Man könnte meinen, nahezu alles ist über Beuys gesagt und gedruckt worden, erst recht, nachdem vor zwei Jahren sein 100. Geburtstag gefeiert worden ist. Doch laufend gibt es Neuerscheinungen. Ein vergriffener Bildband, der sich mit Beuys‘ USA-Reise 1974 beschäftigt, erlebte im letzten Jahr eine Wiederauflage. Kürzlich erschienen ist ein prächtiger Katalog zu Beuys und Hessen, der einen multiperspektivischen Blick bietet. Isa Bickmann hat in die Bücher geschaut.
Der feine
Leineneinband zeigt die eilig nach rechts laufende Gestalt des Künstlers
in schwarz-grauer, verschwommener Abbildung, als habe Gerhard Richter
eine Fotovorlage in Malerei umgesetzt. Unverkennbar ist es Joseph Beuys,
mit langem Mantel, Fellkragen und Hut. Seine Füße schweben in der Luft,
er eilt geradezu tänzerisch vorwärts, der Hintergrund ist vollkommen
verwischt. Die dynamische Bewegung scheint die Schnelligkeit eines
künstlerischen Lebens und die Flüchtigkeit des Moments zugleich
auszudrücken.
Den Einführungstext schrieb Klaus Staeck, der im Januar 1974 gemeinsam
mit Gerhard Steidl, in dessen Verlag der Bildband erschienen ist, mit
Beuys eine Reise in die USA
antrat. Beuys war inzwischen ein bekannter Künstler, seine jüngeren
Begleiter Staeck 35 und Steidl 23 Jahre alt. Es war für alle die erste
Begegnung mit dem Land. Bis kurz vor der Abreise schien es nicht sicher,
dass Beuys sein Visum erhalten würde. „Sympathisantentum“ lautete der
Verdacht. Eine lange Befragung musste der Künstler dann bei der Einreise
über sicher ergehen lassen. Natürlich wussten die Grenzkontrolleure mit
der Auskunft, er sei „Social Sculptor“ nichts anzufangen, erzählt
Staeck.
Beuys zeigte bei diesem USA-Besuch keine Ausstellung, sondern gab Lectures über seine Idee von „Sozialer Skulptur“ in überfüllten Sälen in der New School in New York, an der School of the Art Institute of Chicago und am Minneapolis College of Art and Design. „Ich habe Beuys nie so viel lachen gehört wie auf dieser Tour durch Amerika“, erinnert sich Staeck. Hunderte Fotos und viele Stunden Tonband- und Videomaterial kamen zusammen. Das Buch, 1987 erstmals in der Heidelberger Edition Staeck mit einem Ausschnitt des Fotos vom rennenden Beuys auf dem Cover erschienen, hatte der Künstler noch mitgeplant, indem er die Auswahl und Reihenfolge der Bilder festlegte.
Die nun bei Steidl erschienene Neuauflage des vergriffenen
ersten Drucks besticht in gewohnter Verlags-Qualität mit griffigem,
ungestrichenem Papier höherer Grammatur. So macht das Blättern durch die
ikonischen Bilder Spaß: zum Beispiel Beuys mit Waschlappen im Gesicht
und Hut, der bekannten Angler-Weste und überbelichtetem Hemd im
Flugzeug. Das Motiv wird mehrfach wiederholt, mal rauschiger, mal mit
besserem Kontrast, auch am Ende des Buches noch einmal – Beuys seriell
wie ein Warholscher Siebdruck in Schwarz-Weiß. Dann der Zollbeamte,
Beuys’ Tasche durchsuchend. Die einsame Gestalt in Schnee gesäumten
Straßen und Seiten später ohne Hut mit über den Kopf gekämmten fettigen
Haaren, während des Signierens des Multiples „Noiseless Blackboard
Eraser“.
Im New Yorker Museum of Modern Art sieht man Beuys vor Georges Seurats
„Un dimanche après-midi à l’Île de la Grande Jatte“ stehen: Ist ein
größerer Kontrast innerhalb der bildenden Kunst vorstellbar? Vielleicht
mag man darin auch die Bereitschaft des Künstlers lesen, sich auf den
Widerspruch einzulassen.
Ebenfalls von hinten ist Beuys im Angesicht des riesigen
fotorealistischen Porträts „Susan“ von Chuck Close zu sehen. Man möchte
glatt in den Hinterkopf hineinsehen können, um seine Gedanken zu lesen.
