Volker Lösch (*1963) gehört zu den erfolgreichsten Regisseuren unserer Republik, und gleichzeitig ist er auch einer der umstrittensten – nicht zuletzt deshalb, weil er mit vielen seiner Arbeiten polarisiert und provoziert. Zwei seiner jüngsten Inszenierungen – „Recht auf Jugend“ (17.12.2022 in Bonn) und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (18.12.2022 in Bonn) – hat Walter H. Krämer besucht.
Löschs
Markenzeichen ist der Chor, der meist aus Bürger*innen oder Laien
besteht. Betroffene oder Beteiligte, die zu Wort kommen und in das
Bühnengeschehen integriert werden und mit auf der Bühne stehen. Sie
sprechen von ihren Ängsten, Sorgen und Nöten und teilen – je nach
Stückvorgabe – mit uns auch ihre Wut und ihre Betroffenheit und geben so
dem zugrundeliegenden Stück einen zeitgemäßen Rahmen. Dabei legt der
Regisseur in all seinen Arbeiten Wert auf eine entschiedene und
eindeutige politische Aussage – oft mit Aufforderungscharakter zum
Handeln.
Mit Sitzblockaden, die den Verkehr (Auto + Flug) stundenlang lahmlegten
und Kartoffelbrei auf einem Gemälde von Claude Monet hat die „Letzte
Generation“ für Schlagzeilen und eine breite Diskussion gesorgt.
Regisseur Volker Lösch und Autor Lothar Kittstein haben nun drei
Klimaaktivist*innen der „Letzten Generation“ eingeladen, mit
Schauspieler*innen gemeinsam für die Überschreibung von Arnolt Bronnens
expressionistischem Drama „Recht auf Jugend“ von 1913 auf der Bonner
Bühne zu stehen.
Das „Recht auf Jugend“ ist die Forderung, die der junge Hans Harder im Stück von Arnolt Bronnen gegen die Autoritäten seiner Elterngeneration stellt, die mit ihren Erziehungsansprüchen und gut gemeinten Ratschlägen die Jugend ihrer Freiheit berauben.
„Recht auf Jugend“ von Arnolt Bronnen

Arnolt
Bronnen schrieb dieses Erstlingswerk im Alter von 17 Jahren und sagt
selbst über den Schreibprozess: „Im Frühjahr 1913 überfiel es mich. Das
war meine Aufgabe: das Recht auf Jugend zu erkämpfen – für mich, für
meine Mitschüler, für die Jugend der ganzen Welt. Ich schreib im eisigen
Zimmer, halb im Dunkel und mit angehaltenem Atem ein wildes,
ungeformtes Ding, ein siebenaktiges Drama (…).“
Diese Empörung der Jugend zur Zeit von Arnolt Bronnen findet sich wieder
in der Einsicht heutiger junger Menschen, dass die Elterngeneration bei
der Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe versagt habe. Aus diesem
Grund erweitert und überschreibt der Autor Lothar Kittstein das Stück
von 1913 um die Sichtweisen junger Aktivist*innen und stellt sich die
Frage: Reicht der friedliche Protest von Fridays for Future nicht mehr
aus, um von den Älteren gehört zu werden?
Der neue Text besteht nun wesentlich aus drei Elementen:
argumentativen und appellativen Sätzen der Klimakämpfer*innen,
Ich-Botschaften der Darsteller*innen und eingestreuten
Bronnen-Zitaten.
Zunächst gibt es Dialoge zwischen der jüngeren Generation und ihren
Eltern (Daniel Stock und Sophie Basse). Integrationsversuche der Eltern
(„Schrei mich doch bitte nicht so an, ich bin auf deiner Seite“) treffen
auf den harten Widerstand der Jugend („Du bist gefährlich“).
Dann wird die reale Episode des Hungerstreiks vor dem
Kanzleramt im September 2021 nachgespielt. Kanzler Olaf Scholz (Daniel
Stock in Grau) kommt dabei ins Stottern und kommt über Phrasen nicht
hinaus – eine Karikatur seiner selbst.
Ein Journalist ist nur an reißerischen Schlagzeilen interessiert –
möglichst mit Gefühl. Das Anliegen der jungen Generation, die
Bevölkerung über die Dringlichkeit des Handelns gegen die katastrophalen
Folgen des Klimawandels – Kippunkte – zu informieren, ignoriert er und
die Presse wird – ähnlich wie es Greta Thunberg in ihrem Klimabuch
formuliert – ihrer Verantwortung, über wirklich wichtige Dinge zu
informieren, nicht gerecht.
Nach dem Versagen der SPD
in Sachen Klimaschutz werden auch die Grünen (Sophie Basse in
schreiendem Grün), als Heuchler entlarvt und die FDP („Diese Kindersekte muss man
vernichten“) tanzt in Blau mit Christian Lindner-Masken einen letzten
Tango kurz vor dem Ende.
