Das Theater führte sie zusammen: Peter Iden, einst Feuilletonleiter der Frankfurter Rundschau, Karlheinz Braun, Mitgründer und bis 2003 Geschäftsführer des Verlags der Autoren. Gemeinsam leiteten sie das Frankfurter experimenta-Festival 1-5, in dessen Rahmen Peter Handkes „Publikumsbeschimpfungen“ uraufgeführt wurde. Gemeinsam verantworteten sie auch das Theaterprogramm der documenta 5 in Kassel. Beobachtend und eingreifend sind Peter Iden und Karlheinz Braun selbst Teil der deutschsprachigen Theatergeschichte. Eine Auswahl der von Peter Iden in den letzten vierzig Jahren verfassten Theaterkritiken ist jetzt unter dem Titel „Der verbrannte Schmetterling“ erschienen. Karlheinz Braun befragt den langjährigen Freund und Kollegen über Aufbau und Leitmotive dieser Sammlung.
Karlheinz Braun
In der Europäischen Verlagsanstalt ist ein umfangreiches, fast 500
Seiten starkes Buch erschienen, das über das Theater der letzten 50
Jahre berichtet und zugleich ein Lebenswerk abbildet. Herausgeber Roland
Spahr sagt im Vorwort, das Material für das Buch seien 3000 Artikel
Kritiken der letzten 50 Jahre, dieses Material, umgesetzt in ein Buch,
wie wählt man das aus? Wie wird daraus ein Buch?
Peter Iden
Zunächst mal werde ich etwas ängstlich, wenn man von Lebenswerk spricht,
weil ich denke, die Texte sind ohne Bewusstsein dafür entstanden, dass
sie sich nachher zu fast 50 Jahren Beobachtung von Theater addieren. Es
ist etwas, das man beginnt und fortsetzt, ohne Begriff von einem
Lebenswerk. Ich war dann überrascht, dass ein Verlag anfragt, ob man
nicht ein Buch aus diesem Material machen könne. Das war auf der
Grundlage eines Archivs möglich, das früh professionell geführt worden
ist, so dass diese in der Tat fast 3000 Rezensionen gut abgelegt und
chronologisch sortiert vorgelegen haben. Daraus habe ich eine Vorauswahl
getroffen und dann gedacht, es wäre gut, wenn auch ein jüngerer Mensch
mit einer Theaterpassion die Endauswahl mit mir zusammen treffen würde.
Der von Dir erwähnte Roland Spahr hat diese Herausgeberfunktion
dankenswerter Weise übernommen.
Karlheinz Braun
Wenn man die 3000 Kritiken vollständig in einem Buch publizieren möchte,
würde das nach meiner Berechnung ungefähr 120 000 Seiten ergeben.
Dieses Buch hat nur 105 Kritiken versammelt, es ist also nur ein kleiner
Bruchteil, eine besondere Komposition aus dem Material für ein
Buch.
Peter Iden
Die Struktur der Sammlung ist die nach Jahrzehnten. Wir haben versucht,
das Auswahlprinzip so zu definieren, dass man fragt, was war in den
Jahrzehnten wichtig, was hat das Theater weiter getrieben oder besonders
zurück geworfen, welche Regisseure, welche Schauspieler, welche
Autoren, waren wichtig, und da mussten wir die Entscheidung einer
beträchtlichen Einengung treffen.
Karlheinz Braun
So sind also fünf große Kapitel entstanden, Dezennien von den 60iger
Jahren bis jetzt zu den sogenannten 00er Jahren. Jeweils ein Dezennium
umfasst eine bestimmte Epoche auch des Theaters, deren Produktion Du
auch unter bestimmten Gesichtspunkten zusammen gesetzt hast.
Peter Iden
Die Einführung habe ich zusätzlich geschrieben, um einen Überblick zu
geben, was zugleich realpolitisch und realgeschichtlich vorgegangen ist.
Am Theater hat mich immer interessiert – und das war auch wesentlich
für die Textauswahl – welchen Bezug es zur Wirklichkeit nimmt, welchen
Bezug haben bestimmte Tendenzen zu der Realität, die wir
leben.
