Es gibt viele Sprüche in der „Dreigroschenoper“, denen wir einen großen Wahrheitsgehalt zusprechen müssen. Nur, dass der Haifisch die Zähne nicht im Maul, sondern im Gesicht trägt, will nicht so recht überzeugen. Aber gerade solche Unstimmigkeiten halfen der Oper mit zum Erfolg. Nun hat Barrie Kosky in Berlin den Evergreen neu inszeniert, und Walter H. Krämer hat ihn gesehen.
Die Uraufführung der
„Dreigroschenoper” von Bertolt Brecht (Libretto) und Kurt
Weill (Musik) am 31. August 1928 stand unter keinem guten Stern. Der
legendäre Brecht-Vorhang wurde erst eine halbe Stunde vor der Premiere
fertig, die Farbe an den Wänden war noch nicht trocken und einige der
angedachten Schauspieler*innen erkrankten oder liefen davon. Und zu
allem Überfluss verlangte der Darsteller des Mackie Messer nach einer
angemessenen musikalischen Einführung seiner Rolle. Über Nacht schrieb
Bertolt Brecht dann den Text und Kurt Weill die Musik zur Moritat von
„Mackie Messer” mit der Anfangszeile “Und der
Haifisch, der hat Zähne.“
Man war sich nicht sicher, wie dieses neuartige Stück Musiktheater wohl
beim Berliner Publikum ankommen würde. Die meisten gingen von einem
Misserfolg aus. Anfangs schien es auch einer zu werden. Der Theatersaal
bei der Premiere nur halb voll, die Stimmung eisig, und zunächst hörte
man kaum Reaktionen aus dem Publikum. Aber das sollte sich ändern. Beim
„Kanonenlied” gab es spontanen und begeisterten Applaus.
Unverzüglich folgte eine Zugabe und eine Erfolgsgeschichte nahm seinen
Lauf.
Die Zuschauer*innen der Premiere pfiffen die Melodien bereits auf dem
Nachhauseweg, und die Lieder aus der „Dreigroschenoper“ wurden zu wahren
„Gassenhauern“, stürmten später auch die Charts – allen voran der Song
von „Mackie Messer“ („Mack the Knife”). Auf seinem Siegeszug
durch die Welt gesungen von u.a. Ella Fitzgerald, Udo Lindenberg, Luis
Armstrong und Bobby Darin.

Barrie Kosky inszeniert mit der Neuproduktion der „Dreigroschenoper" in Berlin
Barrie Kosky – Regisseur und langjähriger Intendant der Komischen Oper Berlin – stellte nun am Ort der Uraufführung von 1928 eine Neuproduktion – mittlerweile dann die fünfte Inszenierung dieses weltbekannten Stoffes am historischen Ort – auf die Beine.
Elisabeth Hauptmann lernte 1926 bei einem Besuch in London die „Beggar‘s Opera“ von John Gay aus dem Jahre 1728 kennen. Sie weckte Brechts Interesse am englischen Ursprungstext, übersetzte den Text und bereitete ihn für Brecht auf. Bertolt Brecht erkannte die Genialität des Werkes und erarbeitete zusammen mit Kurt Weill auf dieser Grundlage die „Dreigroschenoper“ (der Titel ist im übrigen Lion Feuchtwanger zu verdanken), in der es um den Konkurrenzkampf zweier krimineller und skrupelloser Geschäftemacher, des attraktiven und charmanten Macheath (in der Inszenierung von Barrie Kosky gespielt von Nico Holonics) einerseits und des gerissenen Peachum (in der Neuinszenierung gespielt von Tilo Nest) andererseits, geht.

