2024 geht in Hamburg eine Ära zu Ende. John Neumeier, der schon an den Ballettcompagnien in Stuttgart und Frankfurt am Main leitende Positionen innehatte, war 1973 von August Everding zum Leiter des Hamburg Ballett berufen worden, das er mit seinen Choreographien berühmt machte. Das Finale seiner künstlerischen Arbeit wird nun mit einer Dokumentation verschönt, die die 50 Jahre Hamburg Ballett umfasst. Walter H. Krämer bespricht das Buch und die jüngste Fassung der „Hamlet 21“-Choreografie.
Seit nunmehr 50 Jahren leitet John Neumeier nun schon das Hamburgische Staatsballett und hat dabei eine Compagnie geformt, in der Tänzerinnen und Tänzer über Jahrzehnte dabei sind und bleiben.
Am 1. August 2024 tritt Demis Volpi die Nachfolge von John
Neumeier als Intendant des Hamburg Ballett und Leiter des
Ballettzentrums Hamburg an. Damit geht eine Ära zu Ende, die
ihresgleichen in der deutschen und internationalen Ballett- und
Tanzszene sucht.
Demis Volpi – derzeit noch Ballettdirektor und Chefchoreograph des
Balletts am Rhein – ist ausgebildeter Tänzer und hat sich als
Choreograph international einen Namen gemacht.
Er ist sich der Bedeutung bewusst, was es heißt, der Nachfolger von John
Neumeier zu werden: „Die Chance einem Künstler nachzufolgen, der diese
Compagnie, die Stadtgesellschaft und ein Publikum aus der ganzen Welt
ein halbes Jahrhundert geprägt und inspiriert hat, ist einzigartig“,
strahlt der kommende Intendant. „Ich freue mich darauf, das von John
Neumeier geschaffene Repertoire lebendig zu halten und neue tänzerische
Sichtweisen auf unsere Welt zu suchen.“
Bevor es aber soweit ist, wird die Ära John Neumeier mit diesem Bildband noch einmal ausführlich und ausdrücklich gewürdigt.
Das Hamburg Ballett John Neumeier ist weit über Hamburg hinaus
bekannt. Dreh- und Angelpunkt der Compagnie ist Ballettdirektor und
Chefchoreograf John Neumeier, der seit 1973
Künstlerischer Leiter der Compagnie ist. Seine Choreographien setzen die
Tradition des klassischen Balletts fort – ergänzt durch moderne und
zeitgemäße Formen.
John Neumeiers künstlerisches Schaffen hat mehrere Tänzer- und
Tänzerinnengenerationen geprägt und den Blick auf Kunst, Tanz und
Theater erweitert.
Mit dem jetzt – anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von John Neumeier
in Hamburg – erschienenen Buches blicken wir auf ein halbes Jahrhundert
künstlerischer Arbeit dieses Tänzers, Ballettintendanten und
Choreografen zurück.
Und dieser Bildbiografie mit 330 s/w und farbigen Abbildungen
geht es letztlich nur um das eine: die Würdigung der Arbeit von John
Neumeier, das Hervorheben seiner Kreativität und die Erinnerung an seine
unvergesslichen Ballette – die meisten von ihnen Handlungsballette.
Mit dem Buch lassen wir die Jahre 1972 bis 2022 Revue passieren und
erleben Höhepunkte seiner Karriere noch einmal nach wie z.B. Die
Kameliendame, die Matthäuspassion, West Side Story und Ghost
Light.
Ergänzt durch Anmerkungen und Einschätzungen von John Neumeier und
seinen Tänzer*innen entsteht ein Eindruck von all dem, was hier
gemeinsam geleistet wurde. Blättert man das Buch von Beginn an durch, so
begibt man sich auf eine Reise durch 50 Jahre deutscher Ballett- und
Kulturgeschichte. Besonders für Hamburger*innen und angereiste
Ballettfreunde, die die Geschichte und Aufführungen des Ballett Hamburg
von Anfang an verfolgt und gesehen haben, ist diese Jubiläumschrift eine
wahre Fundgrube und ein Erinnerungsbuch an vergangene Zeiten.
Das Buch ist übersichtlich nach Dekaden gegliedert: 1973-1983 Die
Errichtung einer Compagnie / 1983 – 1993 Ein neues Zuhause / 1993 – 2003
Wegweisende Kreationen / 2003 – 2013 Kreative Entfaltung / 2013 – 2023
Grenzenlose Hingabe. Jedes Kapitel wird ergänzt durch Statements von
John Neumeier (immer) und beispielsweise Kent Nagano, Brigitte Lefèvre
oder Vladimir Urin (einmalig).
Eintauchen in Erinnerungen an all die Choreographien, die im Laufe von
50 Jahren entstanden sind und natürlich auch eine Erinnerung an all die
ausdrucksstarken Tänzer und Tänzerinnen, mit denen er zum Teil über
Jahrzehnte zusammenarbeitete und diese zu einer Compagnie formte – ein
ausgiebiger Blick zurück in Bildern.
Olaf Scholz (seit 2022 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland) lässt es sich nicht nehmen, als Hamburger und langjähriger Bewunderer der Arbeit von John Neumeier, dem Buch ein Vorwort beizusteuern, in dem er auf die Verdienste des Choreographen allgemein und besonders auch für Hamburg hinweist: Mit einem Werkbestand von über 170 Choreographien hat sich das Hamburg Ballett weltweit bekannt und berühmt gemacht. Gründung einer Ballettschule, Hamburger Ballett-Tage mit der alljährlichen Nijinsky-Gala und, nicht zu vergessen, (s)eine Sammlung von über 50.000 Objekten im entstehenden Ballettinstitut.
