Von Schirachs Erzählungsbände VERBRECHEN, SCHULD und STRAFE wurden zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern, die in mehr als vierzig Ländern erschienen. Sein Theaterstück TERROR, das am 3.10.2015 zeitgleich in Frankfurt am Main und Berlin uraufgeführt wurde, zählt zu den weltweit erfolgreichsten Dramen unserer Zeit. In seinem zweiten Theaterstück GOTT – uraufgeführt am 12.09.2020 am Berliner Ensemble - verhandelt der Autor das Sterben des Menschen. Am Ende der Aufführung ist dann das Publikum aufgefordert, über die Frage der Sterbehilfe abzustimmen. Heinz Kreidl führte Regie; Walter H. Krämer hat es sich angeschaut.
Sagen wir es gleich zu Beginn: Dieser Inszenierung wohnt kein theatraler Zauber inne und das ist auch gut so, denn es geht dem Autor um etwas anderes. Ferdinand von Schirach, und mit ihm der Regisseur Heinz Kreidl im Bühnenbild von Tom Grasshof (Kostüme von Ulla Röhrs), nutzt die Theaterbühne, um ein – nicht nur für ihn – wichtiges Thema breit aufzufächern, unterschiedliche Standpunkte vorzustellen und die Theaterbesucher*innen zu einer Haltung zu bewegen. Eigene, vielleicht vorgefasste Meinungen zu überdenken und sich zu entscheiden – und das im wörtlichen Sinne im Rahmen der Aufführung.
Die sogenannte vierte Wand der Bühne
ist bei dieser Inszenierung nicht nur geöffnet (normalerweise dürfen wir
als Zuschauer*innen durch diese geöffnete vierte Wand dem Geschehen auf
der Bühne unbehelligt zusehen), sondern die vierte Wand ist nach hinten
in den Theatersaal verlegt. Das heißt, das Publikum ist Teil der
Inszenierung. Wird auch immer wieder direkt angesprochen und darf am
Ende der Diskussion im Rahmen einer Veranstaltung des Ethikrates
– das ist das theatrale Setting – mittels zwei
farbiger Zettel sein Votum abgeben: Grün bedeutet JA! Rot bedeutet
NEIN! Ferdinand von Schirach setzt
damit seine Idee vom Theater als gesellschaftlichem Diskursraum
fort.
In seinem zweiten Theaterstück – nach TERROR – widmet sich Ferdinand
von Schirach einem Thema von gesellschaftspolitischer Relevanz. Sein
Stück GOTT stellt die Frage nach
Autonomie und Selbstbestimmung – auch dann, wenn es um einen
selbstbestimmten Todeswunsch geht. Es geht dabei nicht um Selbstmord –
wie in der Inszenierung deutlich artikuliert wird – sondern um
selbstgewählten Suizid mittels eines Medikamentes.
Mit Blick auf die im Grundgesetz garantierte Würde des Menschen und die
Verantwortung jedes Einzelnen auch für das Wohlergehen anderer, können
die Zuschauer*innen eigene moralische Wertvorstellungen überprüfen.

GOTT – dieses Stück, das sowohl
Gerichtsdrama, dokumentarisches Theater, Volkhochschule als auch
existentialistische Zeugenschaft einzelner Betroffenen und Beteiligten
ist, regt im Idealfall zum Nachdenken an – nicht das Schlechteste, was
man von einem Theatertext / einer Inszenierung erzählen kann.
Trotz eindrücklicher Reden und Gegenreden bleibt womöglich immer noch
jeder bei seiner Haltung, hat aber einige interessante Argumente und
Gefühlslagen der jeweils anderen Partei kennengelernt.
Der 78-jährige ehemalige Architekt Richard Gärtner (Lutz
Reichert) möchte seinem Leben ein Ende setzen. Dies soll jedoch nicht im
Ausland, sondern ganz legal mit der Hilfe seines Hausarztes Dr. Brandt
(Dieter Gring) geschehen: „Das Leben bedeutet mir nichts. Ich will nicht
irgendwann ins Krankenhaus. Ich will nicht sabbern. Ich will als
ordentlicher Mensch sterben.“
Für Dr. Brandt kommt es aus persönlicher Überzeugung jedoch nicht
infrage, seinem zwar betagten, aber gesunden Patienten, ein
todbringendes Präparat zu besorgen. Das trägt der Schauspieler
überzeugend vor. Es ist nachvollziehbar, weil er sehr persönlich
argumentiert – man sieht ihm seine eigen innere Zerrissenheit
bezüglich des Themas und dem Wunsch seines Patienten an.
Richard Gärtners Fall wird exemplarisch vor dem Deutschen Ethikrat
diskutiert. Strittig ist dabei nicht die Frage, welche Formen von
Sterbehilfe für Ärzte straffrei sind, sondern ob Mediziner dem
Patientenwunsch eines Lebensmüden gerecht werden müssen – egal ob jung,
alt, gesund oder krank.
Ethikrat-Mitglied Frau Dr. Keller (Barbara Bach) befragt die
Sachverständigen und lässt so die unterschiedlichen Experten zu Wort
kommen. Die Verfassungsrechtlerin Prof. Litten (Ines Arndt) und die
Anwältin von Richard Gärtner (Verena Wengler) stehen Bischof Thiel
(Christopher Krieg) und Ärztekammerchef Sperling (René Toussaint) dabei
mit unterschiedlichen Meinungen gegenüber.
