Weil Musik, anders als Sprache, nicht aus Bedeutungsträgern besteht, ist sie nicht zu fassen. Umso wirkmächtiger greift sie uns ins Gemüt, – was sie der Macht unverfügbar macht und der Marktwirtschaft zu attraktiv erscheint, um sie nicht zu instrumentalisieren. Kerstin Lücker denkt in ihrem Kommentar darüber nach.
„Man sieht nur mit dem
Herzen gut“, sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen, und obwohl diese
Weisheit vom Zu-viel-zitiert-werden ein bisschen wie vergorene Milch
schmeckt, frage ich mich, ob man mit dem Herzen auch gut hört.
Dabei verkehrt schon die Frage eine alte Denkgewohnheit in ihr
Gegenteil: Odysseus, der alte Fernreisende, kann die Macht, die der
Gesang der Sirenen über die Herzen seiner Männer ausübt, nur brechen,
indem er ihnen die Ohren mit Wachs verstopft und sich selbst an einen
Schiffsmast binden lässt. Und Iasons Argonauten entgehen der Gefahr,
indem der an Bord befindliche Orpheus die Sirenen mit seiner Lyra
übertönt.
Dass Musik ans Herz rührt, machte sie Platon suspekt, er traute
ihr staatszersetzende Wirkung zu. Ähnlich ging es der katholischen
Kirche. Im Gottesdienst, fürchtete man, würden Gefühle die eigentliche
Funktion der Musik (seelische Erbauung, Besinnung auf Gott)
unterminieren.
Als sich an den französischen Höfen gegen Ende des Mittelalters aus der
christlichen Liturgie die Motette herausbildete, war auch das eine eher
intellektuelle Angelegenheit. Mehrere, in Latein und Französisch
übereinandergeschichtete Texte, die einander kommentierten und zugleich
den Text aufs Korn nahmen, der im Tenor versteckt war, einer aus der
Liturgie entnommenen Tonfolge, deren liturgische Bedeutung die
Komponisten als bekannt voraussetzten: Nur ein kleiner Kreis gebildeter
Zuhörer ließ sich von derlei Kunst unterhalten.
Musikwissenschaftler werden oft gefragt, ob das analysierende,
verstehende Hören ihnen nicht den Genuss verdirbt, ob es ihnen nicht
geht wie Literaturkritikern, die mit den Protagonisten eines Romans
nicht so richtig mitfühlen können, weil sie hinter allem die
Konstruktion sehen.
In jüngster Zeit haben Physiologen, Biologen und Hirnforscher unser Bild
von Wahrnehmungsvorgängen völlig auf den Kopf gestellt. Anders als
Descartes es sich dachte, sitzt die „Ratio“ nicht im Gehirn. Vielmehr
werden im ganzen Körper ununterbrochen Informationen verarbeitet
darüber, was in uns und um uns herum geschieht.
Hans Wuethrich spielt in seinem Stück Die singende
Schnecke mit dieser Erkenntnis, in dem er die Zuhörer
mithilfe von genauen Angaben dazu animiert, die außen hörbaren Klänge
durch imaginierte Klänge zu einer Komposition zu verbinden.
Eine Cellistin erzählte mir, sie sei einmal bei ein paar Takten Musik
aus dem Radio ganz plötzlich in Panik geraten. Ihr Herz habe angefangen,
wild zu schlagen, ihre Atmung wurde flach. Dabei konnte sie das Stück,
das gespielt wurde, noch gar nicht zuordnen. Es handelte sich um den
Beginn des dritten Akts von Verdis Don Carlos; nach einleitenden
Orchesterschlägen setzt ein einziges Cello zu einem großen Solo an. Sie
hatte das vor vierzig Jahren als junge Musikerin gespielt. Ihr Herz
erinnerte sich an das Lampenfieber, noch ehe sie die Musik bewusst
wiedererkannte.
Emotionen haben in der Physiologie des Wahrnehmens und des Denkens eine wichtige Funktion: Sie informieren uns über Werte und Sorgen und helfen uns, Entscheidungen zu fällen: Was tue ich als nächstes? Das erklärt, warum wir über Emotionen besonders leicht manipulierbar sind. Auch im 21. Jahrhundert appellieren Sirenen an unsere Werte und Ängste, Werbung zum Beispiel oder der Gesang der Populisten. Insofern wäre es manchmal vielleicht sinnvoll, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Doch wenn Emotionen wirklich Teil unserer „Intelligenz“ sind, wichtige Bausteine in unserem Informationen verarbeitenden Körper, bedeutet das auch: Das hörende Herz muss der analysierenden, Descartes’schen Ratio nicht unterlegen sein; im Gegenteil. Am besten funktioniert unsere Intelligenz, wenn die vielen Subsysteme des Körpers gut miteinander kommunizieren. Vielleicht hören wir mit dem Herzen besonders gut.