Die Botschaft ist klar: Alles auf Anfang. Angelos, das ist der Bote, der Engel, der die Botschaft bringt. Der Adressat sitzt im Theater und empfängt die Botschaft in der aktuellen Fassung. PeterLicht und SE Struck überschreiben den guten alten Luis Buñuel, und Claudia Bauer bringt den „Würgeengel“ überzeugend auf die Bühne des Schauspiel Frankfurt. Martin Lüdke lobt die Aufführung.
Sie kommen
polternd durch die Seitentür auf die Bühne, also auf den Blätterwald
zu, der einen schmalen Eingang zum Haus lässt. Caterer, zwei kräftig
derbe Gestalten, Mann und Frau. Sie schleppen große Styroporkisten,
Wärmehalteboxen, die das Essen für eine offenbar bevorstehende Party
enthalten. Sie bleiben an der Treppe stehen, weigern sich, eigentlich
mit eher fadenscheinigen Argumenten, also eher unerklärlich, ihre
Lieferung ins Haus zu tragen.
Es scheint eine Marotte. Weidlich ausgespielt. Doch könnte man auch
stutzig werden.
Könnte!
I
Die Vorlage für Peter Licht und SE Struck ist Luis Buñuels Film „Der
Würgeengel“ aus dem Jahre 1962. Der Film kam kurz vor dem Höhepunkt des
Kalten Krieges heraus. Aber nicht nur die politische Großwetterlage,
Berliner Mauer, Kubakrise, versprach turbulentere Zeiten. Auch die
gesellschaftliche Entwicklung nahm langsam Fahrt auf. Der Film kam zum
richtigen Zeitpunkt. Er beschrieb, ziemlich treffend, den Stand der
Dinge. Damals, 1962.
Man kann allerdings nicht mehr darauf bauen, dass Buñuels Film heute
noch präsent ist. Das gabt den Bearbeitern freie Hand. Doch der Stoff
ist nicht zeitlos. Aber transportfähig.
Wie sieht es also heute aus?
Was also macht Claudia Bauer, die Regisseurin, die vor einigen Jahren
bereits den „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ auf die Bühne gebracht
hatte, aus dieser Vorlage??

Beschreibt
Buñuels ‚Stück’ in der Überschreibung durch PeterLicht/ SE Struck auch
wieder die gegenwärtige Gegenwart, die ziemlich verfahrene,
gesellschaftliche Situation, aus der allein durch einen Neustart
herauszukommen wäre?
Gute Frage? Oder?
Die „Negative Dialektik“, 1966, von Theodor W. Adorno, der zu Buñuels
Zeiten eine gute Rolle in dem gespielt, was man damals noch das
„geistige Leben“ nannte, geht von dem Grundgedanken aus, dass die
gesellschaftliche Entwicklung von allem Anfang an falsch gelaufen sei.
(In der gemeinsam mit Max Horkheimer geschriebenen „Dialektik der
Aufklärung“, 1949, war dieser Gedanke bereits entwickelt worden!) Adorno
erinnert an den Satz von Karl Kraus: „Ursprung ist das Ziel.“ Er
präzisiert diese Aussage: „Nicht wäre das Ziel, in den Ursprung, ins
Phantasma guter Natur zurückzufinden, sondern Ursprung fiele allein dem
Ziel zu“. (ND, 156).
Nun könnte man mit Robert Gernhardt meinen, der sich auf seine Weise
auch zur Frankfurter Schule bekannt hat, „mein Gott ist das
beziehungsreich, ich glaub’, ich übergeb’ mich gleich“.
II
Irgendwie haben die also was geahnt. Die beiden Caterer, die das Essen
für die geplante Party anliefern sollen. Sie weigern sich standhaft, das
Essen ins Haus zu bringen und lassen es deshalb auf der Treppe stehen,
vor dem Haus. Was die Haushälterin (Julia Preuß, beeindruckend!) zwar)
empört, was sie aber nicht ändern kann. So etwas wie ein proletarischer
Instinkt hat die beiden Caterer davor bewahrt, wie die später ankommende
Party-Gesellschaft, das Haus zu betreten. Denn: Das lässt sich bald
schon erkennen, wer einmal drinnen ist, kommt nicht mehr raus. Die
bunten Vögel, die schon gut gelaunt von irgendeiner Opern-Gala kamen,
werden das gleich am ersten Abend noch merken. Eine unsichtbare Macht
hindert sie daran, die Gesellschaft (hier wirklich im doppelten Sinn) zu
verlassen. Diese Tatsache wurde seinerzeit, bei Buñuel, als
surrealistischer Zugriff verstanden. Erstaunlicherweise.
Und jetzt geht es wieder darum.
Eine Gesellschaft ist in ihrem Vergnügen gefangen. Es gibt kein
Herauskommen. Am Anfang wird sich noch fröhlich vergnügt, gevögelt,
gestritten, getanzt und, den gegenwärtigen Gepflogenheiten entsprechend,
frugal geprasst. Kein Kaviar, eher Karotten, gleichsam nachhaltig, aus
heimischer Produktion. Dann aber geht das Essen aus. Sogar das Wasser
wird knapp. Und Johann, der von Anfang an kränkelnde Klavier-Virtuose,
beginnt zunehmend zu schwächeln. Er wird später sogar bald sterben, was
dann allerdings neue Probleme aufwirft. Er beginnt nämlich zu müffeln
und muss deshalb dringend entsorgt werden. Das Vergnügen hat ein Ende.
Das Elend nicht. Die Stimmung wird gereizter. Die Aggressivität steigt.
Und die Tage vergehen. Und auch die Nächte. Es knistert geradezu. Die
Lage wird immer kritischer.
III
Claudia Bauer hat die Sache ziemlich gut im Griff. Sie kann sich auf ihr
Ensemble verlassen. Die meisten waren schon beim „Diskreten Charme der
Bourgeoisie“ dabei. Claudia Bauer zeigt zeigt genau das, was seinerzeit
Adorno „Dialektik im Stillstand“ genannt. Es ist viel los, aber
letztlich passiert nix. Sabrina (Katharina Lindner) bürstet sich mit
solcher Inbrunst die Haare, dass Bela an die Decke geht. Alle sind immer
in Bewegung. Keiner kommt vorwärts. Und das, was passiert, heftige
Auseinandersetzungen, sogar der Tod, das ändert nichts an der Situation
dieser Gesellschaft, die sich (sozusagen) selber gefangen hat. Kleine
Techtelmechtel, Auseinandersetzungen. Das Immergleiche. Es ist im Grunde
eine Ensemble-Leistung, bei der keiner hervorsticht, aber auch keiner
abfällt. Es ist d i e Gesellschaft, die hier von Claudia Bauer
eindrucksvoll präsentiert und dafür mit kräftigen Beifall belohnt
wird.
Nur das Bühnenbild verdient noch ein Extralob. Andreas Auerbach hat die
gesamte Breite der Bühne dafür genutzt, um zu zeigen, dass es auch auf
breitem Raum ziemlich eng werden kann. Mal wieder ein gelungener
Abend.