Karlheinz Braun
So bilden Kritiken über Theaterproduktionen, die mit der Zeit und der
Wirklichkeit zu tun haben, die Zeit selbst auch ab.
Peter Iden
Aus eigener Anschauung konnte ich mit meinen Kritiken Anfang der 60iger
Jahre einsetzen, doch wurde mir geraten, mein Buch bereits 1945 zu
beginnen. Ich habe darum in der Einführung in groben Zügen skizzenhaft
rekonstruiert, was zwischen 1945 und 1960, also nach dem Krieg in der
Phase der Wiedergewinnung des deutschen Theaters geschehen
ist.
Karlheinz Braun
Zu diesen Dezennien kommen noch bestimmte Blöcke, die Dein besonderes
Interesse zusammen fassen, sogenannte Brennpunkte, in denen bestimmte
Theater wie die Schaubühne in Berlin oder das Frankfurter Theater, sowie
Porträts von Autoren wie Samuel Beckett, Thomas Bernhard, Peter Handke
oder Botho Strauß zusammen gefasst sind. Das sind Blöcke, die innerhalb
dieser Dezennien Dein besonderes Interesse an diesen Autoren und diesen
Theaterformen bekunden.
Peter Iden
Ich wollte kein Buch, das die Kritiken dieser Jahrzehnte einfach
aneinander hängt und so eine zeitlich geordnete Wüste von Rezensionen
ergibt. Deswegen haben wir, und daran ist Roland Spahr wesentlich
beteiligt gewesen, überlegt, ob wir eine Gliederung finden, die den Text
ein bisschen abwechslungsreicher macht. So entstand die Einteilung nach
Dezennien und Brennpunkten. Es sollte deutlich werden, wo sich
Theaterentwicklung zu einer bestimmten Zeit besonders konzentriert hat
und wo sie besonders wichtig war. Nehmen wir zum Beispiel die
Mitbestimmungsdiskussion, die am heftigsten hier in Frankfurt am Main
geführt worden ist. Das wird ebenso hervorgehoben wie die epochale
Leistung der Berliner Schaubühne. Weil hier so viel wichtiges Material
vorhanden war, brauchte man sogar zwei Brennpunkte. Außerdem gibt es das
Element der Hervorhebung von Autoren, von Samuel Beckett über Thomas
Bernhard und Peter Handke zu Botho Strauß. Das sind für mich die
wichtigen Dramatiker der Zeit gewesen. Gewiss gibt es auch noch andere,
aber für mich waren diese sehr wichtig, darum sind sie hervorgehoben.
Wir nennen diese Zusammenführung Porträts, sie sind jedoch
zusammengesetzt aus Rezensionen.
Karlheinz Braun
Liest man die Kritiken und die Portraits der Autoren und Theatermacher,
so fallen zwei Tendenzen auf, die Dich interessieren. Da ist einmal die
direkt eingreifende, politisch-gesellschaftliche Theaterarbeit, wie sie
sich zum Beispiel an Piscator, Brecht, Palitzsch usw. manifestiert, dann
aber auch eine eher autonome Theaterkunst, die sich nicht auf die bloße
Abbildung der Wirklichkeit beschränkt, sondern mehr oder weniger eigene
Wirklichkeiten erfindet, wie es in vielen dramatischen Arbeiten von
Handke, Botho Strauß, Bernhard – und vor allem Beckett der Fall ist. Und
natürlich interessieren Dich die Avantgarden des letzten Jahrhunderts,
gerade der 60iger und 70iger Jahre, die die Glaubwürdigkeit von
realistischer Darstellung in Frage stellen und statt dessen neue
erfundene Wirklichkeiten zum Kunstwerk erklären, das auf seine Weise die
Realität reflektiert.
