Hubertus Kohle widmet sich der Zukunft der Museen im Zeitalter des Internet und damit der Partizipation des einzelnen – für ihn Teil „der zentralen Fragen des gegenwärtigen kulturellen Lebens“.
Die Gedächtnisinstitution im digitalen Zeitalter. Perspektiven und Chancen
I
Gegenstand dieser Summer School ist das Verhältnis von
Gedächtnisinstitution und digitalem Medium. Ich zitiere aus der
Ankündigung: „Die Zukunft gehört den digitalen Medien. Doch welche
Konsequenzen hat das für die traditionellen Gedächtnisinstitutionen wie
Bibliothek, Museum und Archiv? Welche Bedeutung kommt heute dem Original
zu und welche haben das Museum als ortsgebundener Ausstellungsraum
realer Objekte und die Bibliothek als physischer Arbeitsplatz im
virtuellen Zeitalter?” Der erste Satz „Die Zukunft gehört den digitalen
Medien” ist schon einmal ein starker. Eigentlich für jeden einigermaßen
gegenwartsbewussten Zeitgenossen eine Selbstverständlichkeit, denn das
digitale Medium kann als Supermedium alle anderen Medien in sich
simulieren. Von den Akteuren des Kulturbetriebes aber – und
dazu zähle ich ausdrücklich auch die Vertreter der Universität
– wird es häufig übersehen, auf die Seite geschoben,
verdrängt, allenfalls nolens volens akzeptiert. Allzu sehr widerspricht
alles das, was mit dem Digitalen zu tun hat, dem Selbstverständnis eines
Geisteswissenschaftlers oder scheint dies doch mindestens zu tun. Denn
auch wenn C. P Snow das mit den two cultures gar nicht so gemeint
haben sollte, dient es doch dem Geisteswissenschaftler dazu, das Eigene
als das den Naturwissenschaften Entgegengesetzte zu situieren. Und das
Digitale wird selbstverständlich den Naturwissenschaften zugeschlagen.
Danach kommen in der Summer-School-Ankündigung Fragen, und diese Fragen
haben es in sich. Ich werde versuchen, mich diesen Fragen zu stellen.
Aber definitive Antworten dürfen Sie nicht erwarten. Es sind für meine
Begriffe die zentralen Fragen des gegenwärtigen kulturellen Lebens
überhaupt.
II
Die drei genannten Gedächtnisinstitutionen unterscheiden sich vor allem
im Hinblick auf den Originalitätsgehalt der in ihnen verwahrten Objekte.
Museum und Archiv verwalten Unikate, die Bibliothek Reproduktionen. Das
stimmt natürlich nur in etwa. Im Museum gibt es graphische Kabinette,
die ebenfalls Reproduktionen enthalten, im Archiv können Durchschläge
von Schreibmaschinenseiten oder Dateien vorgehalten werden, also Kopien.
Und Bibliotheken sammeln zuweilen Nachlässe von Autoren, in denen durch
handschriftliche Annotationen aus dem Reproduktionsmedium Buch wieder
ein Original entstanden ist. Mal abgesehen von den bibliothekarischen
Handschriftenabteilungen. Ganz konkret aber macht sich der
Originalitätscharakter des jeweiligen Mediums auch im Verhältnis der
entsprechenden Institution zum Digitalen bemerkbar. Je wichtiger dieser
Originalitätscharakter – und der dürfte aufgrund der ästhetischen
Dimension im Museum in jedem Fall noch ausgeprägter sein als im Archiv –
desto zurückhaltender die Einstellung zur digitalen Publikation etwa im
Internet. Die Bibliothek scheint damit gar kein Problem zu haben. Als
ich vor ein paar Jahren beim Festakt aus Anlass des 450-jährigen
Bestehens der Bayerischen Staatsbibliothek war, sprachen alle Festredner
so ausschließlich von den Perspektiven der Buch-Digitalisierung, dass
es einem um das gute alte gedruckte Buch schon fast wieder leid tun
musste. Und für die Bibliothek kann man vielleicht sogar noch die
sichersten Voraussagen machen, was ihre Bedeutung und Existenzfähigkeit
in einem Zeitalter ausmacht, in dem ihr Angebot mehr oder weniger
komplett und in praktisch identischer Form online vorliegen wird. Sie
wird wohl nur dann überleben, wenn sie sich nicht mehr in erster Linie
als Container von Büchern, sondern von Menschen versteht. Sie muss immer
mehr zu einem sozialen Raum werden, in dem lernwillige Individuen
zusammenkommen, um gemeinsam einen Stoff zu bewältigen. Und dabei ihre
Mitarbeiter vor allem dazu anleiten, den Besuchern den souveränen Umgang
mit den elektronischen Medien zu ermöglichen – die sie
natürlich auch selber in großem Umfang und guter Qualität bereitstellen
sollte. Ich bin übrigens überzeugt davon, dass der angebliche rollback,
von dem im Moment immer mal wieder gesprochen wird, eine Chimäre ist.
Dass sich die Publikationstätigkeit im Online-Medium aus rechtlichen und
kommerziellen Gründen zurückentwickle, scheint mir keine richtige
Diagnose. Was nicht im Internet ist, wird tendenziell nicht mehr
existieren, diese Feststellung klingt nur in den Ohren derjenigen
bedrohlich, die glauben, dass die Zukunft so ist wie die Vergangenheit.
Andere werden sich darauf einstellen. Ganz bestimmt wird es
Möglichkeiten geben, die angebliche Umsonst-Kultur des Internet zu
umgehen. Mit Bezahlmodellen, Werbefinanzierung oder flatrates,
wahrscheinlich aber so, dass ein Zugang zu den urheberrechtlich
geschützten Werken in Bibliotheken besser möglich ist als von
anderswoher.
III
Die Diskussion von Original und Reproduktion findet sich prominent und
vielfach zitiert in Walter Benjamins berühmtem Aufsatz über das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In ihm
hatte Benjamin seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, die Kunst könne in
ihrer vervielfältigten Form vom elitären zum Massenmedium werden, aus
einem Medium der Machtrepräsentation zu einem der
politisch-demokratischen Bewusstseinsbildung. Damit würde sie zu einem
Agenten der Politisierung der Ästhetik, der der faschistischen
Ästhetisierung der Politik entgegenzuhalten sei. Wenn in diesem
Zusammenhang von einer Zerstörung der Aura die Rede ist, die sich aus
der Massenreproduzierbarkeit von Kunst ergäbe, so ist damit ein in der
modernen Kulturwissenschaft schon fast topisch gewordenes Theorem
aufgerufen. Aber auch die Kritik an diesem Theorem, das bei Benjamin im
Übrigen in einer durchaus verschlungenen und schwer durchschaubaren
Argumentationsfolge entwickelt wird, hat nicht auf sich warten lassen.
Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die massenhafte Reproduktion von
Kunst die auratische Kraft des originalen Ausgangswerkes gleichsam
kompensatorisch nur steigern könne und nicht etwa zerstöre. Millionen
von Reproduktionen der Mona Lisa Leonardos hätten die Sehnsucht des
Publikums nach dem Original nicht etwa aufgehoben, sondern eben gerade
erst begründet oder befördert. Beleg dafür seien die Scharen von
Besuchern, die im Pariser Louvre an dem Bild des Renaissance-Meisters
vorbeipilgern. Gerade die Reproduzierbarkeit von Kunst, die heute in der
verlustfreien Multiplikation des Digitalen gegenüber der
verlustbehafteten Reproduktion der analogen Reproduktionsmedien ihren
Triumph feiere, sei der Garant für die Bedeutung des Originals. Das
Museum könnte sich zurücklehnen. Es wüsste um die Unersetzbarkeit seiner
Schätze und um deren immerwährende Anziehungskraft.
Wenn es mir hier darum ginge, den klassischen Kulturinstitutionen die
digitalen Medien mit der Begründung schmackhaft zu machen, Bits und
Bytes würden ihre Gegenstände in der originalen Wertigkeit nur
befördern, müsste ich mich natürlich dieser Kritik an den Benjaminschen
Thesen anschließen. Und nicht nur aus taktischen Gründen würde ich
behaupten, dass manches dafür spricht, dass die Kritik berechtigt ist.
Ich bin andererseits nicht ganz so sicher, ob sie stimmt, ob Benjamin
nicht langfristig gesehen doch recht hatte, wenn auch vielleicht in
einer von ihm selber gar nicht wirklich vorhergesehenen Weise. Dass die
Reproduktion die Sehnsucht nach dem Original hervorruft, ist eine
Erkenntnis, die so suggestiv ist, dass sie skeptisch im Hinblick auf
ihren Wahrheitsgehalt beurteilt werden sollte. Sicher, es spricht vieles
dafür, dass der Erfolg etwa von Manufactum, diesem Verkäufer der guten
alten originalen Wertarbeit, etwas mit der multiplen Plastifizierung und
Vereinheitlichung des Alltages zu tun hat, die eben kompensatorisch die
Sehnsucht nach dem Unnachahmlichen und Einmaligen hervorruft. Aber
vergessen sollte man auch nicht: Manufactum macht sein Geschäft im
Wesentlichen in der Weihnachtszeit. Die Behauptung, dass die massenhafte
Reproduktion auf Dauer das Bewusstsein eines dahinter stehenden
Originals vielleicht gar nicht mehr aufkommen lässt, und dies
insbesondere bei den sogenannten digital natives, denen die Kenntnis des
originalen Ausgangswerkes gar nicht mehr in die Wiege gelegt wurde, ist
ebenso wenig von der Hand zu weisen. Wäre es nicht denkbar, dass das
museale Original einen Status erhalten wird, der dem des Pariser
Urmeters entspricht, auf das man nur noch in Streitfällen zurückgreift
und das für das öffentliche Bewusstsein keine Rolle mehr spielt? Wie
gesagt, das scheint mir nicht entschieden. Aber für das Museum wäre es
schlecht bzw. würde dessen Rolle radikal umdefinieren. Es würde zum
Aufbewahrungsort für Originale verkommen, die im wahrsten Sinne des
Wortes ein Schattendasein führen müssten und kaum mehr irgendeine
Attraktivität entwickeln würden. Es wäre nicht mehr Ort der kulturellen
Produktion, sondern nur mehr Klimakammer, um die weitgehend unveränderte
Erhaltung eines historischen Artefaktes als Belegstück für die Frage
nach dem „wie es eigentlich gewesen ist“ zu garantieren und zu
dokumentieren. Aber das sind natürlich Spekulationen. Vorderhand sieht
die Lage der Museen ja gar nicht schlecht aus. Statistisch gesehen geht
jeder Deutsche und jede Deutsche deutlich mehr als einmal im Jahr ins
Museum, die Besucherstatistik sieht sogar besser aus als die unserer
Fußballstadien.
IV
Trotzdem: Die Zukunft gehört den digitalen Medien. In der einen oder
anderen Weise wird sich auch das Museum dieser Aussicht stellen müssen,
auch dann, wenn sich seine Repräsentanten eher der eben diskutierten
pessimistischen Version anschließen sollten. Und dies natürlich vor
allem mit Blick auf die jüngeren Leute, die als nachwachsende Generation
ja das zukünftige Publikum stellen werden. Es schiene mir gefährlich,
sich allzu sehr auf die Logik einer sehr einflussreichen konservativen
Kulturtheorie zurückzuziehen, die in den Gedächtnisinstitutionen eine
Kompensation für die immer heftigere Beschleunigung der Gegenwart unter
technisch geprägten Bedingungen sieht (etwa Hermann Lübbe und Odo
Marquard). Und die damit gerade in der Technikferne dieser Institutionen
den Garanten für ihren Erfolg hätte erblicken können. So also wie alle
anderen Bildungsinstitutionen wird sich das Museum auf einen neuen Typ
von Besucher einstellen müssen. Einen Typen, für den die digitalen
Medien selbstverständlicher Bestandteil des täglichen Lebens sind, immer
stärker an die Peripherie des eigenen Körpers heranwachsend, wenn nicht
in diesen eindringend, gar nicht mehr als technisches Gerät empfunden,
sondern als fast schon natürlicher Körperteil. Und dieser Typ Besucher
hat eine Eigenschaft des Digitalen verinnerlicht, die quer steht zu
klassischen Formen der Vermittlung.