Am Ende richtet sich die Ethikrat-Vorsitzende (Iris Atzwanger) direkt an
das Publikum: „Halten Sie es für richtig“, fragt die Vorsitzende des
Ethikrates, „dass Herr Gärtner Pentobarbital bekommt, um sich töten zu
können?“ Und sie fragt weiter: „Halten Sie es für richtig, einem
gesunden Menschen ein tödliches Medikament zu geben? Würden Sie es tun,
wenn Sie Arzt wären? Würden Sie Herrn Gärtner Pentobarbital überreichen,
wenn Sie wissen, dass er damit aus dem Leben scheiden wird. Herr
Gärtner ist 78. Würden Sie das Medikament einer 30-jährigen Frau geben?
Sie werden diese Frage bei Ihrer Entscheidung berücksichtigen müssen.“
Vereinfacht gesagt: Soll Richard Gärtner das tödliche Präparat bekommen,
um sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen? In der Premiere wurde diese
Frage mehrheitlich mit JA! von den anwesenden Zuschauer*innen
beantwortet – mittels Hochhalten der Karten.
Die Entscheidungsgrundlagen werden im Verlauf der Diskussion absolut
verständlich – gestärkt durch die didaktische Vereinfachung des Autors
und ein Ensemble (Ines Arndt, Iris Atzwanger, Barbara Bach, Verena
Wengler, Dieter Gring, Christopher Krieg, Lutz Reichert und René
Toussaint), das in jeder Hinsicht die jeweilige Rolle sprachlich und
darstellerisch überzeugend zu gestalten weiß – auch dadurch wird es ein
interessanter Abend mit spannendem Schlagabtausch.
Drei Experten aus dem Nationalen Ethikrat kommen zu Wort: eine Verfassungsjuristin, ein Vertreter der Ärzteschaft und ein Bischof. Drei unterschiedliche Positionen zum Thema Sterbehilfe also: aus Sicht des Rechts, der Medizin und der katholischen Kirche.
Die beste Figur macht noch das Recht in Gestalt von Frau
Professorin Litten (Ines Arndt) Sie kann Grundunterscheidungen
einführen, die zum Verständnis nötig sind und zugleich verwirrende
Widersprüche erläutern und aufklären.
Der Ärztevertreter und der Pfarrer hinterlassen – und das ist sicher
auch vom Autor so gewollt – den denkbaren schlechtesten
Eindruck.
Der Ärztevertreter (René Toussaint) findet, gegen die ärztliche
Giftspritze spreche die Menschenwürde. Gärtners Anwältin (Verena
Wengler) gibt daraufhin zu bedenken, auf welche Alternativen die
Menschen dann ausweichen würden, wenn sie kein Gift vom Arzt
bekämen:
„Ist es besser, die Menschen auf Stricke, Messer, Sprünge aus
Hochhäusern und anderen grausamen Irrsinn zu verweisen?“
Überhaupt ist die Rolle der Anwältin von Herrn Gärtner – bravourös
gespielt von Verena Wengler – für mich die Paraderolle des Stückes. Sie
argumentier, überzeugt, weist auf Widersprüchliches bei den Aussagen der
Expert*innen hin und stärkt somit ihrem Mandanten den Rücken.
Das zeigt sich auch, wenn sie Pfarrer Thiel (Christopher Krieg) aus der Fassung bringt und seine vorgebrachten Argumente als scheinheilig und menschenverachtend auseinandernimmt. Neben den Hinweisen auf den Katechismus und die Erbsünde treiben den Bischof auch noch ganz weltliche Bedenken um: Womöglich gäbe es bald einen normativen Sog zum Suizid, erlaubte man die aktive Sterbehilfe.
Und immer wieder gerne vorgebracht: die einmal eingeleitete Reform laufe aus dem Ruder und führe nur zum Verderben – schon vorgebracht bei der Einführung der Pille, der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und jetzt wieder bei der Frage nach der Legalisierung von Cannabis – so auch bei der Frage nach der Sterbehilfe: „In sehr kurzer Zeit würde der Druck auf alte Menschen wachsen, sich umzubringen. Die jungen werden sagen, die alten seien eine Belastung, sie kosten viel Geld, sie verbrauchen Ressourcen.“
Von April 2019 bis Februar 2020 diskutierte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe den ärztlich assistierten Suizid, mit dem Ergebnis, Paragraph 217 des Strafgesetzbuches als verfassungswidrig einzustufen und die Suizidassistenz zu legalisieren. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“ (Pressemitteilung Bundesverfassungsgericht)
Das Bundesverfassungsgerichts entschied im Frühjahr 2020
höchstrichterlich, dass die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid erlaubt
sei.
Das Grundproblem jedoch bleibt – und darum geht es auch im Stück:
Wem gehört unser Leben? „Gehört es einem Gott? Gehört es dem Staat? Der
Gesellschaft, der Familie, den
Freunden? Oder gehört es nur uns
selbst?“
Was meinen Sie? Besuchen sie die Vorstellung und lassen Sie sich überzeugen – oder auch nicht!