Die Folgeseiten zeigen immer wieder Beuys dozierend vor den Zuhörerinnen
und Zuhörern. Dazwischen bietet sich, bildlich Assoziationen und
Gedankensprünge liefernd, ein Blick auf die (pop-)kulturellen Eigenarten
des Landes wie der laufende Fernseher, auf dem stapelweise das oben
erwähnte Multiple liegt.
Raum nimmt das „Biograph Theater“ in Chicago ein. Hier sah der zum
„Staatsfeind“ erklärte Bankräuber John Dillinger am 22. Juli 1934 einen
Gangsterfilm und wurde dann vor der Tür des Kinos von FBI-Agenten niedergeschossen. Staeck und
Steidl drehen einen Sekundenfilm mit Beuys, der die Flucht und
Erschießung Dillingers nachstellt und später als Multiple erschienen
ist, das heute zu einem vierstelligen Betrag angeboten wird. Das Bild
des rennenden Künstlers auf dem Titel, aufgenommen übrigens von Gerhard
Steidl, bezieht sich auf diese Performance. Beuys verspürte in
Dillingers Biographie eine „Energie“, auf die er Wert legte und die auf
seinen erweiterten Kunstbegriff abzielte.
Leider gibt es keine Bildlegenden der von Staeck und Steidl
geschossenen Fotografien. Nur Informierte wissen, dass Beuys mit Douglas
Davis, dessen damaliger Newsweek-Bericht über den deutschen Besuch am
Ende des Bandes abgedruckt ist, und Nam June Paik in der Galerie Ronald
Feldman Fine Arts in New York ein Podiumsgespräch führte. Die Galerie
hatte die Tour organisiert. Auch den Beuys-Meisterschüler Blinky Palermo
auf einem der Bilder wird nicht jeder erkennen. „Beuys in America“ ist
also eher als reines Bilderbuch zu nutzen. Aber wahrscheinlich wurde
ohnehin davon ausgegangen, dass es wie auch die anderen
Beuys-Publikationen des Verlags, die mit diesem Band erscheinen sind,
eher eine Kennerschaft anspricht.
Mit Kritik an Amerika hielt er sich zurück, aber es sei nicht seine
letzte Reise in die USA gewesen.
Dies seien „Stichproben“, er möchte weitere nehmen, denn „Stichproben
sind nämlich wichtig für die Revolution“, erklärte er Klaus Staeck.
Dieses Interview ist im am Ende des Bandes nachzulesen. Ein paar Monate
später, im Mai des Jahres 1974, führte Beuys den Tanz mit dem Kojoten in
den neuen New Yorker Räumen des Galeristen und Freundes René Block auf,
wobei er sich hier vor jeglichem Blick auf Amerika mit Filz abschirmte.
Die zum größten Teil in Schwarz-Weiß entstandenen Bilder bestechen durch
grobe Körnung, was Flüchtigkeit und Flucht, Bewegung und Revolution,
aber auch Stille, Schweigen und Rede, tagebuchartig abbildet. Das
Serielle, die Wiederholung ist Bestandteil dieses Blickes. Es gibt nur
wenige Farbbilder. Diese wirken wie dokumentarische Einschübe inmitten
spontaner Eindrücke. Korrespondenzen im Nebeneinander von zwei
Buchseiten erscheinen narrativ gesetzt, aber ohne Schlüssel. Das macht
den Reiz der Bildfolgen aus.
Auch für Nichtkenner bietet sich dagegen der von der Hessischen
Kulturstiftung, ihrer Geschäftsführerin Eva Claudia Scholtz und der
freien Editorial Managerin Kristina Hinrichsen konzipierte Band „Beuys
in Hessen“ an, denn hier hat man sich die ganze Bandbreite der
Rezeption, Werkpräsentation, Zeitzeugnisse, Dokumentation und Analyse
der Beuys’schen Präsenz in Hessen vorgenommen. Unzählige Male war Beuys
in Hessen, nicht nur in der Documenta-Stadt Kassel. Auch sind
Werkkomplexe in Darmstadt, Kassel und Frankfurt beheimatet. Zwischen den
Texten des Bandes wurden immer wieder Foto-Strecken eingebunden,
beispielweise von Barbara Klemm, die Beuys in Darmstadt beim Aufbau des
„Blocks“ und im überfüllten Frankfurter Kunstverein beobachtete. Ihre in
Berlin und beim Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe
aufgenommenen Bilder verlassen allerdings hier die Stringenz des
Gesamtkonzepts. Weitere Beuys begleitende Fotografien stammen von Hans
Albrecht Lusznat, Camillo Fischer und Dieter Schwerdtle.
