Paradoxerweise weckt alle flüchtige Kunst, vor allem, wenn sie gelingt, den Wunsch reproduziert zu werden. Das ist der eine Grund, warum es Regiebücher gibt. Der andere ist, die Sternstunde ungeschehen zu machen und den Text so zu verändern, dass er die Gegenwart reproduziert. Ein Regiebuch ähnelt deshalb einem Schlachtenplan, auf dem die unterschiedlichsten politischen, psychologischen, soziologischen und ökonomischen Interessen aufscheinen. Walter H. Krämer stellt das Buch der Regiebücher vor, das Martin Schneider herausgegeben hat.
Es ist ein Fachbuch mit 447 Seiten und ungefähr 70 zum Teil farbigen Abbildungen. Ein Buch – 742 Gramm schwer – für Menschen, die an einem tieferen Verständnis von Theaterinszenierungen und ihrer Entstehung interessiert sind und die schon im-mer einmal wissen wollten, unter welchen Bedingungen eine Inszenierung entsteht, was alles dazu benötigt wird / genutzt werden kann und wie man es modellhaft notiert.
Der hier vorgestellte Band – Das Regiebuch. Zur Lesbarkeit theatraler Produktionsprozesse in Geschichte und Gegenwart. – geht zurück auf die gleichnamige Tagung, die im Februar 2020 in Hamburg Forscherinnen und Forscher aus der Literatur- und Theaterwissenschaft versammelte, um Regiebücher unterschiedlicher Epochen vor-zustellen und zu diskutieren.
Die im Buch versammelten Autor*innen haben durch umfangreiche
Recherchen in Archiven, Bibliotheken und Museen bislang weitgehend
unbekanntes Material zutage gefördert und stellen es in diesem Band
erstmals einer Öffentlichkeit im wissenschaftlichen Kontext vor.
Der Herausgeber Martin Schneider verbindet und endet seinen einführenden
Beitrag – Was ist ein Regiebuch? Erkundungen eines
unbekannten Theatermediums – mit der Hoffnung, „dass die
Funde und Befunde der Beiträge das Interesse an einer Quellensorte
wecken, die neue und faszinierende Einblicke in die Theatergeschichte
gewährt.“
Das Buch bietet einen neuen Zugang zur Theaterforschung und
versammelt Regiebücher aus verschiedenen Jahrhunderten – vorgestellt von
17 verschiedenen Autor*innen so u.a. von
Cora Dietl: Regiebücher des Mittelalters? Das Beispiel der Frankfurter
„Dirigierrolle“
Wolf-Dieter Ernst: Regiebuch und institutionelle Dramaturgie. Leopold
Jessners und Heinz Lipmanns Bearbeitung von Christian Dietrich Grabbes
„Napoleon oder die Hundert Tage“
Dirk Niefanger: Die Weimarer Bühnenbearbeitung von Lessings
Nathan – und die Stuttgarter
Regiebücher
Peter W. Marx: Mythos, Sehnsucht und Ernüchterung. Max Reinhardts
RegiebücherThomas Wortmann: Probenarbeit, Textproduktion,
Handlungsmacht. Christoph Schlingensiefs Regiebücher
Martin Jörg Schäfer: Regiebuch-Nachleben im Digitalen. Textentwicklung
in René Polleschs Ich kann nicht mehr
Anna Häusler: Modelltheater – Brechts Modellbücher
Die Bearbeitung von Bühnentexten gehört seit jeher zur künstlerischen
Arbeit am Theater und das bereits seit dem Mittelalter – ist also keine
Erfindung des oft zitierten „Regietheaters“ und räumt damit – wie ich
finde – so ganz nebenbei mit diesem Narrativ auf.
Zu allen Zeiten wurden dramatische Vorlagen den Anforderungen einer zeitgenössischen Theaterästhetik angepasst. Autorentexte wurden nach Bedarf und Wünschen von Intendanten, Regisseuren, Dramaturgen und auch von Ensemblemitgliedern überprüft und geändert.
