Der Nassauische Kunstverein in Wiesbaden zeigt noch bis zum 23. Juli 2023 Video- und Soundinstallationen der in Hamburg und Berlin lebenden Künstlerin Annika Kahrs. Die 1984 geborene Künstlerin experimentiert mit dem Zusammenspiel von Klängen, Rhythmen und Räumen und macht daraus ironisch-charmante Kommentare unserer Gegenwart. Was die Künstlerin mit den Klangexperimenten der Fluxusbewegung verbindet, beschreibt Ursula Grünenwald.

In dem Video „Playing to the Birds“ mischt sich das lebhafte Gezwitscher
von Singvögeln In das konzentrierte Spiel eines jungen Pianisten: Der
Musiker Lion Hinnrichs spielt Franz Liszts Stück „Legende Nr. 1: Die
Vogelpredigt des Heiligen Franz von Assisi“ vor einem Publikum
domestizierter Vögel. Die Tiere sitzen in Käfigen, die rund um den
Konzertflügel in einem stuckverzierten Raum verteilt sind.

Annika Kahrs hat das 14-minütige Video 2013 im Hamburger Jenisch-Haus
aufgenommen. Ahmte der romantische Komponist in seinem Stück von 1863
lautmalerisch einen Vogelschwarm nach, vermittelt die Künstlerin das
Stück nach 160 Jahren an ebenjene Wesen zurück, deren Kommunikationsform
das Klavierkonzert inspiriert hat. Doch anders als ein bürgerliches
Publikum lauschen die Finken, Kakadus und Wellensittiche nicht
hingebungsvoll dem virtuosen Klavierspiel. Sie zwitschern scheinbar
unbeirrt weiter. Was aber wissen wir vom Musikverständnis der Vögel? Und
ist ihre Rezeption möglicherweise adäquater als das schweigende Zuhören
eines Konzertbesuchers? Kahrs unterläuft in ihrem kurzweiligen Video
eine bürgerliche Konvention und lädt überdies dazu ein, über die
Kommunikation zwischen Mensch und Tier nachzusinnen.

Dass Klänge bei Kahrs mit dem Aufführungsort interferieren und
Zeitschichten freilegen, zeigt auch das 24-minütige Video „Le Chant des
Maisons“ von 2022, das anlässlich der 16. Biennale von Lyon entstanden
ist. Die Künstlerin lässt in dem säkularisierten, stark
renovierungsbedürftigen Kirchenraum von St. Bernard in Lyon einen
altersgemischten Chor proben und eine volkstümliche Blechblaskapelle
auftreten. Währenddessen errichten Zimmerleute eine begehbare
hausähnliche Konstruktion aus Holzbalken. Ein Orgelbauer stimmt im
Hintergrund die reparaturbedürftigen Pfeifen des alten
Kircheninstruments. Die Kakophonie aus Klängen und Handlungen entwickelt
sich nach und nach zu einem unkonventionellen Konzert, bei dem sich der
Chorgesang mit dem rhythmischen Baulärm der Zimmerleute verbindet.