V
Digitale Reproduktionen können einerseits einen erstaunlichen Grad der
Ähnlichkeit zum Gegenstand ihrer Nachahmung erlangen. Eine Ähnlichkeit,
die bis hin zur täuschenden Echtheitsvorstellung geht. Auch Kunstwerke
können heute so haargenau simuliert werden, dass selbst Fachleute
Probleme haben, sie als Nachahmungen zu identifizieren. Andererseits
sind diese Simulationen äußerst volatil, flüchtig, ungreifbar. Es ist
ein Leichtes, sie zu verändern, zu überformen, neu zu
kontextualisieren.
Und genau das passiert. In der digitalen Postmoderne findet
Erstaunliches in Form einer kreativen Wiederverwendung von Vorhandenem
statt. Zeitgenössische Kultur ist weithin eine „remix-culture“, und sie
wird es, glauben wir dem Stanforder Juristen und Urheberrechts-Kritiker
Lawrence Lessig, in der digitalen Post-Moderne immer mehr. Er
konfrontiert diese postmoderne Kultur des read/write mit einer
Read-only-Kultur der Moderne, in der eine kleine Zahl von
Intellektuellen und Künstlern die kulturellen Inhalte bestimmt hat, die
von einer passiven Konsumenten-Menge rezipiert wurde. Das ist für ihn
eine durchaus positive, das Demokratisierungsversprechen der Moderne
erfüllende Perspektive – und hierin könnten wir in Lessig den
wiedergeborenen Benjamin sehen. Im Gegensatz zu den genannten Gurus
natürlich, die nunmehr ihre Felle wegschwimmen sehen und genau deswegen
solche Phänomene wie die Blogger-Kultur als gefährliches Abgleiten in
unqualifiziertes Geschnatter bewerten. Und es könnte auch den Umgang der
Jüngeren mit den musealen Überlieferungen prägen.
Das traditionelle Museum passt genau in das von Lessig beschriebene
Paradigma der Read-only-Kultur. Es kam daher als ein geheiliger Ort des
herausragend Genialen, als Kirche der Kultur, deren Inhalte von einigen
Connaisseuren der Bewahrung und Vermittlung – vulgo Museumskustoden – an
die Menge der staunend zuhörenden Bildungsbedürftigen weitergegeben
wurde. Ich übertreibe natürlich und spreche gleichsam aus der
Perspektive der Kritiker dieses Betriebes. Glaubt man Lessig, dann ist
es mit dieser Form der Vermittlung zunehmend vorbei. Wer sich heute
kulturelle Produkte aneignet, tut dies nicht erstaunt zuhörend, sondern
er/sie will sich an dieser Aneignung produktiv beteiligen. Dabei
konvergiert diese Auffassung in erstaunlicher deutlicher Form mit
modernen Auffassungen von Pädagogik. Effektiv kann Bildung in dieser
Sichtweise nur sein, wenn sie darauf verzichtet, die Inhalte wie durch
den berühmten Nürnberger Trichter in das Bewusstsein des Schülers
einzuspeisen, sondern wenn die Inhalte gleichsam vom Lernenden im
Prozess des Lernens mit gestaltet werden.
Es liegt auf der Hand, dass die hier nur sehr kurz summierte Auffassung
Lessigs eine Vereinfachung ist, die in den Augen seiner Kritiker
allenfalls als Karikatur herhalten kann. Auch in der vor-postmodernen
Kultur ist der Rezipient natürlich nicht einfach nur ein passiv
Aufnehmender (und war auch dort schon so etwas wie ein „remixer“)
Trotzdem scheint mir bei Lessig etwas Entscheidendes beschrieben, worum
die heutigen Kulturinstitutionen nicht mehr herumkommen. Sie täten gut
daran, den Besucher als Sinnproduzenten wahrzunehmen, nicht mehr einfach
nur als Sinnaufnehmenden.
VI
Zwei Bereiche, die in den letzten Jahren die Diskussionen der Digital
Humanities bestimmt haben, sind inzwischen auch in avancierten
museologischen Reflexionen angekommen. Das sind einerseits die
sogenannten big data, also große Datenmengen, die wir bislang nur aus
den Naturwissenschaften kannten, und das Verfahren der Visualisierung,
mit dem man diese big data in verständliche und zuweilen ausgesprochen
schlagkräftige Form bringen kann. Bekannt geworden sind die Analysen
Franco Morettis, der sein Verfahren distance reading nennt und eben
keine Einzelwerke mehr in den Mittelpunkt stellt, sondern tausende von
künstlerischen Werken – bei ihm sind es Romane des 18. und 19.
Jahrhunderts – statistisch etwa auf Wortfrequenzen
untersucht. Damit versucht er z.B., das Aufkommen bestimmter Konzepte
und Wahrnehmungsweisen empirisch plausibel zu belegen. Parallelphänomene
in der Kunstgeschichte sind bislang eher rar, zu nennen wäre aber
sicherlich Lev Manovichs Versuch, Bildordnungen auf der Basis von
direkten Bildadressierungen vorzunehmen, also nicht mehr ausgehend von
Metadaten. Die Anwendungsmöglichkeiten im Museum sind vielfältig,
natürlich nur unter der Voraussetzung, dass dessen Daten maschinenlesbar
vorliegen und zudem möglichst als open data öffentlich zur Verfügung
gestellt werden. Der Witz an der Sache wäre, dass man die
unterschiedlichen Datentypen in jeder erdenklichen Weise kombinieren und
rekombinieren könnte. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Im
einfachsten Fall lasse ich mir etwa auf einer timeline die Ankaufsdaten
der einzelnen Werke visualisieren und erkenne Konjunkturen der musealen
Ankaufsaktivität. Was insbesondere in dem Fall spannend werden kann,
wenn ich diese Daten dann mit denen aller anderen Museen eines Landes
zusammenstelle. Schon komplexer käme eine Untersuchung daher, die
kunstgeographische und chronologische Daten kombiniert und damit
räumliche Verschiebungen in der künstlerischen Aktivität auf der
Zeitachse rekonstruieren würde. Interessant sind diese Aspekte in dem
hier vorgestellten Zusammenhang vor allem deswegen, weil sie der eben
geäußerten These entgegenkommen, dass kulturelle Rezeption heute eine
eigenproduktive sein sollte. Denn der Nutzer selber kann diese big data
so kombinieren und rekombinieren, wie es ihm sinnvoll erscheint. Er wird
damit zum nicht mehr mehr nur aufnehmenden, sondern produzierenden
Nutzer, der auf diesem Wege durchaus sogar eigenständige
Forschungsleistungen erbringen kann.
