Zum Welttheatertag, der jährlich am 27. März begangen wird, macht das Theater auf seine Bedeutung für die Gesellschaft aufmerksam. Bei dieser Gelegenheit wird eine prominente Persönlichkeit – erkoren waren, von Jean Cocteau bis Augusto Boa, vor allem Dramatiker – gewählt, die eine Botschaft verfasst. 2024 ist es Jon Fosse. Walter H. Krämer präsentiert den Text.
Zum Welttheatertag am 27. März 2024 bündelt der Deutsche Bühnenverein mit der Kampagne THEATER FÜR DIE DEMOKRATIE Aktionen der Theater und Orchester für Freiheit und Vielfalt in der Gesellschaft. Der Verband macht so das Engagement der Bühnen in Deutschland für die Demokratie sichtbar.
Am 27. März 2024 wird zum 62. Mal der Welttheatertag gefeiert, und die Botschaft kommt in diesem Jahr von Literaturnobelpreisträger Jon Fosse.
Jon Fosses Botschaft zum Welttheatertag steht im Zeichen des Friedens und der Vielfalt. Kunst zelebriert das Einzigartige im Universellen, sie versteht Unterschiede als Stärken und lässt gleichzeitig die Grenzen dessen verschwimmen, was uns an-ders zu machen scheint. Sie steht damit im Gegensatz zum Krieg, dessen Ziel die Bekämpfung von allem Anderen und Fremden ist. „Kunst ist Frieden“, so resümiert Fosse.

Kunst ist Frieden
Jeder Mensch für sich ist einzigartig, und doch ist er allen
anderen Menschen gleich. Das Einzigartige ist äußerlich, und man kann es
sehen, so weit, so gut, doch gibt es in jedem einzelnen Menschen auch
etwas, das nur diesem Menschen zugehört, das dieser Mensch ist. Wir
könnten es Seele nennen, oder Geist – oder wir brauchen dem nicht
unbedingt einen Namen zu geben, lassen wir es einfach, wo es ist.
Wir sind zwar verschieden, dabei einander aber auch gleich. Menschen aus
allen Teilen der Welt sind einander im Wesentlichen gleich, ohne
Ansehen unserer Sprache, unserer Hautfarbe, unserer Haarfarbe.
Es ist vielleicht ein Paradox, dass wir sowohl gleich als auch
verschieden sind. Und vielleicht ist der Mensch paradox in seiner
Spannung zwischen Körper und Seele, zwischen dem, was ganz und gar im
Materiellen, Immanenten verwurzelt ist, und dem, was die materiellen
Bindungen und Begrenzungen transzendiert.
Der Kunst aber, guter Kunst, gelingt es auf ihre wundersame
Weise, das ganz und gar Einzigartige und das Universelle miteinander zu
vereinen, ja, sie kann bewirken, dass das Einzigartige, man kann auch
sagen, das Fremde, universell verstanden wird. Sie sprengt auf ihre
Weise die Grenzen zwischen Sprachen, Ländern, Erdteilen. So gesehen
führt sie nicht nur das zusammen, was einzelne Menschen prägt und
ausmacht, sondern auch, in einer anderen Bedeutung, dasjenige, was
Gruppen von Menschen prägt und ausmacht, zum Beispiel Nationen.
Und dies bewerkstelligen die Künste eben nicht dadurch, dass sie alles
gleich machen, sondern im Gegenteil die Ungleichheiten herausstellen,
ja, das Fremde, das, was man nicht ganz begreift und dennoch auf gewisse
Weise begreift, das Enigmatische könnte man es vielleicht nennen,
etwas, das fasziniert, ja, das die Transzendenz erschafft, die
Überschreitung, die aller Kunst innewohnen muss, als Essenz, aber auch
als Ziel.
Eine bessere Weise, Gegensätze zu vereinen, kann ich mir nicht
vorstellen. Das ist das genaue Gegenstück zum gewaltsamen Konflikt, wie
wir ihn so allzu oft sich entfalten sehen dank der destruktiven
Versuchung, das Fremde zu zerstören, das einzigartig Andere, oft unter
Einsatz bestialischer technologischer Neuerungen. Das ist Terror. Das
ist Krieg. Denn der Mensch hat auch eine animalische Seite, eine
instinktgetriebene, die das Andere, das Fremde, nicht als etwas
faszinierend Enigmatisches erlebt, sondern als Bedrohung der eigenen
Existenz. Und dann verschwindet das Einzigartige, das Verschiedenartige,
das universell verständlich ist, und wird zu einer kollektiven
Gleichheit, in der alles Andersartige eine Bedrohung ist und zunichte
gemacht werden soll. Was äußerlich gesehen Verschiedenheiten sind,
beispielsweise zwischen Religionen oder politischen Ideologien, wird
bekämpft und vernichtet.
Krieg ist Kampf gegen das Innerste des Menschen, gegen das
Einzigartige. Und er ist Kampf gegen alle Kunst, gegen das Innerste
jeglicher Kunst.
Ich habe mich dafür entschieden, hier allgemein von den Künsten zu
sprechen, nicht speziell von der Theaterkunst, da alle gute Kunst,
wiederum in ihrem Innersten, um dasselbe kreist: darum, das ganz und gar
Einzigartige, das ganz Eigene, universell werden zu lassen. Sie vereint
in ihrem künstlerischen Ausdruck das Einzigartige und das Universelle.
Nicht, indem sie Eigenarten entfernt, sondern indem sie sie hervor-hebt,
indem sie das Fremde deutlich sichtbar macht.
Es ist ganz einfach so: Krieg und Kunst sind Gegensätze, sowie Krieg und
Frieden Gegensätze sind. Kunst ist
Frieden.
https://www.iti-germany.de/meldung/jon-fosse- ist-botschafter-zum-welttheatertag-2024
BOTSCHAFT ZUM WELTTHEATERTAG 2024