Die vieraktige „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ hat Witold Gombrowicz 1935 verfasst. Es ist eine Komödie, die sich aus einer Tragödie speist. Nun hat auf der großen Bühne des Frankfurter Schauspiels Mateja Koleznik das Stück, das gut in die Zeit des absurden Theaters zu passen schien, so beeindruckend inszeniert, dass Martin Lüdke seinem Zauber erlegen ist.
So
etwas hat man lange nicht gesehen. Ein solches Theater im Theater. Und
ein faszinierendes Zusammenspiel von Regie, Bühnenbild, Kostüm und
Choreographie. Ein wahres Gesamtkunstwerk von der slowenischen
Regisseurin Mateja Koleznik, die seit 2012 auch im deutschsprachigen
Raum unterwegs ist. Dem Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt. Und der
Choreographin Matija Ferlin, die auch die herrlichen Rokoko-Kostüme
entworfen hat. Die Drei haben sich an ein Stück gewagt, das schon seit
Jahrzehnten von den großen europäischen Bühnen verschwunden und nur in
der tiefen Provinz, als wäre es die endgültige Abschiedstournee, in
Aalen, Linz oder Ludwigshafen noch einmal aus der Versenkung geholt
worden war.
Jetzt aber Frankfurt. Die Inszenierung entstand noch vor der
Corona-Zwangspause. Die Premiere war Ende Oktober. Ein buntes, ein
perfektes, ein faszinierendes Zusammenspiel von Kostüm, Bühne und Regie.
Und den Akteuren.

Mateja Kolezniks zauberhafte Inszenierung von Witold Gombrowicz
Vor
allem Geschehen stehen Bühnenbild, Kostüme und Choreographie. Durch sie
wird die Handlung ihrer Absurdität entkleidet und in einem strengen
Rhythmus gleichsam rationalisiert. Wir sehen ein Ballett, dessen Tänzer
die Schauspieler sind. Wir sehen Tänzer, deren Bewegung die Handlung
vorantreibt. Wir sehen, kurz gesagt, ein wirkliches Spektakel.
Prinz Philip, der burgundische Thronfolger, stößt wie zufällig auf
Yvonne, ein Mädchen, das hässlich, eher unbeholfen, in schäbiger
Kleidung, und, zwanzig Jahre vor Beckett, bis auf die Worte: „Es ist
immer dasselbe. Alles ist gleich“- stumm in der Gegend herumsteht. Sie
schweigt. Der Prinz entschließt sich spontan, vielleicht aus Trotz oder
Übermut, möglicherweise aber auch aus Langeweile oder einfach nur so,
das armselige Geschöpf zu seiner Braut zu küren. Sie schweigt. Zum
Entsetzen seiner Eltern, zum Ärger des Hofes. Die Braut selbst zeigt
keinerlei Reaktion. Sie schweigt. Yvonne bleibt, bis auf die wenigen,
eher rätselhaften Worte, „Wolle“ sagt sie noch, die ganze Zeit über
stumm. Doch dann, ohne großes Zutun von Königspaar, Kammerherr und
Hofstaat verliert der Prinz, so plötzlich wie es entstanden war, wieder
sein Interesse an diesem Geschöpf und beschließt darum, Yvonne zu
beseitigen. Sie schweigt. Zum Schluss verzehrt das arme Mädchen einen
Fisch, an dessen Gräten sie, durch den Prinzen wohl vorbereitet,
jämmerlich erstickt. Ich glaube, es war Ernst Bloch, der die Handlung
von Schillers „Wilhelm Tell“ einmal auf die prägnante Formel brachte:
„Mann schießt auf Äpfel.“ Jede Beschreibung der Handlung von
Gombrowicz’s „Yvonne“ ist ähnlich ergiebig. Sie kann allenfalls zeigen,
weshalb dieses schon 1935 entstandene, 1938 (auf polnisch)
veröffentlichte und 1957 erstmals aufgeführte Stück in die Nähe des
„Absurden Theaters“ gerückt wurde, das in den fünfziger Jahren des
letzten Jahrhunderts, allen voran mit Ionesco wahre Triumphe auf den
Bühnen des europäischen Theaters nach dem Zweiten Weltkrieg feierte.
Das absurde Theater war eine späte, aber plausible Antwort auf
Nietzsches Grabreden zum Tod Gottes. Die beiden Weltkriege hatten alle
heilsgeschichtlichen Hoffnungen endgültig begraben. Die Theologie begann
ihren langen Rückzug in die Belanglosigkeit. Das absurde Theater
feierte Triumphe.
Doch die Zeit schritt, wie nicht anders zu erwarten, stetig voran. Sogar
der Glaube an den Fortschritt erholte sich wieder etwas. Das „Absurde
Theater“ verschwand.

