Der erfolgreiche Liebesfilm, liest man, führe zu einer verstärkten Ausschüttung des Progesterons, dem Gelbkörperhormon, einem natürlichen Sexualhormon – bei Frauen und bei Männern. Er biete intensive Gefühle an, nach denen das Publikum sich sehnt, weil es ihrer ermangelt. Aki Kaurismäki zeigt in seinem Film „Fallende Blätter“ aber auch, wie schwierig sich die Liebe gestaltet, wenn die Verhältnisse nicht so sind. Ulrich Breth war im Kino.
Als Aki Kaurismäki 2017 seinen vorletzten Film „Die andere Seite der Hoffnung“ auf der Berlinale vorstellte, mit dem er schließlich den Silbernen Bären für die beste Regie erhalten sollte, bezeichnete er ihn, nach „Le Havre“ (2011), als den zweiten Teil einer Flüchtlings-Trilogie. Wenige Wochen später, kurz bevor der Film in die Kinos kam, rückte er, wie in der Frankfurter Neuen Presse zu lesen war, diesen Gedanken mit den Worten zurecht: Ja, aber die Idee einer Trilogie mit nur zwei Teilen gefällt mir auch ganz gut. Geben Sie mir noch fünf Jahre. Wenn ich dann noch lebe, mache ich noch einen Film.
Der finnische Regisseur, dem wie kaum einem zweiten unter
seinen Kollegen das gesellschaftspolitische Gewissen des europäischen
Autorenfilms anvertraut ist, hat offensichtlich Wort gehalten.
Im Juni des vergangenen Jahres war zu hören, dass er im August mit der
Produktion eines neuen Films beginnen werde. Allerdings nicht mit dem
Schlußstein seiner Flüchtlings-Trilogie, sondern mit einer Fortsetzung
seiner sogenannten proletarischen Trilogie („Schatten im Paradies“,
1986, „Ariel“, 1988, „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“, 1989), die
unter dem Arbeitstitel „Dead Leaves“ angekündigt wurde. Dabei handelt
es sich nach Aussage des Regisseurs um eine Tragikomödie, die eine
Verkäuferin und einen Sandstrahler zusammenführt. Gespielt werden die
beiden von Alma Pöysti und Jussi Vatanen, die erstmals in einem
Kaurismäki-Streifen zu sehen sind und zuvor in Filmen des finnischen
Kinos mit vergleichsweise großem Budget auf sich aufmerksam gemacht
haben: Pöysti in dem Biopic „Tove“ (2020) von Zaida Bergroth, Vatanen in
dem Kriegsfilm „The Unknown Soldier“ (2017) von Aku Louhimies. Nachdem
einige Enthusiasten den Film bereits auf der Berlinale erwarteten,
schürte der Filmkritiker Eric Lavallée auf der von ihm gegründeten
Plattform Ioncinema die berechtigte Hoffnung, dass er im Mai in Cannes
zu sehen sein würde, wo er mit dem Preis der Jury ausgezeichnet worden
ist. Nun ist er auch hier in den Kinos zu sehen.
„Fallende Blätter“, so der deutsche Verleihtitel, erzählt die Liebesgeschichte zwischen Ansa und Holappa, die Kaurismäki in 81 Minuten erzählt. Das geschieht, wie stets in seinen Filmen, in einem lakonischen, unaufgeregten Ton. Der Film lässt sich Zeit, bis es zwischen den beiden in einer Karaoke-Bar zu einem intensiven Blickwechsel kommt, und noch mehr Zeit, bis die beiden in der letzten Einstellung zu den Klängen des Chansons Les feuilles mortes von Joseph Kosma und Jacques Prévert zu einem gemeinsamen Herbstspaziergang aufbrechen. Vorher verlieren die beiden mehrmals ihre Jobs und auch vorübergehend einander aus dem Blick.
Aber nicht nur auf Préverts Chanson lässt sich der Titel des
Films beziehen. Auch die beiden nicht mehr ganz jungen Liebenden sind
solche Blätter, von denen es in einem von Rilkes Herbstgedichten heißt,
dass sie mit verneinender Gebärde fallen, was sich
sowohl als Hinweis auf ihren Eigensinn als auch auf die Unversöhntheit
zwischen dem Glücksversprechen der Natur und der Erlösungsbedürftigkeit
des Menschen verstehen lässt. Bei Kaurismäki heißt das: Sie möchte einen
Mann, aber keinen Säufer; er möchte eine Frau, aber keine, die ihm
Vorschriften macht.