Der Wettstreit, ob Handwerk oder Musik den Raum wirkmächtiger gestalten,
endet in der einfachen Erkenntnis, dass unterschiedliches Tun Raum
braucht, um in ein harmonisches Zusammenspiel münden zu können. Wie auch
in „Playing to the Birds“ folgt Kahrs hier dem Anliegen, historische
Kompositionen in unkonventionelle Gegenwartssituationen zu übersetzen.
Mit dem in Lyon entstandenen Videos erschließt sich auch der
rätselhafte, etwas umständliche Titel der Ausstellung „An Attempt to
Prove What is Passionate and Pleasing in the Art of Singing, Speaking
and Performing upon Musical Instruments, is Derived From the Sound”. Die
Künstlerin zitiert damit den Untertitel der musiktheoretischen
Abhandlung „The Music of Nature“, die der britische Komponist William
Gardiner 1832 veröffentlicht hat. Folgt man Gardiner, entspringt alles
Vergnügen dem „sound“, der beim Musizieren ebenso entsteht wie bei
alltäglichen Tätigkeiten. Mit ihrer Praxis, Hochkultur und
Alltagshandeln zu verbinden, um bürgerliche Konventionen infrage zu
stellen, schließt die Künstlerin leichtfüßig an die frühe Fluxusbewegung
an. Dies belegt auch die derzeit in der Stuttgarter Staatsgalerie
präsentierte Alison-Knowles-Ausstellung.
In Stuttgart ist die Dokumentation des Hessischen Fernsehens zu sehen, die der Sender 1962 anlässlich der Wiesbadener Festspiele ausgestrahlt hat. Die Schwarz-Weiß-Bilder zeigen die damals provokativen Kompositionen der internationalen Künstlergruppe, die wesentlich aus Geräuschen und schlichten Alltagsgesten bestanden. Ihr Ziel war es, die starren Konventionen der westlichen Hochkultur zu sprengen. Der Fernsehkommentator spart nicht mit Seitenhieben auf die Avantgardebewegung. Seine betont monotone Stimme, die von der Kamerafahrt über die formal gekleidete Zuhörerschaft begleitet wird, führt eindrücklich vor Augen, wie groß die gesellschaftlichen Veränderungen sind, die die Bundesrepublik in den letzten sechzig Jahren durchlaufen hat.
Tatsächlich ist Kahrs Werkschau als Teil des Wiesbadener Kunstsommers „FLUXUS SEX TIES – Hier spielt die Musik“ konzipiert, mit dem der 60. Jahrestag der Fluxusfestspiele gefeiert wird. Wie ihre Künstlerkolleg*innen vor sechzig Jahren unterläuft Kahrs mit sicherem Gespür musikalische Konventionen. Sie kombiniert Etabliertes und Zufallsfunde, High und Low Art, um gewohnte Formen des Hörens und Kommunizierens umzugestalten. Ihr Vergnügen an der Demontage bürgerlicher Normen verbindet Kahrs mit der Fluxusbewegung, zugleich weisen ihre Themen als Künstlerin des 21. Jahrhunderts aus.

So kann Kahrs 16-minütige Videoinstallation „how to live in the echo of
other places“ von 2022 als Frage nach dem Gelingen eines
multikulturellen Zusammenlebens in unserer globalisierten Gegenwart
begriffen werden. Die Installation besteht aus der wandfüllenden
Projektion eines digitalen Sonnenuntergangs, der effektvoll von der
Metallfolie auf dem Boden reflektiert wird. Auf dem Feuerball an der
Wand erscheinen nach und nach Worte in schwarzer Schrift, die aus
unterschiedlichen Sprachen stammen. Die Künstlerin hat Erinnerungen
gesammelt, die Menschen während eines Sonnenuntergangs in den Sinn
kamen. Das Projekt macht sich das kulturübergreifende Erleben von
Sonnenuntergängen zu eigen und hält doch einen Raum für Unterschiede
aller Art offen, da es weder übersetzt, erklärt noch wertet.

Ob bei Kahrs zukünftig Objektinstallationen eine Rolle spielen werden,
lässt die erstmals ausgestellte Präsentation farbiger Glasplatten
fragen, in die Lochkarten für Seidenwebmaschinen und teilmechanische
Orgeln eingelassen sind. Die Installation, die Kahrs eigens für
Wiesbaden angefertigt hat, trägt den Titel „warp and weft, pipe and
pitch“. Die hier verarbeiteten Informationsträger aus dünnem Karton sind
in der industriellen Produktion längst von anderen datenspeichernden
Medien abgelöst worden. In der Ausstellung entfalten sie, eingeschlossen
in mundgeblasenes Glas, ein poetisches Farbenspiel.

Auch wenn vielleicht nicht alle Arbeiten in gleicher Weise überzeugen,
ist Kahrs Gespür zu bewundern, scheinbar selbstverständliche kulturelle
Settings zu identifizieren und aufzulösen. Weil sie alltägliche
Praktiken und Traditionen zu unerwarteten und vergnüglichen
Konstellationen kombiniert, laden ihre Arbeiten dazu ein, Konventionen
wahrzunehmen und zu variieren. Kahrs wird als eine Künstlerin sichtbar,
die sich spielerisch und mit Humor zentralen Themen der Gegenwart
widmet. Dazu gehört zuallererst die Frage, wie Kommunikation und
Zusammenleben im unsicheren 21. Jahrhundert gelingen können.