VII
Die Zielrichtung des Lessigschen Argumentation ist vor ein paar Jahren
in dem eindrücklichen Pamphlet eines immer schon radikalen Künstlers
aufgenommen worden, von Peter Weibel, dem technologisch interessierten
Avantgardisten und Direktor des Karlsruher Zentrums für Kunst und
Medien. Weibel macht sich in diesem kurzen Beitrag Gedanken über das
Verhältnis von Web 2.0 und Museum. (online unter
http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/weibel_web2.0/
weibel_web2.0museum.pdf) Das traditionelle Museum erscheint ihm als eine
typische Institution des 19. Jahrhunderts, die die eben beschriebenen
Qualitäten der Read-only-Kultur in Reinform verwirklicht. Das Web 2.0
stellt er als ein Medium vor, das es ermöglicht, diese Kultur in
zeitgemäßer Weise zu durchbrechen. Im Web 2.0 entwickelt das Internet
eine Zweikanaligkeit, in der Sender zu Empfänger, Empfänger zu Sender
wird. Bertolt Brecht hat Entsprechendes in den1920er Jahren schon vom
Radio erwartet und große Hoffnungen auf dessen demokratisierende Wirkung
gesetzt. Andere, vor allem linke Theoretiker sind ihm darin gefolgt. In
der Medientheorie wird diese Zweikanaligkeit meist als Interaktivität
gefasst, und auch wenn die Interaktivität in der Praxis des Netzes
– wie in derjenigen der älteren elektronischen Medien
– den Nutzer meist auf billige Art in eine werbeaffizierte
Antwortmaschine verwandelt, sollte man doch über alternative
Anwendungsmöglichkeiten reflektieren.
Ganz konkret hat Weibel daran gedacht, dass im Web 2.0-Museum der Nutzer
selbst zum Kustos wird und Ausstellungen selbständig zusammenstellt.
Das klingt für uns, die wir ganz andere Verfahren gewöhnt sind (nämlich
die der Read-only-Kultur), erst einmal einigermaßen abstrus. Was sollte
schon dabei herauskommen? Aber als Anregung für eine Modifikation
gängiger Verfahren, die ja nun auch nicht gleich alles durchaus Bewährte
hinwegwischen muss, wäre es doch einmal eine schöne Möglichkeit. Vor
allem Museen in der angelsächsischen Welt experimentieren damit. Ich
erwähne hier die Ausstellung click im New Yorker Brooklyn Museum, das im
Feld der digitalen Medien insgesamt sehr aktiv ist und diverse
vorbildliche Lösungen entwickelt hat. In einem ersten Durchgang wurden
in diesem avantgardistischen Projekt Künstler eingeladen, eine digitale
Photographie einzuliefern, die dem Motto Changing faces of Brooklyn
entsprach. Danach stellten die Museumsleute diese Photographien in einem
öffentlichen Forum zur Diskussion. Die Produzenten der Arbeiten blieben
anonym, die Diskutanten forderte man auf, neben der Abgabe der
Bewertung dieser Photos einige Fragen zu ihrer allgemeinen Kunstkenntnis
zu beantworten. In einem letzten Schritt wurden die Photos ausgestellt,
und zwar so, dass ihre Anordnung auf die öffentliche Evaluation
reagierte. So konnte man z.B. sehen, in welcher Korrelation die Arbeiten
in ihrer Bewertung zu „Qualifikationen“ der Bewerter stand. Letzteres
zeigt vielleicht eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Radikalität
des Ansatzes an, da die Demokratisierung, welche in der Grundidee
angelegt ist, durch einen Bildungsfilter wieder eingeschränkt wird. Aber
es ist in der Tat interessant zu sehen, was für Bilder die künstlerisch
hoch Gebildeten qualitativ oben ranken, weil diese mit Blick auf
ästhetische Komplexität und Anlehnung an klassische Avantgardemuster in
der Tat herausragen. Entscheidend sind aber natürlich die grundsätzliche
Emanzipation des Betrachters und die Umdefinition des Museumskustoden.
Er oder sie nämlich wird vom Präzeptor zum Moderator, vom wissenden
Vermittler zum Mitgestalter einer Lernsituation, eine Beobachtung, die
im Übrigen für alle Formen internet-gestützter Lehre im weitesten Sinne
des Wortes zutrifft und auch aus dem Professor einen Moderator macht. In
beiden Fällen wird das in den meisten Fällen überlegene Wissen des
Kustoden wie des Professors gar nicht in Zweifel gezogen, es wird aber
auf eine vielleicht effektivere, die spezifischen Interessen des zu
Belehrenden mit einbeziehende und dessen eigene Produktivität
berücksichtigende Weise eingesetzt. Und bei Museen kommt gegenüber
Institutionen wie der Universität natürlich eine Eigenheit hinzu: Sie
müssen ihr Publikum begeistern, denn es ist in keiner Weise zum Besuch
verpflichtet.
Das Brooklynsche Paradigma und Weibels theoretische Überlegungen sind
auf vielfältige Weise adaptierbar. Man hätte es etwa bei einer Münchener
Ausstellung in der Alten Pinakothek zu Rubens und seinen künstlerischen
Vorbildern vor einigen Jahren mit Gewinn einsetzen können – nur um ein
mir naheliegendes Beispiel zu geben. Es wäre ein Leichtes gewesen und
hätte die Anziehungskraft, aber auch die sozusagen pädagogische
Durchschlagskraft der Ausstellung mit Sicherheit entscheidend erhöht,
wenn man den User aufgefordert hätte, eigene Rubens-Vorbilder zu
eruieren und z.B. in ein elektronisches Wiki hochzuladen. Stellen Sie
sich vor, welche Bildungswirkung es gehabt hätte, wenn daraufhin Scharen
von Interessierten in die Bibliotheken geströmt wären, um dort in
Bildbänden zu blättern, die ihnen eventuell Ideen geliefert hätten. Aber
ich bin sicher, dass Sie in diesem Zusammenhang eigene, bestimmt noch
viel originellere Vorstellungen entwickeln. Genauso, wie ich sicher bin,
dass meine Beschreibung deutlich geschönt ist. Auf jeden Fall sind hier
die Möglichkeiten für ein Museum zur Ausgestaltung solcher
Konstellationen fast unbegrenzt und nur von der Phantasie der in ihnen
Beschäftigten abhängig. Z.B. könnte man überlegen, welche
“Incentives” man dem Publikum anbieten könnte, um
seine Aktivität zu befördern. Warum nicht einen Preis für den aktivsten
Nutzer ausschreiben? Und wenn der in einer Jahreskarte für das Museum
bestünde, könnte man das Ganze sogar noch kostenneutral gestalten oder
sogar eine zusätzliche Werbewirkung erreichen.