Peter Iden
Es sind diese beiden Tendenzen, das ist richtig beobachtet, die das
Theater in seiner Entwicklung bis in seine Gegenwart bestimmen. Der
Buchtitel spricht für die eine Seite. Er spielt auf diese berühmte Szene
an, als Peter Brook in London am Aldwych-Theater 1965 ein Stück spielen
ließ, das er mit Schauspielern und Dramaturgen entwickelt hatte, es
hieß „US“ – also „United States“ und „us“ (wir) -, und bezog sich auf
die Frage, wie man mit der Realität des Vietnamkrieges umgehen kann. Wie
reagiert man auf die Verbrennung von Menschendörfern durch
Napalmbomben, das war damals sehr in der Diskussion. Der erste Teil
zeigt eine Familie, die an einem Tisch in der Küche sitzt und ihre
Ohnmacht ausstellt. Eine Reaktion konnte man sich nicht vorstellen, das
ging uns allen so. Das Signet der Epoche war die Ohnmacht die man hatte.
Im zweiten Akt lässt Brook, um zu zeigen, wie schwach die Reaktionen
auf die Realität waren, einen Schmetterling, einen Zitronenfalter
tatsächlich verbrennen. Ich habe diese Aufführung gesehen, und es war
so, wie man über die Aufführung von Schillers Räubern berichtet hat: die
Leute sind völlig hysterisch geworden, Frauen sind schreiend aus dem
Theater gestürzt; so würden sie nicht reagieren, wenn am Fernseher
sehen, was da passiert ist. Die Aufführung ist nur noch einmal
wiederholt worden, dann hat die englische Zensur, die es damals noch
gab, diese Aktion verboten.
Karlheinz Braun
Interessant ist nicht nur die Reaktion des Publikums, der Vorgang ist ja
besonders bezeichnend für die Frage der Theatermacher, wie stellt man
so etwas dar, von Napalm verbrannte Menschen? Mit welchen Mitteln kann
man das auf die Bühne bringen, dieses Problem hat in den 60iger Jahren,
während des Vietnamkrieges und später, die Theatermacher außerordentlich
beschäftigt.
Peter Iden
… wie dicht man an das wirkliche Leben herankommt.
Karlheinz Braun
…das war dieselbe Frage, die damals Peymann und Joseph Beuys bewegten,
diesen Titus Andronicus zu machen, Titus Andronicus konfrontiert mit der
Goetheschen Iphigenie, wie so etwas überhaupt darstellbar
ist.
Peter Iden
Gut, also da sieht man, wie das Theater natürlich, indem es so nah heran
will an das Leben, auch Gefahr läuft, sich selbst als Theater
aufzugeben.
Karlheinz Braun
Aber das ist es, was Dich jahrzehntelang interessiert hat.
Peter Iden
In den Happenings, zum Beispiel in den Arbeiten des Living Theatre kann
man erkennen, wie schließlich die Frage entsteht, ob das überhaupt noch
Theater ist, zumindest was wir darunter gelernt haben zu
verstehen.
Karlheinz Braun
Deshalb heißt das Buch im Untertitel „Wege des Theaters in die
Wirklichkeit“.
Peter Iden
Ich habe durch Vermittlung von Karlheinz Braun das Glück gehabt, Erwin
Piscator bis zum Ende seines Lebens begleiten zu dürfen. Ich habe sehr
viel über Theater gelernt, sowohl über politisches Theater, dafür hat er
ja nun Weltruhm gehabt, aber auch über poetisches Theater, was ihn mehr
interessiert hat, als man in seinen Schriften und in der Erinnerung an
seine Darbietungen in den 20iger Jahren erkennen kann. Deswegen wird das
Buch auch eröffnet mit meinem Nachruf aus der Frankfurter Rundschau auf
Piscator als einem Lehrer, wenn man so will oder auch als
Vorbild.
Karlheinz Braun
Dennoch überrascht Dein über das ganze Buch hinweg erkennbare Interesse
an einem fast gegenteiligen Theater, einem artifiziellen, von der
Wirklichkeit geradezu abgehobenen Theater der Avantgarden, von den
20iger Jahren ab bis über die Experimenta in den 60iger und 70iger
Jahren, dem entspricht dann auch Dein Interesse an den entsprechenden
Tendenzen in der bildenden Kunst.
