Das Theater lebt vom Bezug auf die Gegenwart, selbst und vor allem, wenn er auf der Bühne nicht ausdrücklich ausgestellt wird. Zugleich bringt die Theaterarbeit leicht eine ästhetische Parallelwelt hervor, die von der Theatergeschichte oder von anderen Inszenierungen beeinflusst ist, also vom Theater selbst. Die Neugier darauf, was an geglückten Stücken entstand, hat Martin Lüdke zu Saisonbeginn zum „Geizigen“ und zu „Orlando“ ins Frankfurter Schauspiel getrieben.
Zwei
Premieren zu Beginn der neuen Spielzeit. Und: Ein Dilemma. Molieres
Komödie „Der Geizige“ wurde wenigstens noch vom Blatt gespielt. Und zwar
ohne weiteren interpretatorischen Anspruch, aber damit auch ohne
sinnfreie Eingriffe in den überlieferten Text.
Anders bei der Adaption von Virginia Woolfs berühmten Roman „Orlando“.
Da geht es um eine die Jahrhunderte übergreifende und zugleich die
Geschlechtsgrenzen sprengende Abenteuergeschichte. Es ist ein
tollkühn/übermütiges Spiel, das Virginia Woolf ihrer Freundin (und
Geliebten) Vita Sackville-West buchstäblich auf den Leib geschrieben
hatte. Und am Ende, so das Original, wird Orlando „ihre Brust dem Mond“
entblößen, der „zwölfte Schlag der Mitternacht“ wird ertönen, und es ist
der 11. Oktober 1929.
Die an sich von Jessica Glause geplante Inszenierung war offenbar
gründlich in die Hose gegangen. Deshalb haben der Intendant Anselm Weber
und seine Dramaturgin Katrin Spira sozusagen in letzter Sekunde einen
Rettungsversuch unternommen.

I
Die Bühne ist leer. Nur von sehr hohen, bis in den dunklen Bühnenhimmel
reichenden, aus großen, teils vergoldeten Holzquadraten
zusammengesetzten, aber beweglichen Wänden begrenzt. Das gibt der Sache
einen abstrakten, jedenfalls zeitlosen Rahmen. Das Personal, weitgehend
in dunkler, leicht anbarockisierter Kleidung, sucht, damit gut sichtbar,
die Zeitlosigkeit im siebzehnten Jahrhundert. Nur Harpagon, der
komische Held, muss den Komödiencharakter am Leibe tragen. Kurzes
Röckchen, Puffärmel, überlange Stiefel. Eine lächerliche Gestalt, aus
der Peter Schröder allerdings das Beste zu machen versteht. Mit Hilfe
von oben, natürlich.
Deus ex machina, also ein Gott, der aus der Maschine kommt, bezeichnet
in der Theatergeschichte eine ebenso plötzliche und überraschende wie
unmotivierte Lösung eines Problems, das mit vernünftigen und
vorhersehbaren Mitteln nicht zu erwarten gewesen wäre. Sozusagen die
rettende Hand aus dem Himmel.
Dabei ist das Problem, das sich in Molieres berühmten Stück „Der
Geizige“ stellt, 1668, also vor über dreihundertfünfzig Jahren erstmals
aufgeführt, leicht zu lösen. Das Stück geht übrigens auf eine sogenannte
Goldtopf-Komödie des römischen Dichters Plautus zurück, von dem
übrigens nur noch bekannt ist, dass er bereits 184 v. Chr. starb. Damit
zeigt sich aber immerhin, dass es sich bei diesem Stoff offenbar um eine
anthropologische Konstante handelt. „Geiz ist geil“. Seit jeher.
Der alte Harpagon, schon lange Witwer, sitzt nicht nur auf seinem Geld,
sondern ist von einer panischen Angst geplagt, sein Vermögen könne ihm
entwendet werden. Kein glücklicher Mensch also. Zwar reich, aber ein
armes Schwein. Er möchte, ohne große Kosten, versteht sich, selbst auch
wieder heiraten, und zwar ein junges, aber mittelloses Mädchen. Seine
beiden Kinder, Sohn und Tochter, beide im heiratsfähigem Alter, will er
deshalb ebenfalls, und selbstverständlich gewinnbringend, unter die
Haube bringen. Für den Sohn steht eine alte Witwe bereit.
Peter Schröder zeigt, sehr konsequent, das Groteske an diesem
komischen Stück. Es ist nicht der Frühkapitalismus, den Moliere im Auge
hat. Sondern die anthropologische Konstante der puren Gier, das Haben um
des Habens willen. Und, als Kehrseite, die bei Schröder deutlich zum
Ausdruck kommt, die Angst, das, was man zusammengerafft hat, wieder zu
verlieren. Dass ihm dabei das Leben verloren geht, das ist der Preis,
den der Geizige dafür zahlt. Molieres Harpagon steht an einer
Epochenschwelle. Raffgier und Geiz laufen gleichsam kontinuierlich durch
die Zeiten, während sich, parallel dazu, aber nur in einer umgrenzten
Epoche, die sogenannte ursprüngliche Akkumulation vollzieht, die den
Beginn des kapitalistischen Zeitalters markiert. Die slowenische
Regisseurin Mateja Koležnik, die seit über zehn Jahren auch im
deutschsprachigen Raum, durchaus erfolgreich, inszeniert, hat aber
offenbar mit diesem Stoff etwas gefremdelt. Geiz, zweifellos eine
anthropologische Konstante, nimmt, wie angedeutet, je nach Stand der
geschichtlichen Entwicklung, eine jeweils spezifische Gestalt an. Die
herauszuarbeiten, bleibt wohl die Aufgabe jeder neuen Inszenierung.
