Die Autorin Ingeborg Gleichauf begibt sich auf die Spur der Dichterin Gertrud Kolmar und porträtiert in „Alles ist seltsam in der Welt" eine vielseitige Schriftstellerin, die uns auch heute noch viel zu sagen hat. Faust Kultur gibt einen Einblick in das Porträt, der mit einem Gedicht aus Kolmars letztem großen Gedichtzyklus „Welten" beginnt.
Gertrud Kolmar (1894–1943) gilt als
bedeutende deutschsprachige Dichterin. Trotz ihres großen Ranges ist die
jüdische Schriftstellerin jedoch bis heute nicht ausreichend gewürdigt
worden. Kolmar hat Gedichte, Dramen und Prosa geschrieben und ein
spannendes Briefwerk hinterlassen. Ihr literarisches Werk wie auch ihre
Briefe sind mittlerweile gut zugänglich, und sie zeigen ein vielseitiges
Bild. Gertrud Kolmar ist eine radikale Dichterin, die in keine
Kategorie passt. Sie schreibt zart und hart, poetisch, prosaisch,
dramatisch, lässt Frauen und Männer, Tiere, Pflanzen und Dinge sprechen.
Sie schreibt über Ankommen und Weggehen, Stillstand und Bewegung, über
Frau-Sein, Mann-Sein und Kind-Sein, Pflanzen und Tiere, Krieg und
Frieden, Fremdheit und Nähe. Und sie tut das nicht nur wortgewaltig und
voller starker Bilder, sondern zuweilen sogar komisch bis hin zum
Grotesken.
Was scheltet ihr mich?
Was spottet ihr mein?
Weil meine Welt flach ist, wenig Schritt im Geviert,
engumbaut,
Voll ruhmlos kleinlicher Dinge, geringfügiger
Verrichtungen,
Erfüllt vom Klappern der Näpfe, Brodeln der Töpfe,
den häßlichen Dünsten schwitzender Fette,
überschäumender Milch?
Weil ich bauchige Mehltonnen hebe, Gewürzbüchs-
chen öffne, Muskatnuß reibe,
Kräuter wiege, in gläserne Schale Saft der Zitrone
presse, goldgelbes Dotter in blauem Becher
zerquirle?…
Ja,
Wißt ihr denn, was die türkische Kaffeemühle
in Sarajewo sah
Und im böhmischen Eger mein Krug, leuchtend
Weißtupfig-rot wie Fliegenpilze des Waldes?
Wißt ihr,
Daß für mich große schwarzrauchende Schiffe
alle Meere
Befahren, mit Fracht aller Küsten sich schleppen…
All die Tätigkeiten, die Dinge, die Kolmar beschreibt, evozieren jeweils
eine Welt. Aus der Mitte eines scheinbar „kleinen“ Lebens erheben sich
Welten. Die vielen Küchen-Zutaten dienen zudem dazu, dem Geliebten zu
dienen und ihm eine schmackhafte Mahlzeit zu bereiten. Auch das eigene
Ich ist viel mehr als nur eine Welt, es ist ein Weltteil, ein Kontinent.
Und was es heißt, als Kontinent in ein kleines Leben gestellt worden zu
sein, permanent an Grenzen zu stoßen, sich nicht ausleben zu können,
beschäftigt Kolmar nachhaltig und lebenslang. Die Dichterin ist nicht
nur ein Kontinent, sie ist auch der Ostwind, das Finstere, der Himmel,
die Erde. Sie spricht Rätselhaftes aus: Ich bin der Mensch –
auch wenn ich meine Seele von mir scheide.
Gertrud Kolmar, die Dramatikerin, Gertrud Kolmar, die Lyrikerin, Gertrud Kolmar, die Prosaautorin: Schon in der Unterscheidung der Genres tun sich Welten auf. Kolmar bewohnt alle drei oder wird von ihnen bewohnt. Und, nicht zu vergessen: Sie ist auch eine sensible Briefeschreiberin. Da ist der Mensch, die Frau, die mit den Töpfen und anderen Haushaltsutensilien hantiert, andere bekocht, sich sorgt, liebt, leidet. Und da ist die Dichterin, die auch Alltagsmensch bleibt, und doch, wie sie schreibt, ihre Seele von sich weg scheidet und in ihre Werke hinein neu erschafft. All die Gestalten, denen wir in ihrem Werk begegnen, haben Anteil an der Dichterin, die sich mit ihnen Bildnisse ihrer selbst oder Gesprächspartnerinnen und -partner erschreibt. Jedes Gedicht, jedes Drama und jede Erzählung, sie alle sind mehr als ein Bild der Person, der Frau. In ihrem Werk ist sie die andere, ausgesetzt, Tänzerin, Gauklerin, Landstreicherin, eine Fremde, die sich in den rätselhaften Welten, den schillernden Figuren, die sie imaginiert, zugleich versteckt und zeigt.
Damit ist eine Spur gelegt, ein Hinweis auf den zu begehenden
Weg. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben sich mit
Einzelperspektiven in Leben und Werk Gertrud Kolmars beschäftigt, sind
schwerpunktmäßig vorgegangen. Dabei haben sie wichtige Erkenntnisse
hervorgebracht. Dieses Buch verfolgt einen anderen Ansatz: Im
Vordergrund dieses Porträts steht die Frage, was es heißt, Kolmar zu
lesen, in einen Dialog zu treten mit ihren Texten und über die Texte mit
ihrem Leben, einzig vermittelt durch das, was ich als Lesende, als
Lesender an Vorwissen, an biografischem Hintergrund, an Erwartungen
mitbringe, die ich immer neu zu hinterfragen habe.
Morgenwind. Leise schauernde Halme. Feuchte.
Und ein winziger reglos hockender Frosch, der aus
grüner Bronze geformt ist.
Und eine Seejungfer, stahlblau mit gläsernen Flügeln,
Sirrt dahin. Mich fröstelt …
Weiden wie badende Fraun neigen die Stirnen,
fahlblond
Rieselndes Haar dem Teich.
Aus: Dienen in Kolmar, Gertrud: Das lyrische Werk.
Gedichte 1927-1937. S. 512-533.
Textauszug aus „Alles ist seltsam in der Welt. Gertrud Kolmar. Ein Porträt“. Von Ingeborg Gleichauf (AvivA-Verlag, 2023)
Der jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar zum 80sten Todestag