Weibels Thesen sind – so weit ich sehe – in der
Kunstgeschichte im Allgemeinen und in der Museologie im Besonderen
bislang kaum diskutiert worden, schon einmal gar nicht in der insgesamt
sehr konservativen deutschen. Warum, dürfte auf der Hand liegen, da der
Autor die Institution mindestens implizit für eine vergangene hält und
ihre Überlebensfähigkeit an radikale Selbstkritik bindet. Dabei wird man
Weibels scharfe Forcierung seiner Theorie als typisch avantgardistische
Pointierung durchgehen lassen können und sich dabei gleichzeitig fragen
müssen, welch produktiver Kern sich darin dennoch verbirgt. Wenn unter
den hier anwesenden Jüngeren sich der eine oder andere Denkanstoß
ergibt, der dazu führt, dass diese Einstellung nicht mehr so
selbstverständlich bleibt, dann bin ich zufrieden.
VIII
Was hier zur Diskussion steht, ist die in dem berühmten Buch von James
Surowiecki thematisierte wisdom of crowds, die von der dominierenden
Expertenkultur vielfältig kritisiert und ironisiert wird. Erinnern Sie
sich an Lessigs read only. Denn die Expertenkultur ist eine
Ausdrucksform dieses read only: Der Experte schreibt, der Laie liest und
glaubt. Nur teilweise ist diese Kritik an der Weisheit der Menge
berechtigt, wie ich finde. In der Kultur des Digitalen und ihrer Gegner
aber wird im Kern genau dieser Gegensatz ausgetragen. Wir sind in
München seit Jahren mit einem Projekt beschäftigt, das ebenfalls auf die
Weisheit der Menge setzt und das wir auf mittlere Sicht zu einer
Ausstellungsplattform weiterentwickeln wollen, die sich den Weibelschen
Vorstellungen annähert.
Mit artigo versuchen wir – inzwischen DFG-Mittel gestützt – die crowd
als Produzenten von Annotationen zu Kunstwerken anzusprechen. Die
Ausgangslage ist klar. Das Fach verfügt inzwischen über umfangreiche
elektronische Repositorien von Kunst-Reproduktionen, die ihr ganzes
Potential erst dann entwickeln, wenn sie auf unterschiedliche Weise
suchend zu durchforsten sind. Insbesondere eine Metadatenerschließung
ist bislang nur in sehr beschränkter Weise realisiert, wenigstens dann,
wenn man an Metadaten denkt, die über die Benennung von Autor, Titel,
Datierung, Aufbewahrungsort und dergleichen hinausgehen. Das ist bei der
Größe dieser Repositorien auch nicht weiter verwunderlich. Das
französische Joconde-System mit seinen Abbildungen von Kunstwerken aus
staatlichen französischen Museen verfügt inzwischen über 500.000 Werke
(https://www.culture.gouv.fr/
de/Thematisch/Museen/Les-musees-en-France/Die-Sammlungen-der-Museen-
Frankreichs/Joconde-Kollektivkatalog-der-Sammlungen-der-Museen-
Frankreichs), prometheus, (www.prometheus-bildarchiv.de) über
fast 1.000.000, die Fotothek der SLUB Dresden
(http://www.deutschefotothek.de/db/apsisa.dll/ete?) bewegt sich in
ähnlichen Bereichen, Foto Marburg kommt mit seiner schon seit einem
Jahrhundert aufgebauten Sammlung von Dokumentationsphotographien von
Kunstwerken in Deutschland inzwischen auf stolze 2 Millionen
(http://www.fotomarburg.de/). Unsere von dem amerikanischen Informatiker
Luis von Ahn angeregte Idee bestand nun darin, dass wir die Weisheit
der Masse einsetzen könnten, um hier Abhilfe zu schaffen. Wir
präsentieren dem Internet-Publikum einen Bestand von ca. 40.000
Kunstwerken, der weiterhin expandiert und in den auch externe
Bilddatenbestände eingebunden werden können. So haben wir –
das erwähne ich nur, um die spezifisch kollaborativen Formen der Arbeit
im Internet zu veranschaulichen – zuletzt Zehntausende von
Bildern des Amsterdamer Rijksmuseums integriert, die diese überaus
moderne Institution über eine API
(Application Programming Interface) der Öffentlichkeit zur Verfügung
stellt. In Spielform werden die Nutzer eingeladen, Annotationen zu den
Werken zu schreiben. Dabei besteht das Spiel darin, dass sie mit einem
ihnen unbekannten Mitspieler im Netz zusammenarbeiten und ihre
Annotationen (“tags”, daher gehört das Projekt in
den größeren Zusammenhang des social tagging) nur dann validiert werden,
wenn sie in identischer Form von diesem Mitspieler vergeben werden.
Dies dient der Qualitätssicherung bzw. dem Vermeiden von absichtlichem
Blödsinn.
Wir haben auf dem beschriebenen Weg in den letzten 5 Jahren ca. 7
Millionen taggings erhalten, und zwar von mehreren 10.000 angemeldeten
und unangemeldeten Spielern. Der Qualitätssicherungsmechanismus
funktioniert erstaunlich gut, ich probiere mal in der Suche
“Napoleon” aus, und sie werden feststellen, dass
sehr vieles korrekt ist, wobei man der Fairness halber hinzufügen muss,
dass die Suche auch auf die vorgegebenen Titelmetadaten zugreift – und
dass auch alle möglichen Leute Napoleon hießen, die mit dem Napoleon
nicht identisch sind. Übrigens sind auch die Falschannotationen
interessant, da die Falschheit häufig erklärbar ist und interessante
Aufschlüsse über Wahrnehmungsgewohnheiten und die Psychologie der
Kunstrezeption erlaubt. Außerdem überlegen wir, eine Spielversion zu
realisieren, in der wir auf die crowdgesourcte Überprüfung und
eventuelle Korrektur der Daten abzielen.
