht: die
Malerei. Nicht die Laut-, sondern die echte Malerei. Wie es der Titel
unserer Ausstellung verheißt und Ihnen im Obergeschoss dann auch konkret
vor Augen geführt werden wird: „Volker Reiche – Comiczeichner &
Maler“.


Beide
produzieren Bilder. Aber die Bilder eines Malers sind uneindeutig, denn
sie brauchen im Gegensatz zu Volker Reiches Comics keine Worte, weil
die Malerei des Künstlers auf sich wechselseitig überlagernde Bilder
setzt, also auch ein sequentielles Prinzip, beruhend auf Urbildern und
Abbildern. Das ist noch ganz ähnlich wie bei „Strizz“, aber nehmen wir
ein Gemälde wie „La muerte patetica“, um uns klarzumachen, was die
beiden Ausdrucksformen unterscheidet. Urbild ist hier Robert Capas
Fotografie eines Sterbenden im Spanischen Bürgerkrieg, von dem
allerdings niemand weiß, ob er damals tatsächlich gestorben ist. Doch
berühmter ist niemand im Augenblick – oder besser: Augenschein – seines
Todes geworden, und so ist sein Gliederspiel, das man sich eher auf
einem Kanapee vorstellen könnte als auf dem Schlachtfeld des Spanischen
Bürgerkriegs, zu einer Konstellation geworden, die aus allen Kontexten
gelöst werden kann, ohne dabei ihre Botschaft einzubüßen, die Rudolf
Borchardt vergleichsweise eindeutig in folgende Worte gefasst hat, deren
Kenntnis ich meinem Kollegen Dietmar Dath, auch er ein großer
Reiche-Exeget, der von allem was versteht, verdanke: „Lass die Waffen,
letzter Held, / aus den letzten Händen. / Die Geschicke dieser Welt /
sind nicht mehr zu wenden.“
Wo Borchardt sprechen muss, um verständlich zu sein, ist Capas Foto im
Original ein stummes Bild. Nicht einmal der Mund des Sterbenden ist
offen. Dreifach schweigend fällt er auch im Gemälde „La muerte
patetica“, das sich seiner Berühmtheit bedient. Doch dann tritt zwischen
diese multiple Ausführung des Fallenden ein riesiger anderer Körper,
der dieselbe Gelöstheit der Glieder vorführt, doch in allem sonst das
Gegenteil von Capas Motiv darstellt: nackt statt bekleidet, in
Rückenansicht gegeben statt frontal, den Kopf zurückgeworfen, den linken
Arm erhoben, den rechten eng an den Körper geführt, den Schädel kahl,
den Mund weit geöffnet. Und aus diesem Mund heraus ragt eine spitze rote
Zunge, die ein quadratisches Zeichen freigegeben hat, das nun zwischen
Hand und Kopf im Raum schwebt. Ein Schriftzeichen? Nein, eine
Chiffre.
Weil die Botschaft chiffriert ist, verschlüsselt. Wird also doch
gesprochen in diesem Gemälde? Aber wenn dem so wäre, was sagte das uns?
Dieses winzige Symbol ist das Rätsel im Rätselbild „La muerte patetica“.
Ist es Signatur, Siegel, Sprechblase? Wie steht es um etwas, das wir
sehen, aber nicht entziffern können? Was will der rücklings Sterbende in
der sonstigen Totenstille uns damit sagen? Oder handelt es sich nur um
ein winziges Objekt, das seiner nunmehr schlaffen Hand entfallen ist?
Viele Fragen vom Betrachter, keine Antwort vom Maler. Das ist der
Unterschied zum Comic, in dem Geschichten erzählt werden, und
Geschichten brauchen Verständlichkeit.
Zeichen wie das von dem Sterbenden in unserem Gemälde ausgehende sind
Legion in dem Bilderzyklus „Friendly Fire“, den Volker Reiche vor mehr
als zwanzig Jahren begonnen hat, als man ihm unfreundlich gekündigt
hatte. Schon auf den frühesten Bildern daraus, auf „Good Ol Acid Gun“
oder „Collateral Damage“, finden sich ähnlich enigmatische Symbole wie
auf dem ein Jahrzehnt jüngeren „La muerte patetica“. Sie alle sind so
etwas wie eine Signatur, aber es ist nicht die des Malers. Sie sind ein
Zeichen für das, was unverständlich bleiben muss an diesen Bildern, die
sich dem widmen, was Menschen unverständlich macht. Es sind die Zeichen
der unsere Existenz grundierenden Gewalt.