Die Texte des 254-seitigen Bandes sind in deutscher und englischer Sprache verfasst. Ein umfassendes Register zu u.a. Uraufführungen, Tourneen, Mitgliedern der Compagnie und Gastchoreographen*innen ist enthalten.

Bilder einer Ära
Arbeiten
von John Neumeier zu sehen, löst immer wieder Begeisterung, manchmal
auch Irritationen aus und wirft Fragen auf. Fragen, die sich der
Choreograph auch selber stellt. Ein Beispiel hierfür ist die im Lauf
seiner Karriere immer wieder auftauchende Beschäftigung mit der Figur
Hamlet. Die neueste Arbeit hierzu trägt den Titel Hamlet 21.
Der Titel Hamlet 21 verweist auf das Entstehungsjahr dieser
Ballettproduktion und markiert ein weiteres Mal eine Auseinandersetzung
mit der schillernden Figur des Hamlet. Begonnen hat die
Auseinandersetzung von John Neumeier mit dieser Figur bereits 1976 mit
den „Hamlet Connotations“ in New York. Immer wieder greift der
Choreograph auf diese Figur zurück und setzt sich mit ihr auseinander.
Legt Hand an die eigene Choreographie und bringt diese „aktualisiert“
für die Gegenwart und eine mögliche Zukunft erneut auf die Bühne. Und so
mündet seine nunmehr 45 Jahre währende Beschäftigung mit „Hamlet“ in
seine inzwischen sechste Neuinszenierung: „Hamlet 21“.
Ausgehend von dem Gedanken, dass man das Stück und die Figur
Hamlet von William Shakespeare kennen sollte, ihn vielleicht viele in
der Schule gelesen haben, kam John Neumeier auf die Idee, seinen Hamlet
21 in einem Klassenzimmer beginnen zu lasen.
Polonius ist ein strenger Lehrer. Tänzer Ivan Urban verschränkt die Arme
und blickt unerbittlich durch seine Brille. „Dänen kämpfen gegen
Norweger“, schreibt er auf die Schultafel. Während Horatio (Nicolas
Gläsmann) ihm ehrfürchtig zuhört, liest Hamlet (Edvin Revazov) lieber in
einem Buch – vielleicht seine eigene Geschichte?
Die Choreographie bezieht sich sowohl auf William Shakespeare als auch auf die Quellen des Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus und erzählt in einem ausführlichen ersten Teil die Vorgeschichte der bekannten „Hamlet“-Tragödie.
Schulbank und Tafel treten jedoch bald in den Hintergrund, und die Bühnentiefe öffnet sich für ein sehr ästhetisch choreographiertes militärisches Aufmarschieren und Fahnenschwenken. Florian Pohl gibt den kämpferischen Horvendel. Und auch sein Bruder Fenge, getanzt von Félix Paquet, stürzt sich in die Schlacht der Dänen gegen die Norweger um deren König Koller (Christopher Evans).
Sowohl Horvendel als auch Fenge begehren die gleiche Frau, die von Yaiza Coll getanzte Geruth. Man ahnt es schon: Konflikte sind damit vorprogrammiert. Sie will sich mit dem Sieger der Schlacht vermählen, schließt also bald Hochzeit mit Horvendel, der von nun an die Krone Jütlands trägt, und bekommt einen Sohn – Hamlet –, kann aber Fenge nicht ganz vergessen.
Edvin Revazovs Hamlet schließt derweil Freundschaft mit Ophelia, der Tochter des Polonius. Anna Laudere verkörpert sie als grazile, Blumen liebende Unschuld. Später, als der sensible Hamlet zum Studium ins Ausland wegzieht, umtanzt, umgreift und küsst er sie zum Abschied in einem atemberaubenden Pas de Deux.
Als Hamlet gelingt es Edvin Revazov, sich ganz dem theatralen Ausdruck hinzugeben. Jede Drehung des Kopfes, jeder Blick, jede Veränderung der Körperhaltung verrät eine / seine innere Regung.
Die Kämpfe gehen auch unter dem Norweger Fortinbras (Christopher Evans) weiter und werden zum Anlass für große Gruppentableaus des Corps de Ballet. Eindrucksvoll lässt Klaus Hellenstein, verantwortlich für Bühnenbild und Kostüme, schließlich die grau verhängten Wände einstürzen. Ein beeindruckendes Bild, das ungewollt Assoziationen an den Krieg und die Zerstörung in der Ukraine weckt.
Die Inszenierung deckt auf sehr verständliche Weise sowohl die Hintergründe als auch die politischen Verquickungen und innerpsychischen Vorgänge auf, die das Geschehen am Ende tragisch enden lassen.
Kunst – wesentlich in Gestalt der drei Komödianten – spielt in der Inszenierung eine große Rolle: die Handlung wird zum Spiel im Spiel des fantasiebegabten und träume-rischen Hamlet, der sich nach der Rache für den hinterhältigen Mord an seinem Vater befreit sieht und sich dem Schlaf überlässt „Good Night, sweet Prince“ und Polonius auf die Tafel die letzten Worte der Inszenierung schreiben darf: „Der Rest ist Schweigen”.
Eine wunderbar stimmige Inszenierung und ein weiterer
Meilenstein von John Neumeier im Rahmen seiner unzähligen
Handlungsballette und der Auseinandersetzung mit der Figur des
Dänenprinzen Hamlet.
HAMLET 21 Ballett von
John Neumeier nach Saxo Grammaticus und William Shakespeare
Musik: Michael Tippett,
Choreografie, Inszenierung und Lichtkonzept: John Neumeier
Bühnenbild und Kostüme: Klaus Hellenstein
Hamlet 21 – Nächste Aufführung am 25. Juni 2023 im Rahmen der 48. Hamburger Ballett-Tage