Das alles sind gut gespielte und choreographierte Szenen, die das
Versagen der jeweiligen Gruppierungen auf den Punkt genau deutlich
machen und dies zudem lustvoll über die Rampe bringen – so dass neben
allem Ernst, das Vergnügen für den Zuschauer / die Zuschauerin nicht
außen vor bleibt und Einsichten auch mit einem Lachen gewonnen werden
können.
Das sogenannte „gesunde Volksempfinden“ kommt über Band zu Wort. Hier
wird gegen die Klimaaktivist*innen gehetzt, geschimpft und mit Gegenwehr
gedroht. Anstatt gegen die Verursacher der Klimakatastrophe zu
argumentieren, richten sie ihren Zorn gegen die protestierende
Jugend.

Braucht es wirklich nur eine Minderheit, die bereit ist zum Kämpfen, um den Klimawandel zu stoppen und die Politik zum Umdenken zu bewegen? Die „Letzte Generation“ scheint davon überzeugt. Warten wir es ab oder besser noch: engagieren wir uns. Auf jeden Fall wird im Schlussapell der Aktivist*innen für uns Zuschauer*innen die Dringlichkeit ihrer Forderungen nach schnellen und wirksamen Maßnahmen gegen die Verursacher*innen der Klimaerwärmung und die Gefahr, die Kipppunkte zu erreichen, nach denen sich die Katastrophe von selbst beschleunigt, deutlich. Noch ist es vielleicht nicht zu spät.
Ein eindringliches Bild dafür, ist die schwarze Flüssigkeit,
die von der Decke rinnt und allmählich die weißen Wände des Raumes, in
denen sich das Ganze abspielt, schwarz färbt … ein Bühnenbild, das nicht
einfach nur „schwarz bemalt wird“, sondern im Laufe des Stücks fast
unmerklich, aber stetig mit schwarzer Farbe vollläuft.
Ein großartiger Abend: aktuell, provokant, visuell beeindruckend,
schnell, anrührend, erschütternd und, man lese und staune, sogar witzig
und humorvoll. Mit engagierten Darsteller*innen – und eben nicht nur
Darsteller*innen, sondern darunter auch Menschen, die das wirklich
machen: sich mitten auf die Straße setzen, vor die Autos der Empörten.
Das ist Gegenwartstheater! Unbedingt reingehen!
Die Inszenierung von „Recht auf Jugend“ am Schauspielhaus Bonn ist ganz
nebenbei auch Beleg dafür, dass Stücke und Inszenierungen mit einem
politischen Anspruch und einer klaren Botschaft durchaus den Zuspruch
des Publikums finden und dies nicht fernbleibt. Daran liegt der gern
zitierte Publikumsschwund ganz sicher nicht!
Ein
bildstarker und stimmgewaltiger Opernabend, der – wie nicht anders zu
erwarten, wenn der Regisseur Volker Lösch heißt – durch den Einsatz von
Zeitzeug*innen und Bildern der Flutkatastrophe an der Ahr von 2021
erweitert wurde. Daniel Johannes Mayr bewies mit dem Beethoven-Orchester
seine Vielseitigkeit, und, ergänzt durch Opernchor und jungen
Sänger*innen aus dem Jugendchor sowie einem hervorragenden Ensemble, war
Musiktheater der Sonderklasse angesagt.
Anders als bei vielen anderen Inszenierungen von Volker Lösch, standen
die Zeitzeugen – in diesem Fall Bewohner*innen des Ahrtals – während der
Aufführung nicht auf der Bühne, sondern wurden am Beginn einzelner
Szenen per Video eingespielt. Erst zum Schluss traten drei
Bewohner*innen aus dem Ahrtal vor das Publikum und wiesen eindringlich
auf die Folgen des Klimawandel und die Notwendigkeit gemeinsamen
Handelns hin.
Drei polizeilich gesuchte Kriminelle – Leokadia Begbick, Dreieinigkeitsmoses und Fatty – finden sich in einer wüsten Gegend wieder und gründen die Stadt Mahagonny. Jeder soll hier ein genussvolles und lustbetontes Leben führen können. Zu den Glückssuchern gehört auch der Holzfäller Jim Mahoney (Matthias Klink), der im Augenblick größter Bedrohung für die Stadt – ein Hurrikan rast auf diese zu – die radikale Selbsterfüllung für alle fordert. Zunächst bejubelt, wird er, als er die Zeche nicht mehr bezahlen, wegen Geldmangels zum Tode verurteilt und am Ende auch hingerichtet. Mahagonny versinkt im Chaos.
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill

In
der Inszenierung kommt sowohl der poetisch-analytische Text der Parabel
von Bertolt Brecht als auch die traurige, beschwingte, melancholische
und sehnsuchtsvolle Musik von Weill zur Geltung. In der Musik und im
Gesang kommen die vielseitigen menschlichen Gefühle und Wünsche zum
Ausdruck, die sich dem auf der Handlungsebnen beschriebenen Prozess der
Selbstzerstörung entgegenstellen.