Der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch auf seiner Bahn.
Die Schrift an der Wand wäre besser ungelesen geblieben, denn selbst
wenn dadurch das Schicksal Belsazars keine andere Wendung genommen
hätte, wäre er doch zumindest darum herumgekommen, sehenden Auges in
seine düstere Zukunft zu gehen. Je mehr Schleier vor unserem Dasein
liegen, desto weniger verspüren wir den Tod. Und desto leichter lebt es
sich. Deshalb ist die Mystifizierung der Bilder aus „Friendly Fire“
durch die ihnen beigegebenen unleserlichen Inschriften ein höchst
humaner Akt. Anders als das übrigens, was die Bilder zeigen. Aber
Eindeutigkeit ist eben nicht herstellbar, wo der Verständnisanspruch des
Comics geopfert wird. Oder der Wahrheitsanspruch der
Fotografie.

Es
gibt noch andere berühmte Figuren in Reiches malerischem Werk. Hier
haben wir zwei solche Akteure – oder eigentlich sogar drei, aber der
dritte ist uns denn doch unbekannt, weil das, was der aus „Strizz“
vertraute Kater Herr Paul gemalt hat und dem Nachbarhund Tassilo
präsentiert, nicht einfach ein Abbild seiner selbst ist, sondern ein
Wunschbild: Paul als Bestie. Kein Wunder, dass der Pinsel des Malers im
Gemälde noch blutrot tropft. In diesem Motiv liegt eine selbstironische
Aussage – nicht von Seiten des Katers Paul natürlich; der ist
unzugänglich für derartiges. Nein, wir sehen hier gerade mit dem Wissen
um die martialischen „Friendly Fire“-Bilder, in denen nicht selten auch
Figuren auftreten, die die Züge Volker Reiches tragen, in der Leinwand
auf der Leinwand ein verschlüsseltes Selbstporträt des eigentlichen
Malers. Dass man gewisse Identifikationsmomente zwischen ihm und seinem
Kater aufspüren kann, ist dem Publikum von „Strizz“ schon immer klar
gewesen. Hier offenbart sich im malerischen Ehrgeiz der Gleichklang
zweier abenteuerlicher Herzen, die sich gern gefährlich geben. Volker
Reiches Gemälde sind ein Korrektiv zur Zugänglichkeit von „Strizz“ und
den anderen Comics.
Ein Charakteristikum dabei ist die Stille des porträtierten Schreckens:
Leise- statt Lautmalerei. Wobei es auch im Comicschaffen Stille gibt,
allerdings steht sie dort für Harmonie. Da existiert ein Moment in
„Snirks Café“, der außergewöhnlich ist, weil der Comicstrip schweigt. Es
ist die zwanzigste Episode und die erste ohne die redselige Hauptfigur
Kilian Fischer alias Snirk, aber vor allem ist es eine Episode ganz ohne
Worte. Und das will bei Volker Reiche etwas heißen. Nicht, dass es
keine weiteren Beispiel für Stummcomic-Kunst bei diesem Erzähler gäbe,
aber wenn wir uns zwei Beispiele aus relativ frühen „Strizz“-Tagen
anschauen, dann sind darin doch immer nur einige Bilder still, und am
Ende wird doch wieder geredet. Nicht so in der einmaligen Szene aus
„Snirks Café“: Auftritt für Kurti, einen grundgütigen schwergewichtigen
Rentner, der keine Lust zu sprechen hat. An einem schönen Tag geht er
mit dem Rollator spazieren und beschert einem kleinen Vogel ein neues
Nest. Soweit so wenig. Vor allem so wenig typisch für Volker Reiche. Und
doch so reich. Reich an Charakterisierung dieser bemerkenswerten
Nebenfigur Kurti, die kein Vorbild in der Comic-Historiographie kennt,
obwohl sie doch die ideale Comicfigur ist, weil sie sich allein über
Zeichnungen ausdrückt. Reich aber auch formal, weil hier auf dem knappen
Platz einer täglich erscheinenden Fortsetzungsfolge die Möglichkeiten
einer Seitenarchitektur vorgeführt werden, die durch den ständigen
Wechsel von ungerahmten und gerahmten Panels die Lektüre so
rhythmisiert, als läsen wir eine Partitur. Und reich vor allem, weil die
Stille des schönen Frühlingstags als Zäsur in der Serie fungiert: Durch
die kurzfristige Stillstellung der ansonsten stets ausufernden
Ausführungen ihres Protagonisten wird Atem geschöpft für die
entscheidende Wendung der Geschichte, die aus dem Alltagsgeschehen ein
Abenteuer machen wird, das Snirk aus Frankfurt nach Curacao führt und
von der Existenzgründung zum Voodoo (na ja, als ob das so verschieden
wäre).