Kurzweilig erzählt René Block von der Entstehung des „Rudels“, das sich
heute in der Sammlung der Neuen Galerie in Kassel befindet. Er hatte es
für den damals überteuerten Preis von 110.000 DM auf dem Kölner
Kunstmarkt (der heutigen Art Cologne) angeboten. Der hohe, aber an
internationale Positionen anschließende Betrag war für Block eine
„kulturpolitische Setzung“.
Seit kurzem ist „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ im
Frankfurter MMK endlich wieder
sichtbar. Viel ist über die Installation schon geschrieben worden. Im
Buch komprimiert und aktualisiert der langjährige Kurator des
Frankfurter MMK, Mario Kramer, die
Interpretationen.
Während die Schriftstellerin Felicitas Hoppe eine persönliche Meditation
auf Beuys‘ Kasseler Werk liefert, schreibt Fayer Koch Briefe an Beuys
und thematisiert darin die langjährigen Anwürfe, dass sich der Künstler
nie von völkisch-reaktionärer Gesinnung distanziert habe und sein
Sammler Karl Ströher, der den „Block Beuys“ kaufte, ein Profiteur des
Nazi-Regimes war. Ein kluger Beitrag des Kunsthistorikers Philip
Ursprung, der zu den lesenswertesten des ganzen Bandes gehört, rückt
hier einiges hinsichtlich der Person des Künstlers in ein neues Licht.
Die Vitrine „Auschwitz Demonstration“ ist Teil des „Block Beuys“ und
enthält Modelle seines 1958 für ein Auschwitz-Mahnmal auf dem Gelände
des Lagers entstandenen Wettbewerbsbeitrags. Diese Aufgabe, so Ursprungs
These, führte ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Holocaust
und zu einer Arbeit, die das „kollektive Gedächtnis“ ansprach. Die oft
genannte persönlichen Krise 1959, die zur Änderung im Werk Beuys geführt
haben soll, ersetzt Ursprung mit Beuys Auseinandersetzung mit dem
Holocaust, mit der er sich aus der posttraumatischen Depression als
Folge der Kriegserfahrungen geholt hat. Dass Krisen als zugehörig zur
Mythologisierung von Künstlerbiografien dargestellt werden, hier muss
man nur auf Beispiele im 19. Jahrhundert schauen, ist grundsätzlich zu
hinterfragen. Deren Basis liegt in der „Behauptung, dass schöpferische
Innovation letztlich in Krankheit wurzle und degradiert Kunst zum
Symptom.“ (S. 124) Doch noch bleiben viele Fragen hinsichtlich Beuys‘
Haltung offen.
Lebendig ist das Gespräch mit der aus Südafrika stammenden Künstlerin
Shelley Sacks, wie überhaupt die Varianz an Textarten aus Dialog,
Erinnerung, literarischer Form und kunsthistorischem Beitrag den Reiz
des Bandes ausmachen. Der Beuys-Sammler Ludwig Rinn kommt zu Wort,
porträtiert wird der Wiesbadener Sammler und Editor Michael
Berger.
Im letzten Drittel gibt es eine wunderbare Fotostrecke von Michael
Gärtner, die sich den 7000 Eichen widmet, so wie diese inzwischen in
Kassel gediehen sind. Heute verspürt man Dankbarkeit für Beuys Idee
einer „Stadtverwaldung“, wenn man an einem sehr heißen,
klimakrisenhaften Sommertag vor dem Fridericianum in Kassel Schatten
sucht und diesen unter einem der beiden Beuys-Bäume findet. „Ökologische
Weltverbesserung“ nennt es Harald Kimpel in seinem Text. Bei Umsetzung
und Finanzierung des Projektes als auch bei den Nachfolgekosten gab es
immer wieder Krisen. Das kann man in Martin Grohs Beitrag nachlesen und
ist überrascht, dass zu den Spendern auch der frühere Bundeskanzler Kohl
gehörte. Man fühlt sich an heutige Zeiten erinnert, wenn man von den
damaligen Protesten der Autofahrer-Fraktionen für mehr Asphalt und gegen
Eichen liest. Immer wieder kam es deswegen zu Vandalismus. Dieser Teil
des Buches macht deutlich, dass Beuys hier ein nachhaltiges Projekt von
soziokultureller Wirkung gelungen ist. Eine soziale Skulptur par
excellence! Für oder gegen Beuys, was die siebziger Jahre beschäftigte,
kann an dieser Stelle keine Frage mehr sein.