Man mag viel wissen über Israel, über Jerusalem, und viel weiß man eben nicht – zum Beispiel, was für eine Rolle die Kinokultur dort spielt. Als im Frühjahr 2008 Marli Feldvoß nach Jerusalem reiste, um die politische Entwicklung Israels zu erkunden, beeindruckte sie beim zufällig zu dieser Zeit stattfindenden Filmfestival in Tel Aviv das enge Verhältnis, das die Israelis mit ihren Filmen pflegten, die sich in zunehmenden Maße mit Fragen der eigenen Identität auseinandersetzten. Zustimmung oder Empörung durchliefen die Medien und fanden ihre Resonanz bei den Filmschaffenden.
„Wenn Sie nach Israel wollen, fahren Sie nach Tel Aviv, nur nicht nach Jerusalem“, warnte mich Dror Shaul kürzlich bei einem Interviewtermin auf dem Frankfurter Flughafen. Zu spät. Da war ich längst aus Israel zurück und hatte von allein gemerkt, wie dort, gleich nach der Ankunft, der Adrenalinspiegel zu klettern anfängt. Diejenigen, die den Druck nicht mehr aushalten, viele Künstler, suchen schon lange das Weite, um aus der Distanz wieder zu sich und zu ihrem Land zu finden. Die trifft man dann in Berlin, London oder New York wieder. Der Jerusalemer Bürgermeistersohn und Autor Amos Kollek hat sich erst in New York einen Namen als Regisseur gemacht. Die palästinensische Schauspielerin Hiam Abbas („Lemon Tree“) lebt mit ihrer Familie in Paris.
Aber es gibt sicher ein nächstes Mal, um die als „sophisticated“ verschrieene europäischste Stadt Israels noch besser kennen zu lernen. Vielleicht im nächsten Jahr, wenn Tel Aviv-Yafo sein hundertjähriges Jubiläum feiert. Damals, im April 1909, hatten sich ein paar Dutzend auffällig gut gekleideter Männer und Frauen im Norden von Yaffa am Strand versammelt, um ihr gemeinsam erworbenes Land mit Hilfe der nicht minder legendären „Muschel-Verlosung“ untereinander aufzuteilen. Heute erhebt sich hinter den Dünen eine imposante Wolkenkratzerkulisse mit 380 000 Einwohnern, davor – wie man in Shira Gefens und Edgar Kerets Episodenfilm „Jellyfish“ zu sehen kriegt – Strandidylle mit Eismann. Der alte Stadtkern mit seiner wunderbaren Bauhaus-Architektur könnte mittlerweile eine Sanierung vertragen, nur das stilbewusste Hotel Cinema am Dizengoff Square, das früher einmal Esther Cinema hieß und die alten Projektoren als Dekorationsstücke gerettet hat, strahlt im aufpolierten Glanz der Moderne. Das Land Israel und sein Kino sind inzwischen eine enge Liaison eingegangen. Unterwegs, egal wohin, zu irgendeinem Kibbuz, zu den Golan Höhen im Norden, zum Toten Meer im Süden oder nach Jerusalem – immer schiebt sich dazu ein Kinoerlebnis vors Auge. Als hätte das Kino die Aufgabe des Treuhänders und Chronisten übernommen. Man bräuchte deshalb nur ins Kino gehen, wenn man sich mit den unterschiedlichen Problemen des Einwanderungslandes auseinandersetzen will, das, wie sich heute zeigt, partout nicht zu einem melting pot werden will, wie es seine Gründerväter wollten, sondern in eine bunt gewürfelte Stammesgesellschaft mit vielen partikularen Interessen zerfällt. Dieser Tatsache kommt die „Neue Welle“ des israelischen Kinos entgegen, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hat. Hauptmerkmale sind, dass die Filmemacher sich nicht mehr der zionistischen Doktrin verpflichtet fühlen, sondern mit der eigenen Stimme sprechen, ihre persönliche Sichtweise hervorkehren – das Ich und nicht das Wir – Fragen der eigenen Identität(en) in den Mittelpunkt stellen. Vorreiter spielte die in Haifa angesiedelte Komödie „Broken Wings“ (Nir Bergman, 2000) (Publikumspreis der Berlinale), in der ein Vater an einem Bienenstich stirbt (und nicht im Krieg) und damit seine Familie in die Krise stürzt.