Aber, sei’s drum, der immerwährende Geiz bringt seinen Betrachtern ein
gleichfalls immerwährendes Vergnügen. Denn der Geizige, der seinen
Zwängen ausgeliefert bleibt, garantiert für seine Betrachter –
mindestens Schadenfreude. Davon lebt, davon profitiert die neue
Inszenierung, die mit einem kräftigen Beifall belohnt wurde, der sich
bei Peter Schröder bis zum Jubel steigerte.

II
Drei Tage später. Neuer Anlauf. Gleiches Dilemma. Während sich in der
Frankfurter Deutsche Bank Arena die Profis der Frankfurter Eintracht
gegen den Freiburger FC redlich mühten, endlich wieder einen Sieg
einzufahren, mühten sich im Schauspielhaus die Akteure, ebenso
vergeblich, den Karren, der gerade in den Dreck gefahren war, wieder
frei zu kriegen.
Ernst Bloch meinte einmal, leicht süffisant, dass sich auch die großen
Dramen der Weltgeschichte auf die kürzesten Formeln bringen lassen und
sich, beispielsweise, Schillers „Wilhelm Tell“ dergestalt
zusammengefasst, darstellt als – „Man(n) schießt auf Äpfel“. Über den
Sinn solcher Verkürzung wollte Bloch damit noch nichts gesagt haben.
Weber/Spiras kurzweiliger Versuch, den Stoff auf die Bühne zu bringen,
ist von einem solchen Kaliber. Aus einem prallen Körper der
Orlando-Geschichte wird ein dürres Skelett herausgelöst. Ein wahrhaft
kühnes Unterfangen. Zwei Gestalten, Frau, junger Mann, Frau, mal so, mal
so. Sie erzählen. Sie spielen nichts, zeigen nichts, sie erzählen. Von
Orlando, der, mal so, mal so, durch die Jahr(hundert)e zieht, erst Mann,
dann Frau. Nichts wird dargestellt. Nichts gezeigt, alles nacherzählt.
Und das sehr verkürzt. Annie Nowak und Sonja Beißwenger, die beiden
Orlandos, sprechen zwar viel, aber sie haben nichts zu sagen. Aber das
machen sie ordentlich. Nur genügt das? Einen poetischen, tollkühnen und
zugleich betörenden Text auf ein dürres Handlungsgerüst zu reduzieren:
So kommt man, zugegeben, schnell durch Raum und Zeit. England, Türkei,
wieder England. Sechzehntes Jahrhundert. Siebzehntes, bis in die
(damalige, also Virginia Woolfs) Gegenwart, bis, so endet der originale
Orlando, der „zwölfte Schlag der Mitternacht erklang“. Exakt am
„Donnerstag, elfter Oktober 1928“. Die Traumgestalt Orlando ist
angekommen, exakt in der damaligen Gegenwart von Virginia Woolf. So hat
es die Autorin vorgegeben. So haben es die beiden Regisseure, konsequent
immerhin, vollständig ignoriert.
Eine Aktualisierung wird von dem Team Weber/Spira gar nicht erst versucht. Was macht man stattdessen? Man macht, ob kühn oder ratlos, sei dahingestellt, man macht, ja wirklich, man macht Musik. Zu Anklängen der jüngeren Popgeschichte hopsen die Protagonisten quer über die ganze Bühne. Bumsfallera! Warum, das wissen wohl nur die Götter. Es mag sein, dass die geplante Inszenierung von Jessica Glause erst so kurz dem Premierentermin endgültig geplatzt ist, sodass für einen richtigen Rettungsversuch die Zeit fehlte. Mag sein. Ein Dilemma.
Bemerkenswert ist allerdings, dass die ersten beiden
Inszenierungen der neuen Saison 2023/24 durchaus erfolgreich gestartet
sind. Es gab zweifellos viel Beifall, an beiden Abenden. Dem Publikum
hat es offenbar gefallen. Darf man da schon von Erfolg sprechen? Als man
dem amerikanischen Autor Cormac McCarthy dafür gratulieren wollte, dass
sein Roman („Verlorene“) auf der Bestseller-Liste der New York Times
erschienen war, meinte er trocken, gucken Sie sich mal die Nachbarschaft
an. Daraus lässt sich lernen. Aus der Äußerung von Katrin Spira,
verantwortlich für Regie und Dramaturgie, aber auch: Sie schreibt im
Programmheft:
„Die Songs, die einen wichtigen Teil der Inszenierung ausmachen, spannen
den Bogen durch die Popgeschichte ins Heute“.
Woher, bitteschön, kommt die Popgeschichte her? Wohlgemerkt, es geht um
„Orlando“ und um Virginia Woolf. Die so angelegte Inszenierung läuft
geradewegs ins Leere. Man muss gar nicht einmal direkt an die
gegenwärtigen Gender-Diskussionen anknüpfen, die Aktualität liegt auf
der Hand, es genügt, das Spiel, das Virginia Woolf betreibt, Ernst zu
nehmen, um die poetische Energie, die in der Vorlage steckt, zur
Entfaltung zu bringen. Das Buch ist eine Wucht, geballte Schönheit, die
jederzeit zu explodieren verspricht. Und was bleibt davon? Kurze
Unterhaltung. Viel Bewegung. Die Energie verpufft in einem armseligen,
beziehungslosen Kurzreferat. Viele Möglichkeiten sind verschenkt worden.
Man hätte die brisante Aktualität der Vorlage in ihrer vor allem
poetischen Wucht entfalten können. Man hätte. Ja, aber man hat diese
Möglichkeiten alle vergeigt. Das Problem? Das Publikum hat es trotzdem
goutiert. Das heißt: Wir sind in einem Stadttheater. Damit ist kein
Staat zu machen.