In dieser Episode, erschienen am 18. März 2014 in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“, zeigt sich die ganze Meisterschaft des
Comiczeichners und -erzählers Volker Reiche. Deshalb muss man um sie
auch gar keine großen Worte mehr machen, man muss einfach nur hinsehen.
Wie Reiche da die Figur anschneidet oder drei Bilder lang nur ein
Werkzeug in den Blick nimmt, das zeigt die ganze Erfahrung eines
Künstlers, der seit vierzig Jahren zu den Großen seines Metiers in
Deutschland zählt. Wobei es lange gedauert hat, bis er dafür auch den
verdienten Ruhm geerntet hat. Denn Reiche folgte in seinen Anfängen, in
den siebziger Jahren, dem Vorbild der amerikanischen Underground-Comics
des deshalb auch bereits doppelt von mir eingeführten Robert Crumb, die
ihn dadurch beeindruckten, dass sie sich all jenen Themen gewachsen
zeigten, die zuvor als inadäquat für Comics galten: Politik, Gewalt,
Sex, Drogen. Crumb machte den Comic als Erzählform im Alleingang
erwachsen, aber das hatte seinen Preis: Bei den etablierten Verlagen
waren solche Geschichten nicht unterzubringen, deshalb publizierte er
sie anfangs auf eigene Rechnung oder in Zeitschriften, die seine Comics
als politisches Statement schätzten.
Diesem Vorbild folgte Volker Reiche in Deutschland, als er mit „Hinz und
Kunz“ ein eigenes unabhängiges Comicmagazin mitbegründete und in den
Satireblättern „Pardon“ und „Titanic“ veröffentlichte. Auch darüber
werden sie in der Ausstellung viel mehr erfahren. Und über Reiches
Bewunderung für Crumb, dessen berühmteste Serie nicht zufällig ebenfalls
einen Kater zum redseligen Protagonisten hat: „Fritz the Cat“, dessen
Titelheld in seiner Gestaltung gemäß der zeichnerischen Ästhetik von
Disney-Comics ein willkommenes Vorbild für Herrn Paul geliefert
hat.
Doch Volker Reiches Interesse galt auch immer schon – und darin
unterscheidet er sich von seinem Vorbild Crumb – dem Herz des
Comicgeschäfts: jenen allgemein bekannten Serien, die von einem
Millionenpublikum gelesen werden. Wenn Crumb zwar auch ein begeisterter
Leser der Donald-Duck-Geschichten des Autors Carl Barks war, dachte er
doch nie daran, selbst derartige Comics zu zeichnen, denn auch wenn
Fritz wie eine Disneyfigur aussieht, benimmt er sich ganz anders –
jedenfalls ganz gewiss nicht massentauglich. Reiche dagegen machte genau
das: Er zeichnete nicht nur wie, sondern für Disney. Ende der siebziger
Jahre erstellte er insgesamt sechs Duck-Geschichten für einen
holländischen Verlag. Der Haken daran: Reiche blieb anonym, denn
seinerzeit trugen noch alle Entenhausener Geschichten die Signatur des
längst verstorbenen Walt Disneys, die als Markenzeichen galt. Aber
Reiche lernte von der barksschen Dynamik, etwa den energischen
Begrüßungsritualen der Familie Duck, denen er prompt eine ganze
Willi-Wiedehopf-Episode widmete (vom bereits erwähnten disneyfizierten
Aussehen Willis ganz zu schweigen). Oder der spezifisch spöttische Blick
von Carl Barks auf die Produktionsweisen moderner Kunst, die Volker
Reiche deutlich respektvoller, aber im Gestus klar als Reprise
erkennbar, für die künstlerische Praxis von Strizz’ Gattin Irmi entlehnt
hat. Nicht zuletzt erweist sich Reiche damit als treuer Frankfurter
Schüler von Adornos „Ästhetischer Theorie“, hier von ihm explizit
gemacht in „Manu und Saul“, einem Bauzauncomic für den Neubau des
Jüdischen Museums. Auch wer wissen will, was es damit auf sich hatte,
wird in dieser Ausstellung fündig.