Peter Iden
Das hat auch mit Piscator zu tun. Ich habe mich sehr daran gestört und
darüber auch viel mit ihm gestritten, dass seine erste Frage – wir haben
einige Inszenierungen zusammen vorbereitet – immer lautete: „Suchen Sie
die Unterdrückten in dem Stück.“ Egal, was es war, ich weiß noch, wie
er die Oper Salomé in Wiesbaden machen wollte und er wieder sagte:
„Suchen Sie in jedem Text zuerst die Unterdrückten, dann werden wir
damit beginnen.“ Er hat ja dann immer umgestellt und am Anfang jeder
Sache, egal, war es Klassenkampf. Mein Einwand: aber Herr Piscator, es
gibt doch auch Kunst es gibt doch auch ganz andere Aspekte an Salomé,
als die Frage primär, wo die Unterdrückten sind, war schwer zu
vermitteln. In dieser Frage hat er mich aber auch nicht gewinnen können,
Salomé war darum ein gewisser Bruchpunkt.
Karlheinz Braun
Dein Interesse galt also schon in den 60iger/70iger Jahren stark der
Avantgarde, ab den 90iger und 00erJahren aber erfährt die Avantgarde,
die sich dann als postdramatisches Theater entwickelte, eher Deine
Ablehnung. Die letzten Kapitel sind fast kämpferisch gegen bestimmte
Entwicklungen des Nach-Castorf‘schen Theaters gerichtet.
Peter Iden
Ich sehe einen Unterschied zwischen dem, was jemand wie Hans Neuenfels
in den späten 60iger Jahren gemacht hat, was Avantgarde war, und dem,
was sich heute als Avantgarde in Prozessen der Zerlegung von Texten
darstellt. Regisseure der 60iger Jahre wie Hansgünter Heyme und viele
andere waren immer noch fixiert auf den Text, heute aber haben wir ein
Theater, in dem Texte nur noch als Material, als Steinbruch vorhanden
sind, das gilt nicht nur für Shakespeare, sondern auch für junge
Autoren. Die jungen Autoren fürchten sich heute sogar vor manchen
Regisseuren, denn der alte Satz, dass eine Uraufführung immer dicht am
Autor sein muss, gilt schon lange nicht mehr.
Karlheinz Braun
Das ist eine weit abführende Diskussion, aber interessant ist doch, dass
das postdramatische Theater behauptet, das Theater bedürfe des Textes
nicht. Ein Stück, ein Text oder Worte seien neben Licht, Tanz und Musik
als Grundlage des Theaters gar nicht mehr notwendig. Vorformen hierzu
gab es ja durchaus in den 60igern und 70iger Jahren.
Peter Iden
Das Theater ist ein Haus mit vielen Wohnungen, nur ich möchte nicht in
allen wohnen.
Karlheinz Braun
Eine letzte Frage, ich sehe immer in den Theaterkritikern zwei Typen. Es
gibt den Theaterkritiker, der alles von außen betrachtet, der sich
distanziert, sich nicht einmischt, sich als Vertreter des Publikums
sieht, dann gibt es den anderen Theaterkritikertyp, der sich fast als
einen Teil des Theaters begreift, der wissen will, was hinter den
Kulissen passiert, der die Bedingungen des Theaterbetriebs genau weiß
und einschätzen will, was aus den Bedingungen dann auf der Bühne wird,
der also eingreift und den Streit mit den Theaterleuten sucht, zu
welchem Typ würdest Du Dich rechnen?
Peter Iden
Zu letzterem, ich habe immer gedacht, apropos Lebenswerk, wenn man schon
damit sein Leben verbringt, dann möchte man die Leute kennen, die das
machen, womit man sich dauernd beschäftigt. Ich habe Kontakte, auch
persönliche Kontakte, zu den wichtigen Akteuren bekommen. Ich bin
überzeugt, dass man sich dafür interessieren muss, unter welchen
Bedingungen Theater entsteht. Als in den 60iger Jahren die große
Diskussion über die äußeren Umstände der Theaterarbeit entstanden ist,
wollte ich daran Teil haben, ja, die Position ist auf keinen Fall nur
die des Zuschauers, sondern ich habe auch geschrieben für die Leute, die
Theater machen; für das Publikum selbstverständlich auch, das verlangt
das Medium Zeitung in erster Linie, aber auch für die Leute, die das
Theater herstellen, das Vorbild für mich ist Herbert Ihering und nicht
Alfred Kerr.