Brecht
wollte – ganz im Sinne seines „epischen“ Theaters – die Zuschauer*innen
nicht in das Geschehen auf der Bühne hineinziehen. Die Figuren sollten
aus ihrer Rolle heraustreten und vor dem Vorhang die Lieder singen.
Damit wollte der Autor erreichen, dass sich die Zuschauer*innen über den
Zustand der Welt Gedanken machen. Ein frommer Wunsch.
Das Publikum der Uraufführung verließ das Theater weniger belehrt,
sondern bestens unterhalten. Im Jahre 1933 – nach mehr als vier Jahren
Dreigroscheneuphorie – äußerte sich Bertolt Brecht in einem inszenierten
Selbstgespräch wie folgt:
„Was meinen Sie, macht den Erfolg der ‚Dreigroschenoper‘ aus?
Ich fürchte, all das, worauf es mir nicht ankam: die romantische
Handlung, die Liebesgeschichte, das Musikalische. […]
Worauf wäre es Ihnen angekommen?
Auf die Gesellschaftskritik. Ich hatte zu zeigen versucht, dass die
Ideenwelt und das Gefühlsleben der Straßenbanditen ungemein viel
Ähnlichkeit mit der Ideenwelt und dem Gefühlsleben des soliden Bürgers
haben.“
Barrie Kosky versucht erst gar nicht, die Zuschauer*innen mit seiner
Inszenierung zu belehren. Hier werden die Songs aus dem Charakter der
einzelnen Figuren heraus entwickelt und gesungen. Statt Brecht-Vorhang
und Distanz – Glitzer und Emotionen.
Drei Haltungen gegenüber diesem Werk schließt Barrie Kosky vollständig aus: „park, bark and snark. Schauspieler, die sich einfach hinstellen (park), ihre Botschaft ins Publikum bellen (bark), und zwar mit Arroganz und moralinsaurer Überheblichkeit (snark).” Daher kein moralischer und belehrender Zeigefinger, sondern ein Beziehungsgeflecht der Personen untereinander – melodramatisch und sentimental mit einem Hauch Psychologie.
Tilo Nest als Bettlerkönig Peachum gibt sich verlogen und intrigant, Cynthia Micas als sein Töchterchen Polly ist eine wahre Schönheit und sehr selbstbewusst. Constanze Becker als Mrs. Peachum arrogant und mondän mit Pelzmantel auf nackter Haut. Bettina Hoppe als verlebte Spelunken-Jenny und Laura Balzer als durchgeknallte Tochter von Tiger Brown (Kathrin Wehlisch) – Polizeipräsident und Freund aus alten Armeetagen von Macheath. Nico Holonics als Macheath alias Mackie Messer zeigt sich als ganzer Kerl, der nichts anbrennen lässt. Schlägt, verführt, tanzt und wickelt alle Damen um die glitzernden Ringe seiner Finger. Und all das in einem Bühnenbild (Rebecca Ringst), das aus Stahlgerüsten käfigartig zum Labyrinth mit Absturzgefahr für die Spieler*innen wird.
Bleibt noch die herausragende musikalische Leistung von Adam Benzwi – langjähriger Mitstreiter von Barrie Kosky – zu erwähnen. Er bringt die sieben Musiker*innen dazu, Höchstleistungen zu vollbringen und den Liedern den „Swing“ einzuhauchen.
An zwei Bedingungen knüpfte Barrie Kosky seine Inszenierung der „Dreigroschenoper“ am Berliner Ensemble: Adam Benzwi musste als musikalischer Leiter mit von der Partie sein, und er sucht sich als Regisseur alle Schauspieler*innen selbst aus. Hat wunderbar funktioniert – wobei ganz klar bei dieser Oper singende Schauspieler*innen gefragt sind, die noch, anders als ausgebildete Opernsänger*innen, einen gewissen „Schmutz“ in der Stimme haben.

Und zu guter Letzt der Blick in die Feuilletonseiten zweier renommierter Zeitungen mit unterschiedlichen Sichtweisen – und das ist gut so – auf die Inszenierung. In der Süddeutschen Zeitung war unter der Überschrift „Und der Haifisch trägt Lametta“ zu lesen: „Barrie Kosky schrumpft die große, beißende Oper von Brecht und Weill auf kleines, zahnloses Komödienstadelformat.“ Dagegen die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Am Berliner Ensemble zeigt Barrie Kosky eine phänomenale „Dreigroschenoper“, eine ausgelassene Feier des Lebensspiels – als hätte die vergilbte Partitur von Brecht und Weill der Flügel eines Paradiesvogels gestreift.“
Und jetzt? Bilden Sie sich selbst eine Meinung. Gehen Sie hin. Lassen Sie sich verzaubern. Sie werden es nicht bereuen. Versprochen.