Wer mehr darüber wissen will, fragt am besten Katriel Schory,
seit neun Jahren Leiter des Israel Film Fund und glühender Verfechter
totaler künstlerischer Freiheit. „Wir nehmen, was kommt. Wir mischen uns
nicht ein.“ (Ob ein solcher Satz auch bei der deutschen Filmförderung
zu hören wäre?) Der frühere Produzent und Filmemacher war die treibende
Kraft hinter der Erneuerung des israelischen Kinos und bewirkte, dass im
Januar 2001 in der Knesset endlich ein Kinogesetz verabschiedet wurde,
das eine erhebliche Erweiterung der Filmförderung und deren
Unabhängigkeit von wechselnden Regierungsmehrheiten und deren Launen
vorsah. Mit diesem Rückgrat hat sich das israelische Kino – damit ist
zunächst der von Schory betreute Spielfilm gemeint –, mit
Riesenschritten aus der Nische der Ausnahmekunst befreit. „Wir waren
nicht mehr das Stiefkind der Kultur.“ Seitdem müssen die privaten
Fernsehsender Abgaben leisten, um das israelische Kino zu finanzieren.
Die Zuschauerzahlen taten einen gewaltigen Sprung von 36 000 (1998) –
dem Tiefpunkt überhaupt – auf 1,4 Millionen (2004). Heute verzeichnen
sogar einzelne Filme Traumzahlen wie 500 000 verkaufte Karten für „Turn
Left at the End of the World“ (Avi Nesher, 2004), 270 000 für „Die Band
von nebenan“ (Eran Kolirin, 2007).
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Das Bekenntnis zur Filmkultur ist heute in Israel das normalste von der
Welt. Eine wichtige Rolle spielt dabei wohl auch, dass Film als
Unterrichtsfach in der High School gelehrt wird. Die große Akzeptanz des
Kinos ist auch zu spüren, wenn man sich auf einem Festival wie dem
Docaviv in Tel Aviv bewegt, das im April sein zehnjähriges Bestehen
feierte. Dort hat man – selbstbewusst – neben dem internationalen auch
noch einen israelischen Wettbewerb eingerichtet; zehn Beiträge sind
gemeldet. Dazu gehört auch der Festival-Eröffnungsfilm „The Beetle“ von
Yishai Orian – ein weiteres Beispiel für die Segnungen der „Neuen
Welle“. In einem historischen Rückblick erzählt „The Beetle“ zunächst
davon, dass der erfolgreichste Kleinwagen aller Zeiten – „unser Käfer“
nämlich – in Israel nur mit dem gefälschten Gütesiegel „Made in Belgium“
an den Kunden zu bringen war; trickreich unterliefen die eigenen
Behörden den angesagten Boykott gegen deutsche Produkte. Aber das ist
lange her. Eigentlich geht es dem jungen Filmemacher darum, seine ganz
persönliche Reise ins verfeindete Ausland zu schildern. Er liebte seinen
vierzig Jahre alten Käfer so sehr, dass er das Nummernschild
abmontierte, seine Kippa absetzte und klammheimlich über die jordanische
Grenze fuhr, um ihn dort reparieren zu lassen und neue Freundschaften
zu schließen.
Wer einmal an den hermetisch abgeriegelten Grenzübergängen zur West Bank oder vor der bis zu neun Meter hohen Mauer (nach Berliner Vorbild) in der Gegend von Jerusalem gestanden hat, versteht erst so richtig, wieviel Zivilcourage hinter einem solchen Filmvorhaben steckt, das auf die gesamte israelische Sicherheitspolitik zu pfeifen scheint. Auch im Frühjahr 2008 sind bewaffnete Zwischenfälle und Tätlichkeiten zwischen Israelis und Palästinensern an der Tagesordnung, fliegen täglich die Scut Raketen aus dem Gazastreifen über die Grenze, nur dreißig Kilometer südlich von Tel Aviv. Ob es nach dem im Sommer geschlossenen Waffenstillstand so viel anders aussieht?
