Literatur, bildende Kunst, die Sitten und Gebräuche unseres Alltagslebens – all das sind kulturelle Aneignungen, ohne die es überdies keine Musik gäbe. Denn das Komponieren leitet sich vom lateinischen componere, zusammenstellen, her, die Aneignung und Verarbeitung von bereits Vorhandenem. Walter Zimmermann, ein belesener und kenntnisreicher Komponist, hat immer wieder neue Wege für diese Technik gefunden. Seine neue CD „Chantbook for Lipparella“ hat Ernst August Klötzke gehört.
Schwebende Tendenzen als Gestaltungsprinzip verbinden die Kompositionen auf der CD „CHANTBOOK FOR LIPPARELLA“ von Walter Zimmermann (*1949). Zusammenstellungen von verschiedenen Musikstücken als „Books“ sind seit der Renaissance bekannt, sei es als Sammlungen von Instrumentalstücken, von Liedern oder auch von Chorsätzen, oft in Verbindung mit einem Auftrag oder einer Widmung. Bei Zimmermann stellt sich der Bezug durch das die Kompositionen interpretierende Ensemble LIPARELLA aus Schweden her, dessen Besonderheit die Entwicklung eines zeitgenössischen Repertoires für Instrumente des Barock und Countertenor ist.
Zimmermann reagiert mit den Stücken auf der CD „CHANTBOOK
FOR LIPPARELLA“ nicht nur auf die für
zeitgenössische Musik unkonventionelle Besetzung, sondern auch auf
bestimmte stilistische Eigenheiten der Musik des späten 16. und 17.
Jahrhunderts. Dies sind besonders immer wiederkehrende Ornamentierungen,
damals oft improvisiert, bei Zimmermann detailreich auskomponiert und
damit integraler Bestandteil der Musik.
Es fällt schwer, das Ineinandergreifen der gesungenen Texte mit den
Instrumenten in Worte zu fassen. Der Begriff der bloßen Vertonung von
Texten ist sicherlich fehl am Platz, denn Zimmermann komponiert seine
Musik auf der Grundlage der musikalischen Anteile der Worte und stellt
dies in einen begleitenden und gleichzeitig kontrapunktischen
Zusammenhang mit den Instrumenten. Wie innere Stimmen führen
Barockvioline, Blockflöten, Barockoboe, Viola da Gamba, Theorbe, und in
manchen der Stücke Laute und die orientalische Kurzhalslaute Ud, den
eigenen Klang der Worte als gleichzeitige, nachfolgende oder auch
antizipierende Echos im Sinne von Dialogen weiter und eröffnen damit
neue Perspektiven musikalischer Gestalten.
Dies zeigt sich schon im ersten Stück „Cirkel – Kontakt“ (2019), dem ein
Prolog vorangestellt und ein Epilog angefügt sind, in beiden rezitiert
die dänische Schriftstellerin Inger Christensen aus ihrem Gedichtband
„Lys“. Cornelia Jentzsch beschreibt dieses Phänomen in einem der Texte
des Booklets als „… Mischung aus rhythmischem Bardengesang und dänischem
Sprachklang…“. Wie ein Motto steht dieses in der Rezitation von
Christensen besondere Entstehen von Klang aus Sprache über allen
Kompositionen der CD.
Zimmermann arbeitet durchweg mit Texten unterschiedlicher Autor*innen und verschiedener Sprachen. Es scheint, als wäre das Verständnis dessen, was da gesungen oder rezitiert wird, nicht von besonderer Bedeutung. Vielmehr verfolgt Zimmermann insgesamt die Strategie, musikalische Anteile der Sprache kompositorisch auszudifferenzieren und durch instrumentale Klangfärbungen, Hervorheben rhythmischer und melodischer Gestalten sowie durch das Erweitern dynamischer Spektren und Kontraste zu intensivieren.
Solche textlichen Bezüge erscheinen auch modifiziert in Form
von Referenzen auf andere Zeiten und nichteuropäische Kulturen. 1996
äußerte Zimmermann, er habe, um dem spätromantischen Ideal des Schöpfens
aus dem Nichts zu entgehen, schon früh mit dem Sammeln von Musik
begonnen, um diese Fundstücke als Grundlage seiner eigenen Musik zu
verwenden. Im zweiten Stück auf der CD „DIT“ (1999) zeigt sich die
Referenz in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist der Interpret gefordert,
zu einem zugespielten Lied aus Neuguinea im Unisono mitzuspielen. Da es
sich bei der Komposition um einen Beitrag zum In Nomine-Projekt des
ensemble recherche handelt, spielt die gleichnamige Antiphon des
Renaissancekomponisten John Taverner ebenfalls eine das Material
generierende Rolle.
Im Sinne der Zusammenstellung der Kompositionen als „Book“ bleiben die
kompositorischen Strategien bei den anderen Stücken ähnlich, wenngleich
die Ausprägung dessen, was zu hören ist, bei jedem Stück erfrischend neu
erscheint. Zimmermanns Stil zeigt sich als sehr exklusiv und
gleichzeitig erfreulich befreit von jeglicher ästhetischer Ideologie.
Unerhört ist seine Musik, kongenial wird sie vom Ensemble LIPARELLA interpretiert. Und so klingen
auch die alten Instrumente nie der Gegenwart entrückt, sondern vielmehr
wie ein zeitgenössischer Klangkörper, von dem man noch mehr
Gegenwärtiges hören möchte.
Fast folgerichtig ist die letzte Komposition auf der CD „CHANTBOOK
FOR MODIFIED MELODIES“ (2011/2021) ein
Instrumentalstück, dessen sprechender Gestus keiner Worte bedarf: sie
klingen als innere Echos mit.
Das informative Booklet liefert Beiträge vom Komponisten und
Texte zu seinem Denken und seiner Musik, aus denen der schier
unerschöpfliche Vorrat von Verbindungen zwischen Walter Zimmermann,
seiner Musik und „Welt“ als unabdingbare Notwendigkeit in den
gegenseitigen Wechselwirkungen deutlich wird.
Etwas störend ist die Tatsache, dass nicht alle Texte übersetzt sind,
das Lesen wird dadurch unnötig erschwert.
Nichts desto trotz ist die CD unbedingt empfehlenswert, wenn man sich
gerne mit sehr besonderer Musik der Gegenwart umgibt.