Die Konzeption des Spiels ermöglicht erstaunlich komplexe Aufschlüsse
über Kunstwerke, eine Komplexität, die zunächst im Gegensatz zu dem
Bottom-up-Ansatz zu stehen scheint, der sich ja auf die Weisheit der
Menge bezieht. Eine vektorraumbasierte Ähnlichkeitssuche auf Basis der
Anzahl der tag-Identitäten liefert teilweise eindrückliche, wenn auch
leicht erklärliche Ergebnisse. Schlachtenbilder werden mit einem so
vergleichbaren Vokabular annotiert, dass unter den ähnlichsten Bildern
eines Schlachtenbildes automatisch lauter Schlachtenbilder ausgegeben
werden. Lege ich einen Gauguin zugrunde, so wirft das System unter den
ersten 11 ähnlichen Bildern 10 weitere Gauguins aus – und zwar
nicht auf Basis des tags “Gauguin”, sondern
ausgehend von einem ebenfalls deutlich konvergierenden
Annotationsbestand, der natürlich geprägt ist von der sehr
charakteristischen Südsee-Themenwelt. Auch die Häufigkeit und die
Reihenfolge der tags kann aufschlussreich sein, obwohl das meiste sich
hier noch im Bereich der Spekulation befindet. Die Reihenfolge der tags
könnte Aufschluss über bildstrukturelle Eigenheiten liefern,
vergleichbar dem, was wir vom eye-tracking wissen. Ein Bild, das 50 Mal
mit “blau” getaggt wird, dürfte mehr Blauanteile
haben als eines, dem diese Beschreibung nur 5 Mal wiederfahren ist. Ein
anderes, das 100 Mal mit “Christus” beschrieben
wurde, könnte diesen prominenter im Bild zeigen als eines, in dem ihn
nur 5 Personen identifiziert haben.
Die Kritik an dieser Art der Informationsgewinnung hat natürlich nicht
auf sich warten lassen. Wir würden ja nur Trivialitäten produzieren, der
Tonfall der Expertenkultur, klarer Fall. Dabei werden
selbstverständlich in dem Spiel Mengen von Trivialitäten hervorgebracht,
was aber nicht weiter schlimm ist. Denn erstens sind auch Trivialitäten
wertvoll (siehe oben). Und zweitens sind die Gesamtmengen so groß, dass
selbst kleine prozentuale Anteile davon, die man nach klassischen
Kriterien als professionell bezeichnen würde, immer noch mehr ausmachen
als das, was in gängigen Verfahren entsteht. Dabei gebe ich zu, dass wir
durchaus noch sehr viel mehr Spieler gebrauchen könnten. Im Übrigen
bedienen wir uns eines einfachen Mechanismus, um auch hochgebildete
Annotationen zu bekommen: Bilder werden mit ihrem Bestand an noch nicht
validierten tags in regelmäßigen Abständen immer wieder zugespielt, so
dass auch die Apokatastasis-Annotation eines besonders gelehrten
Spielers irgendwann einmal gedoppelt und damit
“scharf” gestellt wird.
Für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang ist aber die Qualität
der Eingaben und der Suchmöglichkeiten eigentlich sekundär. Wichtiger
wäre es zu überlegen, ob so ein Spiel nicht auch ein geeignetes Mittel
ist, Besucher an eine museale Institution zu binden. Wir versuchen so
etwas gerade mit der Karlsruher Kunsthalle, die uns einen größeren
Bildbestand aus dem eigenen Besitz in digitaler Reproduktion zur
Verfügung stellt und von der crowd annotieren lässt. Die Idee dahinter:
Ein Publikum, das aus Gründen, die mit dem bildungskathedralartigen
Image zu tun haben, das dem Museum auch noch im 21. Jahrhundert anhängt,
vielfach weiterhin Schwellenängste zu überwinden hat, könnte auf diesem
Wege zunächst einmal Kenntnis von den dort aufbewahrten Werken
erlangen. Die Beschäftigung mit den Bildern, die ja bei artigo über das
reine Betrachten hinausgeht, dürfte dann auf Dauer auch den Wunsch
entstehen lassen, diese Bilder einmal im Original zu sehen –
wobei hier einschränkend an die Diskussion der Benjaminschen Thesen zu
erinnern wäre. Und auch hier sind vielfältige incentive-Möglichkeiten
denkbar, die bis hin zum Aufbau einer persönlichen Beziehung zu
einzelnen Besuchern gehen können. Für die aktivsten Mitspieler vergibt
die Karlsruher Kunsthalle monatlich Buchpreise aus der eigenen
Produktion – was die Sache billig macht. Mein Vorschlag, dass
der Jahres-Highscorer von der Museumsdirektorin zum Essen eingeladen
wird, ist dort bislang noch nicht auf viel Gegenliebe gestoßen. Warum
eigentlich? Stellen Sie sich die lokale Presse vor, die würde sich eine
solche Gelegenheit mit Sicherheit nicht entgehen lassen und das Ganze
mit Photo auf die erste Seite des Lokalteils bringen. Überhaupt eignet
sich das Internet ganz vorzüglich dazu, einerseits eine sehr große Menge
von Leuten, diese aber gleichzeitig sehr individuell anzusprechen. Eine
ideale Möglichkeit gerade im kulturellen Bereich, die aber meiner
Meinung nach noch viel zu wenig genützt wird. Dabei sind hier der
Phantasie erneut keine Grenzen gesetzt. Von interaktiven Lehreinheiten
bis hin zum Angebot, dem Nutzer den Aufbau eines individuellen
Kunstwerk-Portfolios zu ermöglichen, das er dann mit anderen sharen
kann: insbesondere angelsächsische Institute sind hier viel weiter
fortgeschritten.
Das Schöne bei solchen elektronischen Projekten ist – und das
hat ebenfalls mit der Tatsache zu tun, dass das Digitale ungreifbar,
flüchtig und rekontextualisierbar ist -, dass sie prinzipiell nie
abgeschlossen sind, sondern sich dafür anbieten, immer neue Layer über
sie zu legen. Im Anschluss an Weibels Museum 2.0-Idee würden wir gerne
eine Erweiterung vornehmen, die es den taggern ermöglicht, auf der Basis
ihrer eigenen Annotationen Ausstellungen im Internet zu gestalten. Die
Software-Funktionalität wäre dabei durchaus nicht simpel, es müsste ein
Export der Suchergebnisse in eine neue, komplexe
Präsentationsmöglichkeiten erlaubende Oberfläche realisiert werden.