In Israel herrscht Krieg und das seit der Staatsgründung vor sechzig Jahren. Auf den 1967 eroberten Golan-Höhen sind Schützengräben und Pappsoldaten, die auf die Feinde zielen, für den Tourismus hergerichtet. Erst in den letzten Jahren ist das hoch gehaltene Bild des Soldaten und das hohe Ansehen der israelischen Armee zunehmend ins Wanken geraten. Kriegsteilnehmer Ari Folman befragt in „Waltz with Bashir“(2008) seine Albträume und die alten Kameraden, um Schritt für Schritt die schreckliche Erinnerung an das Massaker von Sabra und Chatila aus der Verdrängung zu befreien. Der Reservist Yariv Mozer hat gleich seine Videokamera eingepackt, als er bei Ausbruch des zweiten Libanonkriegs am 12. Juli 2006 als Reservist eingezogen wurde. Am Ende von „My First War“ (2008) zieht er unmittelbar Bilanz: Sechsundachtzig Tote, drei Wochen Krieg ohne Sinn, verheizte Soldaten, die von posttraumatischen Störungen heimgesucht werden oder in Tel Aviv auf die Straße gehen, um gegen Präsident Olmerts falsche Politik zu protestieren.
Als schärfster Kritiker der Armee gilt Joseph Cedar mit seinem Film „Beaufort“ (2007) (Silberner Bär für beste Regie). Auch er greift auf Erinnerungen an den ersten Libanonkrieg zurück, wenn er seine Soldaten wie Astronauten auf einem andern Stern herumtappen lässt, wenn sie, nach achtzehnjähriger sinnloser Besatzungszeit, die Festung Beaufort endlich aufgeben und in die Luft sprengen sollen. Eine wahre Geschichte. Sein Held sei kein Verlierer, betont Cedar im Gespräch, sondern einer, der den Mut habe, seine Angst einzugestehen. Dass der Film mit gestohlenen Schneeausrüstungen der Armee gedreht wurde, die sie einem Hehler auf der Straße abgekauft haben, erhöht noch das absurde Geschehen auf der Leinwand. Das sind herbe Töne, die zeigen, wie weit sich Israel heute vom einstigen Mythos des „Sabres“, vom Helden der Pionierzeit und damit vom Ideal des „Neuen Juden“ entfernt hat.
Auch die für Israel identitätsstiftende Kibbuzbewegung ist in letzter Zeit ins Visier der Filmemacher geraten, die aus eigener Erfahrung sprechen. In Wirklichkeit gibt es heute noch um die 270 Kibbuzim, von denen jedoch nur noch fünfzehn nach der reinen sozialistischen Lehre funktionieren. So kann man heute ziemlich komfortabel in einer Hotel-Bungalowanlage übernachten, die von einem Kibbuz betrieben wird. Jonathan Paz, Regisseur von „The Galilee Eskimos“, ist in einem Kibbuz geboren, den seine Mutter gegründet hatte, auch sein Drehbuchautor Joshua Sobol hat zehn Jahre in einem Kibbuz verbracht. Der Filmtitel spielt auf das Schicksal der Eskimos an, die zum Sterben allein gelassen werden. So geht es auch den zwölf Alten, die aus Versehen in einem Kibbuz zurückgelassen werden, als dieser wegen hoher Verschuldung aufgegeben und geräumt werden musste. Kein Einzelfall in Israel.
Wenn man in die weiße Stadt Jerusalem kommt, leuchtet die
Goldkuppel der El Aksa Moschee auf dem Tempelberg schon von weitem.
Betreten für Ungläubige streng verboten. Ungern gesehen sind die
ungläubigen Besucher auch im orthodoxen Stadtviertel Mea Shearim, wo „My
Father, my Lord“ von David Volach angesiedelt ist. Die Geschichte einer
gottesfürchtigen Familie, die nur nach dem Gebot des Herrn lebt und
darüber das wirkliche Leben und das eigene Kind vergisst. Der von Assi
Dayan dargestellte alte Jude, der nur beim Studium des Talmud zu sehen
ist, allenfalls mal eine Taube verscheucht, löste in Israel einen Sturm
der Entrüstung aus. Das gleiche Gefühl beschleicht einen beim Rundgang
durch das eigentlich moderne, doch mittelalterlich anmutende
Stadtviertel, in dem das Leben plötzlich zum Stillstand zu kommen
scheint. Dass alle Ethnien und Religionsgemeinschaften in Israel ihre
eigenen Ausbildungsstätten unterhalten, hat sich herumgesprochen. Dass
dazu auch eine religiöse Filmschule gehört, gibt allerdings zu
denken.
Der Beitrag wurde zuerst im November 2008 in epd Film
veröffentlicht.