Beide, die sowjetische Diktatur und die Diktatur des Geldes, beschneiden den Menschen die Lebenschancen. Wie das geschieht, beschreibt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ anhand der Lebensläufe von fünf Frauen aus drei Generationen vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Marion Victor ist von der erzählerischen Kraft des Buches beeindruckt.
Das Leben von fünf Frauen aus drei Generationen, ihre Träume, Anstrengungen und Ängste, stehen im Mittelpunkt des zweiten Romans von Sasha Marianna Salzmann. Da ist Rita, die trotz bester Noten nicht studieren durfte – nämlich Medizin –, und nun in einem Chemiewerk arbeitet. Da ist Lena, ihre Tochter, die es unbedingt schaffen muss, Medizin zu studieren, dann aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Mann und Tochter in die Bundesrepublik auswandert und nun als Krankenschwester die Familie finanziert, weil ihre Zeugnisse in Deutschland nicht anerkannt werden. Da ist ihre Tochter Edita, die sich Edi nennt und die Erwartungen der Mutter nicht erfüllen will. Und da ist Tatjana, die schwanger ihrem deutschen Freund nach Berlin folgt und bald feststellt, dass seine Versprechungen und ihre Träume keinen realen Boden haben. Und schließlich ist da Nina, ihre Tochter, die sich abkapselt und ihre Informationen hauptsächlich aus dem Internet zu beziehen scheint.
Und doch sind es drei schmale Kapitel zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Romans, in denen Nina erzählt. Nur ihr billigt Sasha Marianna Salzmann zu, „ich“ zu sagen. Ihre Perspektive auf die Geschichte, ihr Befremden den Geschichten wie den Geschehnissen gegenüber und gleichzeitig ihre Wahrnehmung wie ihr Wille, die Vorgänge zu verstehen, bleiben trotz der Rückblenden und Perspektivwechsel bestimmend für den Ton des Romans. Die Kapitel über Lena, Edi und Tatjana rücken, obwohl sie mit großer Empathie ausgestattet sind, damit in eine Distanz, die auch dem Leser wie der Leserin einen forschenden Blick auf die Personen ermöglicht.
Den größten Raum nehmen die Geschichte von Lena und ihrer
Tochter Edi ein. Es beginnt in den 70er Jahren in der Sowjetunion. Der
Wille Ritas, dass Lena das erreichen soll, was ihr verwehrt wurde,
bestimmt ihr Handeln. Korruption ist der einzige vielversprechende Weg
sowohl bei der Karriereplanung, dem richtigen Pionierlager, dem
Studienplatz und auch bei den notwendigen Medikamenten. Weder gibt es
eine angemessene medizinische Versorgung, noch wird die eigene Leistung
anerkannt, einzig die Anzahl der Scheine im Briefumschlag oder die
Qualität der Spirituosen hat einen Wert. So gibt es für Lena mit dem
Schulbeginn keine Sommerferien mehr bei der Großmutter in Sotschi,
sondern das Pionierlager „Kleiner Adler“. Zu ihrem Glück lernt sie dort
Aljona kennen, die ebenso wenig zu bändigen ist wie ihr schwarzer
Haarschopf. Über die Jahre entsteht eine innige Freundschaft zwischen
den beiden. Sie endet abrupt mit Beginn des Studiums. Lena beendet es
mit Erfolg, auch wenn sie nicht in der Neurologie, wie sie gerne wollte,
sondern in der Dermatologie landet. In der Klinik hat sie Glück, sie
bekommt die Privatpatienten. Die Honorare, der damit verbundene
materielle Erfolg passt in die Welt der zerfallenden Sowjetunion, in der
es endgültig keine Werte mehr gibt. Sie werden noch nicht einmal mehr
vorgetäuscht. Abchasen, Georgier, Tschetschenen, Ukrainer, Russen –
alle kämpfen gegen alle. Eines Tages taucht in ihrer Praxis der
Tschetschene Edil auf. Sie verliebt sich in ihn. Aber eine Ehe kommt für
ihn nicht in Betracht, auch nicht, als sie schwanger ist. Also stürzt
sie sich in die Ehe mit Daniel, der sie an ihren Lieblingssänger
erinnert und nur in jüdischen Witzen sich äußert. Als ihre Tochter Edita
zur Welt kommt, scheint alles in Ordnung, bis Edita krank wird und Lena
in einem nicht funktionierenden Krankenhaus um das Leben der Tochter
kämpft. Danach steht es für sie fest, sie werden, was sie bisher als
abwegig abgetan hatte, nach Deutschland auswandern.
Der zweite Teil des Romans wird von der Geschichte Edis dominiert, die,
inzwischen erwachsen, versucht, sich ein eigenes Leben in Berlin
aufzubauen. Unter keinen Umständen will sie wie die Eltern nach einem
vorbestimmten Plan leben. Noch ist sie nur Volontärin in einer
Redaktion. Für die Redaktion ist vor allem ihr Migrationshintergrund
interessant. Darüber, über ihre Leute, soll sie berichten. Die dringende
Einladung zum 50. Geburtstag ihrer Mutter, in Jena zu erscheinen, kommt
gerade recht. Sie packt Tatjana, die beste Freundin ihrer Mutter ins
Auto, und sie fahren los. Mit der Frage Edis nach den Männern in
Tatjanas Leben, beginnt der Rückblick auf Tatjanas vergebliche Versuche,
ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ihre Träume hat sie längst
begraben.
Alles muss herrlich sein – und dabei ist hier nichts herrlich – bis auf die unbedingte Lebendigkeit der Personen und die Kraft der Erzählung.