Ein musikalischer Höhepunkt (im 3. Akt) ist das Duett „Sieh jene
Kraniche in großem Bogen, die Wolken, welche ihnen beigegeben zogen mit
ihnen schon, als sie entflogen aus einem Leben in ein anderes Leben …“
gesungen von Jim (Matthias Klink) und Jenny (Natalie Karl), in dem die
Idee einer romantischen Liebe möglich scheint – ganz im Gegensatz zum
Charakter der Liebe als käuflicher Ware, wie sie im 1. Akt mit der
Ankunft der Mädchen in Mahagonny, die ihre Körper als Prostituierte
vermarkten, gezeigt wird: „Oh show us the way to the next whisky bar …“
(Alabama Song)
Doch die Liebe „dauert oder dauert nicht“ und die Idee der romantischen
Liebe scheitert schon bald am Geld. Jenny weigert sich, ihrem Jim damit
auszuhelfen, denn „Wie man sich bettet, so liegt man“ – beim Geld hört
die Liebe auf.
Im dritten Akt wird Jim wegen Zechprellerei zum Tode verurteilt und
hingerichtet. Mit dem Chorlied: „Können Euch und niemand helfen“, endet
die Oper.
Die Uraufführung in Leipzig durch den Generalmusikdirektor Gustav
Brecher am 11. März 1930 wurde einer der größten Theaterskandale der
Weimarer Republik. Von den Nationalsozialisten als: „entartete Kunst und
Musik“ diffamiert, verschwindet „Mahagonny“ 1933 von den Spielplänen,
um nach dem Krieg wieder entdeckt zu werden (u.a. in Darmstadt 1957, in
Frankfurt 1966, in Ostberlin 1964 und 1977 und im Oktober 2021 von
Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin)
Der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt (1901–1988) schreibt 1930:
„Das Werk steht entwicklungsgeschichtlich an der Spitze der
musikdramatischen Produktion der Gegenwart. Es trägt aufs wirksamste zur
Legitimierung des neuen Theaters bei und ist schon aus diesem Grunde
leidenschaftlich zu bejahen. Es macht die Möglichkeit der Oper für
Gegenwart und Zukunft wieder plausibel und sprengt gleichzeitig ihre
Grenze.“
Die Bühne ist rund, dahinter eine Projektionsfläche – ebenfalls rund. Im Verlauf der 21 Szenen der Oper füllt sich die anfangs leere Bühne mit dem Müll unserer Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft. Die Menschen werden nach und nach von den Dingen beherrscht.

Auf
eine Leinwand vor der Bühne werden Bilder von der Flutkatastrophe des
Jahres 2021 an der Ahr eingespielt, suggestive Zeitzeugnisse von
Bürgerinnen und Bürgern aus dem Ahrtal. Betroffene der Flutkatastrophe,
die sich an ihre eigenen Erlebnisse in der Flutnacht erinnern und das
Verhalten der Politiker und ihrer Mitbürger nach der Überschwemmung, bei
der 134 Menschen in den Fluten starben, kritisieren.
Während Brecht den Hurrikan als schicksalhaftes Ereignis auffasst, sieht
Regisseur Volker Lösch in der Flutkatastrophe von 2021 ein „aktuelles
und lokales Beispiel für das destruktive Potential des Systems
Mahagonny“. Seine Position ist deutlich: „Wenn wir es nicht schaffen,
kurzfristig radikale Entscheidungen für den Erhalt des Klimas zu
treffen, dann werden wir uns sehr bald in einem ähnlichen System wie am
Ende der Oper wiederfinden: in einer Welt, die nur noch den Starken,
Reichen und Rücksichtslosen vorbehalten ist.“
Mit den Zeitzeugenberichten schafft Lösch eine thematische Klammer, die
den Bilderbogen, der diese Oper letzten Endes ist, zusammenhält und auf
die Gegenwart bezieht.
So ist „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Bonn ein
großartiges und faszinierendes Stück Musiktheater, das vom Publikum
begeistert aufgenommen und bejubelt wird. Nach dem Schlusschor gehört
das letzte Wort drei Betroffenen – Elisabeth Beiling, ihrem Mann
Reinhold Beiling und ihrer Tochter Laura: „Wir aus dem Ahrtal sind jetzt
verantwortlicher, als wir es vorher waren. Und es ist
verantwortungslos, weiter so zu leben wie bisher“.
Bemerkenswert an dieser Inszenierung ist der Ansatz der Regie. Die Oper
erhält durch die Berichte von der Flutkatastrophe im Ahrtal einen
aktuellen Rahmen, der die Integrität des Werks allerdings nicht
antastet, sondern die Perspektive für uns Zuschauer*innen erweitert und
ins heute bringt. *
•Die Besprechung ist u.a. inspiriert durch die ausführliche Lektüre des
Programmbuches sowie des Librettos und folgt teilweise der darin
ausgeführten Argumentation und Darstellung.