Hinzu käme die Integration einer Kooperationsplattform, die es den
verschiedenen usern im Internet ermöglichte, sich zu „Ausstellungsteams“
zusammenzuschließen. Das Ergebnis hätte sicherlich nicht mehr viel mit
klassischen Ausstellungen zu tun. Es würden wohl Themen gewählt, die
weniger historische Relevanz hätten, als eher dem direkten Lebensumfeld
der Nutzer entsprächen. Vielleicht einmal eine Ausstellung zur Farbe
Blau, ein tag, der naturgemäß sehr häufig vorkommt und den meisten daher
trivial erscheinen wird. Aber ich bin ganz sicher, dass statistisch
eine deutliche Häufung in der Phase des Symbolismus resultieren würde,
so dass ein erster – dann doch wieder historischer –
Zugriff vorläge. Oder die Ausstellungsmacher würden den tag „Kind“ als
Ausgangspunkt nehmen – davon haben wir inzwischen tausende. Da
könnte doch mal ein jugendliches Publikum seine eigene historische
Erscheinungsform thematisieren.
IX
Ein kleiner Exkurs, da ich aufgefordert wurde, am Rande auch über
allgemeinere Implikationen der Digitalkultur für die Kunstgeschichte zu
sprechen. Ich habe den Eindruck, dass die in artigo praktizierte
Wissensproduktion einer allgemeineren Verschiebung im Internet-Workflow
entspricht, die erneut quer steht zum Gängigen. Aus Gründen, die
vielleicht auch nur mit dem inzwischen in quasi unendlicher Menge zur
Verfügung stehenden Speicherplatz zu tun haben, lässt sich vielfach
beobachten, dass im Internet das Verhältnis von Qualität und Quantität
einer grundsätzlichen Umdefinition unterliegt. Die traditionelle
kulturelle Produktion hatte es mit einer Knappheit der Ausdrucksorte zu
tun, die dazu zwang, salopp gesagt, erst zu überlegen und dann zu
produzieren. Das dreht sich jetzt um (wahrscheinlich der Hauptgrund für
die hier gängigen Ironisierungen): Die entscheidenden Filter werden
nachgelagert. Es werden große Datenmengen produziert, die von sehr
unterschiedlicher Qualität sind, wichtig wird es dann sein, digitale
Algorithmen zu produzieren, die aus der Masse das Vernünftige
herausfiltern – aber eben auch dem scheinbar Nebensächlichen, das bis
dahin gar nicht erst veröffentlicht wurde, eine Entdeckungschance zu
geben. Bei artigo wird natürlich auch ein Haufen Mist produziert, auch
Friedrich den Großen auf dem Rücken seines Pferdes haben einige unserer
Mitspieler als Napoleon identifiziert. Aber Friedrich der Große wurde
nur 2 Mal mit Napoleon getaggt (Sie erinnern sich daran, dass damit die
Bedingung für die Validierung erfüllt ist), echte Napoleone aber 20 oder
30 Mal. In einer Suchmaschine würden die hohen Tagwerte natürlich
insofern berücksichtigt, als sie in einem vorderen Platz der
Ergebnisliste resultierten, während der große Friedrich hinten landete
und dadurch tendenziell verschwände. Wenn Sie so wollen, steckt dahinter
eine philosophisch hochinteressante Umwertung: Der Gegensatz von „wahr“
und „falsch“ wird ersetzt durch denjenigen von hoher Quantität (=
richtig) und niedriger Quantität (= falsch) Das ganze
Crowdsourcing-Verfahren erinnert mich immer an das Tontaubenschießen. In
der analogen Welt sind Sie gezwungen, einen Profi anzuheuern, der beim
Schießen eine hohe Trefferquote hat. Also ein Experte, den man bezahlt.
Die Alternative wäre, 10.000 Laien ein Gewehr in die Hand zu drücken, um
die Tontaube abzuschießen. Alle ballern wild in der Gegend herum, aber
ein paar wenige werden auch treffen – und sei es durch Zufall.
In der analogen Welt geht das natürlich nicht, man müsste die 10.000
herankarren, und das würde teuer (mal abgesehen davon, dass in dem
Gerangel sicherlich der eine oder andere Schuss auch einen anderen
Tontaubenschützen treffen würde). Aber im Internet geht es sehr wohl,
und hier könnte man sich den Vorteil zunutze machen, dass die Laien
billiger sind bzw. gar nichts kosten. „Bezahlen“ würde man sie
einerseits über den Spaß, den das Spiel macht, über die Bildungswirkung
und über die ihnen erbrachte Gewissheit, gemeinschaftlich bei der
Qualitätsverbesserung einer Bilddatenbank mitgeholfen zu haben. Beim
Spaß haben wir noch Probleme, weil das Spiel bislang über zu wenig
Unterhaltungsmomente verfügt. Bei der Bildungswirkung sieht es schon
besser aus, zumindest dann, wenn Sie mir abnehmen, dass ein Kunstwerk,
mit dem ich taggend gearbeitet habe, besser in meinem Gedächtnis haften
bleibt als eines, das ich mir nur „passiv“ anschaue. Und von der
Datenbankverbesserung können Sie sich überzeugen, wenn sie die
Suchmöglichkeiten nutzen. Das „Teilen“ als eine Möglichkeit, in der
kapitalistischen Grundordnung wenigstens parziell den alten Traum von
einer gemeinschaftlichen Produktionsweise zu erhalten, spielt in den
Wirtschaftswissenschaften zur Zeit übrigens eine große Rolle. Die
nächste Cebit wird unter dem Motto „shareconomy“ stehen.
