Unter den vielen Blutsaugern ist der Graf Dracula, den der Ire Bram Stoker nach dem legendären rumänischen Fürsten Vlad III. Dračulea formte, der bekannteste. Das Blut allein garantiert ihm das Überleben als Untoter – und zwar schließlich in England. Im Frankfurter Schauspiel aber hat der Vampir alle Themen der aktuellen, öffentlichen Diskussionen auf sich gezogen, und Martin Lüdke sieht die Zeit angehalten.
Im Jahre 1890 hörte der irische Schriftsteller Bram Stoker (1847 – 1912), bei einem Besuch in Rumänien von der (transsylvanischen) Legende des Grafen Dracula, des fortan berühmtesten Vampirs. Sieben Jahre lang arbeitete Stoker an diesem Stoff. 1897 erschien sein Roman „Dracula“. Ein Welterfolg & Dauerbrenner. Das Buch mag heute vielleicht nicht mehr viel gelesen werden. Der Stoff ist aber aktuell geblieben. Immer wieder wurde er verfilmt. Jetzt sogar, von Johanna Wehner, keineswegs zimperlich, bearbeitet, und auf die große Bühne des Frankfurter Schauspiels gebracht.
Der Vorhang ist schon offen, während sich der Zuschauerraum langsam füllt. Wir sehen vor uns die imposante Ruine eines vermutlich ehemaligen Schlosses mit einem breiten Durchgang und einer großen, geschwungenen Holztreppe, die in das obere Stockwerk des mächtigen Gebäudes führt. Dieser Bau, bzw. das, was von ihm geblieben ist, füllt die große Bühne des Schauspielhauses nahezu vollständig aus. (Bühnenbild: Benjamin Schönecker) Ein imponierendes Bild, Sinnbild des Vergangenen. Es ist für viele Deutungen offen. Vor dem Gebäude steht ein großer Tisch mit Stühlen, an dem alle Protagonisten Platz haben und oft auch nehmen.
Zunächst dient die große Ruine vor allem als Kulisse. Vor dem Gebäude war also immer was los. Es gibt viel Bewegung. Aber geht auch etwas voran? Anfangs deklamieren die beiden Frauen des Stücks, Mina und Lucy, zwei Freundinnen, von denen die eine, Lucy, später ein Opfers des Vampirs werden wird, ihren Briefwechsel, indem sie von der einen Seite der Bühne bis zur anderen eilen, sich und Mitte blicklos treffen, und dabei erzählen, was sie jeweils der anderen geschrieben haben. Carolina Dietrich (Nina) und Judith Florence Ehrhardt dürfen, im permanenten Seitenwechsel, quer über die gesamte Bühne, leider nur zitieren, was sie zu sagen hätten.
Bram Stokers Roman wurde von Johanna Wehner, der Regisseurin, forsch zupackend, bearbeitet, so dass neben einigem Personal gerade noch die Grundzüge der ursprünglichen Handlung erkennbar bleiben. Jonathan, gerade Anwalt geworden, der künftige Ehemann von Nina, macht sich sozusagen geschäftlich auf den Weg nach Transsylvanien, um dort mit dem Grafen Dracula ein Immobiliengeschäft unter Dach und Fach zu bringen. Er erzählt uns, schreibt das also seiner Frau, wie unheimlich ihm die ganze Geschichte sehr bald wird, und wie seltsam sich der Graf verhält, von dem merkwürdigerweise auch kein Spiegelbild gibt. Gleichwohl gelangt er heil nach England zurück, Graf Dracula kommt ihm bald nach, um seine englische Immobilie in Besitz zu nehmen, allerdings mit vierzig großen Holzkisten, bei denen man durchaus Särge vermuten darf, in seinem Gepäck.
Nun, könnte man meinen, geht es los. Nicht unbedingt die
Verfolgungsjagd, die einst Roman Polanski, über Stock und Stein,
treppauf, treppab, mit eben soviel Spannung wie Komik inszeniert hatte.
Aber doch immerhin etwas Dramatik. Nix da. Und so stellt sich die
Frage:
Wozu?
Sie bleibt offen. Zumal Regisseurin und Ensemble in gemeinsamer Arbeit
glaubten, einen Reflexions- und Konnotationsraum erarbeitet haben, der
sehr, sehr viel Platz nicht nur für weitreichende Spekulationen, sondern
auch für überraschende Einsichten bietet.
Im Programmheft ist dieser Tatbestand mit bewundernswerter Präzision
formuliert worden:
„Aus der Sekundärliteratur zu Dracula lassen sich – mindestens
– die folgenden Befunde gewinnen: Dracula verhandelt wahlweise
Überfremdung, Nationalismus, Kosmopolitismus, Multikultur, Diversität,
Identitätsverlust, Desintegration, Chaos, Barbarei,
Rassismus“, und, nachzulesen Seite 11, zwölf weitere
Problembereiche, nebst den Schreckens-Giganten der jüngeren
Weltgeschichte mit Hitler an der Spitze. Es gibt nicht viel zwischen
Himmel und Erde, was da noch fehlt.
Solche wahrlich weitreichenden Einsichten versuchte Johanna Wehner
offensichtlich auf die Bühne zu zwingen. Natürlich vergeblich. „Froh zu
sein, bedarf es wenig …“ lässt sie, mehrfach, von den
Beteiligten singen – und bringt sie in Bewegung. Als wäre es ein
Sommerfest im Schrebergarten. Der Vampirismus steht ja offenbar in einem
engeren Verhältnis zur Sexualität. Bevorzugte Opfer sind schließlich
junge Frauen. Viel war davon auch nicht zu sehen.
Der alte Adorno hätte in solchem Zusammenhang von einer „Dialektik im Stillstand“ gesprochen. Aber das wäre wirklich etwas hoch gegriffen.