I
Frau
Koleznik wollte es jetzt mit ihrer Gombrowicz-Inszenierung keineswegs
wieder beleben. Im Gegenteil. Sie wollte es, kraft ihrer Rationalität,
endgültig begraben. Das ist ihr, in Zusammenarbeit mit ihren beiden
Kollegen von Bühnenbild und Kostüm/Choreographie geradezu perfekt
gelungen.
Die Bühne, eine große, runde, weiße Scheibe, mit einem breiten Rand, auf
dem sich zwei Personen auch nebeneinander bewegen können. Im Inneren
der Scheibe eine weitere Scheibe, die sich bewegen, etwa kippen, also in
eine Schräglage versetzen lässt. Darüber, an der Bühnendecke, eine
weitere große, runde, beleuchtete Kuppel. Alles ist weiß. Das Ganze ist
ein durch die Klarheit der Formen faszinierendes, aber auch völlig
abstraktes Gebilde, das keinerlei Assoziationen, außer der von
technischer Rationalität, zulässt. Das heißt: wir sehen ein absurdes
Geschehen, regelrecht durchrationalisiert. Durch diese Spannung löst
sich auch die „Burgunderprinzessin“ aus allen historischen Bezügen. Die
Schauspieler wirken wie Marionetten. Durch die strenge Choreographie,
durch die gleiche (Ver-) Kleidung, in unterschiedlichen Farben,
verlieren sie alle individuellen Züge. Alle Beteiligten sind andauernd
in Bewegung. Sie laufen, als Gruppe, auf dem äußeren Rand der großen
Scheibe, Runde um Runde. Doch gehen sie nicht normal, sondern sie
tippeln. Die Künstlichkeit ihres Ganges wird durch die engen, schwarzen
Strümpfe und die spitzen Schuhe noch weiter betont. Kommt es zu den
immer nur kurzen Dialogen, dann stehen sich die Protagonisten auf der
inneren Scheibe gegenüber. Bis sie wieder ihren Rundgang antreten. Was
da geredet wird, bleibt eigentlich belanglos. Bis Yvonne röchelnd an den
Gräten ihres Fisches erstickt, geschieht auch nicht viel. Und trotzdem,
erstaunlicherweise, wird es, die hundert Minuten lang, die es dauert,
zu keiner Sekunde langweilig. Und das paradoxerweise wohl auch, weil
diesem Stück keine Botschaft zu entnehmen ist, weil daraus keine Lehre
folgt. Was zu sehen ist, erinnert an die Begriffe der alten Frankfurter
Schule (Horkheimer / Adorno), etwa den Begriff des „Immergleichen“, der
auf einen Herrschaftszusammenhang zielt, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Oder „die Dialektik im Stillstand“: fortwährende Bewegung, aus der nix
rauskommt.
Das Geschehen, das sich auf der Bühne abspielt, lässt sich damit als
Parabel erkennen.
Aber eine Lehre ist daraus nicht zu ziehen. Es ist, wie auch Beckett
einst auf die Nachfragen nach dem Sinn seiner Stücke sagte, ein „Spiel“.
Mehr nicht.

II
Der
Hof (und gleichermaßen das Publikum) wird zum Zeugen, wie Yvonne, die
nur für kurze Zeit eine Burgunderprinzessin sein durfte, am Rand der
großen Scheibe röchelnd elendig verreckt. Das ist das Ende. Nach einer
kurzen Pause absoluter Stille in dem großen Saal kam Beifall auf.
Kräftig, aber – nach dem tragischen Ende verständlich – nicht
enthusiastisch.
Denn irgendwie geht einem das Schicksal des armen Mädchens dann doch an
die Nieren.

III