Wie gesagt, solche workflow-Verlagerungen sind vielfältig im Internet zu
beobachten. Publikationsmodelle werden entwickelt, bei denen der
vorgeschaltete peer-reviewing- durch einen nachgelagerten bewertenden
Kommentarprozess abgelöst wird. „Publish first, filter later“ heißt das
bei Clay Shirky, der ein berühmtes Buch über „Here comes everybody“
geschrieben hat. Großen Erfolg haben von Amateuren und Profis
gleichermaßen erzeugte Photosammlungen, die vielfältig bewertet und dann
auch gekauft werden können, eine echte Konkurrenz für klassische
Auftragsphotographie usw. usf. Die Kunstgeschichte hat sich mit ihren
digitalen Projekten bislang meistens darauf beschränkt, das, was sie
immer schon gemacht hat, jetzt eben ins neue Medium zu transferieren. So
wichtig etwa Projekte zur internetgestützten Inventarisierung eines
bestimmten musealen Bestandes auch sind: Für meine Begriffe sollten auch
verstärkt Unternehmungen in Angriff genommen werden, die den von mir
angenommenen veränderten workflow ernster nehmen. Das hieße
insbesondere, das Augenmerk stärker auf „intelligentere“ Algorithmen zu
legen, die die im Netz schon jetzt vorhandenen Informationen
umfangreicher erschließen. Voraussetzung auch hierfür ist allerdings,
dass deutlich größere Informationsmengen aus dem Bereich der
Kunstgeschichte, die bislang nur in analoger Form vorliegen, verstärkt
ins Internet konvertiert werden – und zwar open access, nicht
in irgendwelchen kostenpflichtigen Repositorien.
X
Die grundsätzliche Verschiebung, die in der Digitalkultur zu erwarten
ist und die ich im Anschluss an Lessig als einen Übergang von read-only
zu read-and-write beschrieben habe, wird sich auf vielen Ebenen, gerade
auch im Museumswesen auswirken. Speziell die internetgestützten sozialen
Medien stellen hier ein Instrumentarium bereit, das in seinen
Implikationen noch längst nicht verstanden, geschweige denn ausgeschöpft
ist. Nehmen wir dazu nur einmal das weblog. Institutionell genützt
verkommt es meistens zu einem Verlautbarungsorgan, in dem die Meldungen
der jeweiligen Pressestellen dupliziert werden. „Die
Caspar-David-Friedrich-Ausstellung eröffnet am 25. September.
Vernissage am Abend vorher“. Darüber kann man schlecht diskutieren. Also
wieder nur read only statt read/write. Dem Wesen eines solchen blogs
wird damit nicht nur nicht entsprochen, es wird ihm geradezu
zuwidergehandelt. Denn der blog ist ein Medium der Subjektivität, er
fordert den ganz individuellen, persönlichen Blick auf ein Phänomen, auf
den dann aus ebenso persönlicher Perspektive kommentierend geantwortet
wird. „Die Pressestelle spricht für das Unternehmen. Wir sprechen
darüber“ heißt das bei dem Social-Media-Manager eines großen deutschen
Industrieunternehmens. (Süddeutsche Zeitung, 4.9.2012) Das steht nun in
der Tat quer zum Wesen einer öffentlichen Institution, das sei
zugegeben. Aber entweder diese Institution enthält sich des Gebrauches
solcher sozialen Medien, oder sie lässt sich von ihnen verändern. Ganz
konkret heißt das: Mut zur subjektiven Meinung, aber auch Mut dazu, auch
den jungen Volontär unkontrolliert mit seiner persönlichen, eben
Volontärsmeinung, an die Öffentlichkeit treten zu lassen. Ganz und gar
unmöglich ist das, was ich zum Thema bloggen immer wieder einmal aus den
Museen mitbekomme: Da darf nur die obere Etage schreiben (was sie
allerdings angesichts der vielfältigen anderen Aufgaben nur selten tut),
und wenn einmal Jüngere zum Zuge kommen, dann müssen deren messages
erst von der oberen Etage abgesegnet werden. Ich blogge selber und
schreibe im Zweifel auch immer mal wieder Blödsinn
(www.blog.arthistoricum.net). So what? Die Münchner Uni (an der ich
arbeite,
http://www.kunstgeschichte.uni-muenchen.de/personen/prof_uni/kohle/
index.html) wird daran nicht zugrunde gehen. Und gerade die mutigen und
frechen Mitteilungen provozieren natürlich Kommentare und damit den
gewünschten Öffentlichkeitseffekt. Auf jeden Fall scheint mir der
erwartbare Gewinn größer als die Probleme, die dadurch entstehen
könnten, dass einmal ein unerfahrener Blogger etwas weniger Durchdachtes
postet. Insbesondere wäre ein Humanisierungseffekt zu erwarten, der dem
Image des Kulturtempels entgegenwirken könnte. Was ein Museumskustos
macht, weiß wahrscheinlich kein Mensch so genau. Aber wenn er oder sie
aus einem Londoner Hotel die Nachricht postet, dass er gerade ein
wertvolles Bild begleitet, das in einer Ausstellung der Tate Gallery
gezeigt werden soll, dann sieht das schon anders aus.
XI
Die Befürchtungen gegenüber dem digitalen Medium sind vor allem durch
die Erwartung geprägt, dass die konzentrierte und meditative Stimmung
des Museumssaales in Zukunft durch alle möglichen elektronischen Gadgets
zerstört werden könnte, durch blinkende und kreischende iphones,
zappelnde Bildschirmprojektionen und dann eventuell auch noch
Mitteilungen der Sponsoren, die sich in den heiligen Hallen zwecks
Besucher-Beeinflussung einnisten. Hier würde ich allerdings in der Tat
warnen. Die beiden Bereiche können durchaus getrennt gehalten werden.
Als Ausstellungsort muss sich das Museum nicht wesentlich ändern,
zumindest nicht aus Gründen, die mit der Digitalisierung zu tun haben.
Der Museumsraum lässt sich durchaus weiter als Raum des ästhetischen
Erlebnisses begreifen. Daneben aber wäre der digitale Raum als einer der
Diskussion, Analyse und Kooperation zu etablieren. Erst in dieser
Doppelung würde das Museum zu einem zeitgemäßen Instrument der
hochrangigen kulturellen Bildung. Und auch wenn langfristig die vorhin
geäußerte pessimistische Prognose einträfe, dass das Original seine
Bedeutung verlöre, bliebe die Arbeit an der Geschichte erhalten und
damit das, was die Aktivität des Kunsthistorikers und der
Kunsthistorikern in der Gesellschaft legitimiert.
veröffentlicht am 11.1.2013