Was als erstes auffällt, sind die intensiven Rot- und Blautöne, die an
die Filme des britischen Regisseurs Michael Powell erinnern, dem der
finnische Regisseur einen seiner schönsten Filme, „I Hired A Contract
Killer“ (1990), gewidmet hat. Ebenso unüberhörbar sind die Nachrichten
vom Ukraine-Krieg, die aus dem Äther dringen, sobald einer der
Protagonisten das Radiogerät einschaltet. Unversöhnt bleiben die
Verhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft, denen Kaurismäkis
Anti-Helden unversöhnlich gegenüberstehen. Gedreht hat Kaurismäki seinen
Film teilweise an den finstersten Winkeln Helsinkis, deren
Entstelltheit und Bedürftigkeit im Auge des Betrachters eine Empathie
auszulösen vermag, die er gegenüber den polierten Fassaden der urbanen
Zentren kaum aufbringt.
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Überhaupt
ist der Ton von Kaurismäkis finnischem Tango, verglichen mit den
früheren Teilen des proletarischen Zyklus, noch spröder und rauher
geworden. Das zeigt sich an minimalistischen Szenen wie der, in der nach
dem missglückten Rendezvous in Ansas Wohnung der eigens hierfür
gekaufte Teller mit Besteck im Mülleimer landet, oder an Dialogen wie
dem, in dem sie auf die Bemerkung ihrer Freundin Lisa, alle Männer seien
Schweine, entgegnet, dass Schweine über Intelligenz und Empathie
verfügten. Oder auch daran, dass gesellschaftliche Mechanismen, etwa in
den Entlassungsszenen, ohne die kaum einer von Kaurismäkis Filme
auskommt, in ebenso reduzierter wie verdichteter Form bloßgelegt werden.
Ihnen werden Momente elementarer Solidarität gegenübergestellt, zu
denen vor allem die befähigt erscheinen, die ohnehin nichts mehr zu
verlieren haben.
Gerade die Szenen in der Karaoke-Bar erscheinen als das Gegenteil des
Sozialkitschs, mit dem die Fernsehbilder das Publikum der Unter- und
deklassierten Mittelschicht so gern in Verbindung bringen. Die Art und
Weise, in der sie zu den Klängen alter
Rock’n‘Roll-Nummern und sentimentaler finnischer
Schlager unverdrossen in die Kamera blicken, verleiht jedem einzelnen
Besucher der Bar eine Art persönlicher Würde. Sie sehen wie Hoppala
keinen Grund, vom Alkohol und vom Nikotin die Finger zu lassen, solange
ihnen das Leben nichts Besseres zu bieten hat. Aber sie sind weise
genug, um nicht nur zu sehen, was das Leben ihnen vorenthält, sondern
auch das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen.
In Kaurismäkis Filmen sieht die Welt so aus, wie sie zu seiner Jugendzeit ausgesehen haben mag. Daran zeigt sich, dass sich seitdem an den Verhältnissen grundsätzlich nichts geändert hat. Das ist die Kulisse, vor der er seine Kamera aufgestellt hat. Solange es Armut und Unterdrückung gibt, werden wir ihn auf der Seite der Armen und Unterdrückten finden.
Nicht zuletzt ist „Fallende Blätter“ ein Film über das Kino als einen Ort der Träume. Es ist der Ort, an dem der erste gemeinsam verbrachte Tag von Ansa und Holappa mit dem Besuch des Films „The Dead Don’t Die“ von Jim Jarmusch endet, und es ist der Ort, den sie aufsuchen, um sich wiederzusehen. Während sie am Eingang aufeinander warten, rückt die Kamera Plakate von Filmklassikern ins Bild, wie etwa Godards „Pierrot le fou“ oder Robert Bressons „L’Argent“. Mit dem Traum hat das Kino gemeinsam, dass es die Elemente seiner Inszenierung der Wirklichkeit entnimmt, um ihr in einer neuen Anordnung dieser Elemente bisher ungeahnte Möglichkeiten abzuringen.