Regiebücher geben Auskunft über diesen Prozess, und die im Buch versammelten Autor*innen geben Auskunft über das Medium des Regiebuches und beschreiben das Theater als einen Ort künstlerischer Produktion und politischer Interaktion.
In einem Regiebuch sind die äußerlichen Vorgänge einer Theateraufführung (meist Schauspiel oder Oper) eingezeichnet, also Auftritte und Abgänge von Figuren, Stellungen der Figuren, Position der Requisiten, Einsätze für Beleuchtungsänderungen, Verwandlungen, Bühnenmusik und Bühnentechnik. Das Regiebuch wird von den Regieassistenten geführt und dient ihnen als Gedächtnisstütze während der Proben, zur Betreuung einer Aufführungsserie, für Umbesetzungen und Wiederaufnahmen.
Im 19. Jahrhundert wurden Regiebücher auch gedruckt, um den
kleineren Theatern ein möglichst genaues Nachstellen der Uraufführung zu
ermöglichen.
Max Reinhardt gelang 1916 am Deutschen Theater in Berlin die erste
erfolgreiche Inszenierung von Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons
Tod‟. Sein Regiebuch für diese Produktion, das sich in den
Theaterhistorischen Sammlungen der Freien Universität Berlin befindet,
kann zugleich als exemplarisches Dokument für die Entwicklungen der
Theaterästhetik in Deutschland gelten.
Zur Lesbarkeit theatraler Produktionsprozesse in Geschichte und Gegenwart
Die
Digitalisierung, Transkription und Online-Publikation des Regiebuchs
bietet erstmals einer größeren Öffentlichkeit, aber auch Studierenden
sowie Schulprojekten, die Möglichkeit, – am faszinierenden Abbild des
Originals, aber unter Überwindung der Barrieren von Handschrift und
Frakturschrift – am kreativen Prozess eines der bedeutendsten
Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts teilzunehmen.
Bertolt Brecht – so die Autorin Anna Häsler – veröffentlichte 1948 sein
Antigonemodell und in den folgenden Jahren immer
wieder weitere Modellbücher. Diese wurden von Brecht und seinen
Mitarbeiter*innen immer wieder aktualisiert und für den internen
Gebrauch überarbeitet. Allerdings traf Brecht mit dem Versuch, die in
den Modellbüchern dargestellten Inszenierungen anderen Theatern
vorschreiben zu wollen, auf Kritik und Ablehnung. Daher rückte er 1954
von der Verpflichtung zur Benutzung der Bücher für Folgeinszenierungen
wieder ab.
Thematisiert werden durch Martin Schneider auch urheberrechtliche Fragen. Das Regiebuch kann bei genauer Führung und Betrachtung als Beleg für die eigene künstlerische Leistung eines Regisseurs / einer Regisseurin herangezogen werden. So gesehen versteht sich die Tätigkeit der Regie als eine „Wertschöpfung der poetischen Form des Dramas“. Gleichwohl geht es nicht nur um den einen Regisseur – sondern das Regiebuch sollte als Teil eines kollektiven Produktionsprozesses gelesen werden. Dies umso bedeutsamer in einer Zeit, in der es viele Stückentwicklungen gibt, an deren endgültiger Form und Fassung ein ganzes Team beteiligt ist und sich auch hier die Frage nach dem geistigen Eigentum stellt – wer besitzt die Rechte daran? Einer oder alle?
Ein Thema, was hier zunächst außen vor bleibt – aber auch thematisiert werden kann – ist das Recht eines Autors / einer Autorin auf eine möglichst getreue Wiedergabe des Textes. Oder man hat die Größe wie beispielsweise Elfriede Jelinek sie hat, und gibt nach dem Schreiben seinen Text in die Hände von Regisseuren und Regisseurinnen und überlässt ihnen alles weitere und akzeptiert, dass dadurch ein neues eigenständiges Werk entsteht.
Die Lektüre des vorliegenden Buches ist eine Bereicherung für
jeden Leser und jede Leserin, bietet neben vielen Informationen auch
Diskussionsstoff und eröffnet neue Perspektiven und Sichtweisen auf
Theater und den Produktionsprozess von Inszenierungen.