Es hat etwas Verstörendes, dass just Adorno nichts mit Comics anfangen
konnte – auch weil sie ihm zu gefällig schienen. Wir aber sehen nun
etwas besser, woher dieser wunderbar gefällige runde Strich stammt, den
Volker Reiche pflegt. Vervollkommnet hat er ihn noch mehr als an den
lediglich sechs Donald-Duck-Geschichten durch die Arbeit an „Mecki“, die
insgesamt mehr als zwanzig Jahre währte (mit der bereits erwähnten
Unterbrechung, als man meinte, ihn feuern zu müssen, woraus erst
„Friendly Fire“ erwuchs und dann „Strizz“ – worauf ihn die „Hörzu“ rasch
reumütig zurückholte). Die dank „Mecki“ erworbenen graphischen und
erzählerischen Fertigkeiten hatte Reiche so sehr perfektioniert, dass er
im Januar 2002 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ jenen täglichen
Fortsetzungscomic namens „Strizz“ anbieten konnte, dessen Abdruck dann
schon drei Monate später begann. Der Rest ist deutsche Comicgeschichte.
Acht Jahre lang, bis zum 31. Dezember 2010, erschien dieser Strip, er
machte Reiche berühmt und brachte ihm nicht nur alle wichtigen Preise
ein, die es für Comics in diesem Land zu gewinnen gibt, sondern vor
allem die Begeisterung einer riesigen Leserschar, die „Strizz“ nach
dessen Einstellung noch jahrelang nachtrauerte.
Deshalb und weil Reiche als ausgefuchster Comicmacher genau wusste, was
man an derart beliebten Figuren wie dem „Strizz“-Personal hat, tauchte
es auch immer wieder anderweitig auf: in „Manu und Saul“ etwa oder in
„Snirks Café“, jeweils in Form von Cameo-Auftritten wie denen von Herrn
Paul, dem Favoriten der Reiche-Leser. Andere Kollegen aus dem
ursprünglichen Strip wie Omi Paula oder der Prekariats-Kater Wolle
hatten auch entsprechende Rollen inne und sorgten dadurch dafür, dass
beim Publikum der Nachfolgeprojekte die Erinnerung an „Strizz“ nicht
einfach verblasste. Erinnerung ist nämlich ein zentrales Motiv von
Volker Reiches Comics – inhaltlich, wie sein atemraubender
autobiographischer Comic „Kiesgrubennacht“ 2013 bewiesen hat (über ihn
zu sprechen, würde den Abend sprengen; schauen Sie sich das ihm
gewidmete Kapitel in der Ausstellung an, und vor allem: Lesen Sie ihn!),
und formal, wie man an der unmittelbar nach „Kiesgrubennacht“
entstandenen Serie „Snirks Café“ zeigen kann. Die sich dann wieder als
Sprungbrett für mehrere kurzfristige „Strizz“-Wiederaufnahmen erwies, in
denen umgekehrt das „Snirk“-Personal auftrat. Diese „Strizz“-Reprisen
dürfen wir in größeren Abständen immer wieder genießen, als gezeichnete
Begleitmusik zu großen Sportereignissen wie Fußballturnieren oder
Olympia. Und so schließe ich meine Ausführungen über alles, was mit
Volker Reiche zu tun hat, mit einem Ausblick auf den kommenden August,
wenn in Paris die Olympischen Spiele anstehen. Und in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ die nächste Wiederaufnahme von „Strizz“. Nicht die
letzte, wenn es nach mir geht. Sicher auch nicht die letzte, wenn es
nach Ihnen geht. Und ganz gewiss nicht die letzte, wenn es nach Volker
Reiche geht – wie ich von ihm weiß. Und ich weiß ja angeblich über alles
Bescheid. Bescheiden ist das nicht. Aber das kann man ja auch gar nicht
sein, wenn einem so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird wie von
Ihnen. Danke dafür. Und danke an Volker Reiche.