„Auf, Griechen, treu vereint/ In Waffen auf den Feind!/ Bis sich wie eine Flut/ Ergießt sein rotes Blut./ Verachtung dem Tyrannen/ Und Haß dem Türkenjoch!“ schrieb Lord Byron 1811. Der Aufstand der Griechen gegen die Herrschaft der Osmanen wurde nicht nur von Byron, Hölderlin und Wilhelm Müller mythisch überhöht. Der österreichische Schriftsteller Richard Schuberth hat mit „Lord Byrons letzte Fahrt“ eine Geschichte des griechischen Unabhängigkeitskrieges geschrieben, die John Morrissey empfiehlt.
Historische Ereignisse faktenkundig, interpretationsfreudig und bei hoher literarischer Qualität leicht lesbar darzustellen ist keine leichte Aufgabe. Gerade im deutschen Sprachraum finden sich zahlreiche Beispiele von Geschichtsbüchern, die diesen Spagat nicht schaffen: Sie sind entweder prall angefüllt mit Details und originellen sowie für Fachleute diskussionswürdigen Erklärungen – lassen sich aber trotz ihrer Qualität nicht nur von Laien sprachlich schwer verdauen. Andere schaffen es zwar, das Publikum dank Fabulierlust zu fesseln, vernebeln aber durch unangemessene Simplifizierung und mangelnde Wissenschaftlichkeit den Blick auf historische Abläufe anstatt ihn zu schärfen.
Die Balance zwischen Faktendichte, feiner (manchmal auch widerborstiger) Erklärungsgabe und elegantem Umgang mit Sprache schafft aber Richard Schuberth in seiner Darstellung des Griechischen Unabhängigkeitskrieges. Die Leichtigkeit, mit der Schuberth Geschichte und Geschichten erzählt, wurzelt wohl auch in seiner Vielseitigkeit als Autor: Er schreibt Romane, Theaterstücke sowie politische Kommentare – wobei er zwischen Komödie im Sinne Johann Nestroys und Furor in der Tradition eines Karl Karl Kraus oszilliert. Dieses Talent kann einem Buch über ein hochkomplexes und ideologisch überfrachtetes Thema nur gut tun.
Denn der Griechische Unabhängigkeitskrieg ist fraglos eine ideale Projektionsfläche für Revolutions-Romantiker, Hellenismus-Nostalgiker, Ethnizitäts-Theoretiker, Kreuzzugs-Rhetoriker, Islamophobe und Nationalismus-Freaks. Schuberths Werk zielt jedoch darauf ab, ideologisierende historische Interpretationen einer ‚nationalen‘ Geschichte zu dekonstruieren: Wer waren überhaupt, von ihrer gesellschaftlichen Position her betrachtet, jene Menschen, deren Kampf so viele Europäer inspirierte (Warlords, Banditen, Großgrundbesitzer, urbane Kaufleute, Bauern, Intellektuelle)? Wie sind sie ethnisch oder kulturell einzuordnen (Slawen, Juden, Albaner, Walachen, Griechen, Türken)? Wer waren jene Philo-Hellenen, die voller Enthusiasmus nach Griechenland reisten (Idealisten, Romantiker, Narren, Hochstapler, Kriegsgewinnler)? Besonders interessant dabei: Wie nahmen die in aller Welt gefeierten ‚Griechen‘ ihre Unterstützer wahr? Und welche Eindrücke hinterließen die Glorifizierten dann tatsächlich auf ihre Unterstützer? Ich möchte nicht einige der schönsten Stellen des Buches vorwegnehmen, aber das sei hier erwähnt: Das gegenseitige kulturelle Unverständnis konnte einerseits zu äußerst komischen Situationen führen, andererseits barg es auch die Gefahr exzessiver Gewalttätigkeit. Dazu schreibt Lord Byron: „Wenn ich die Folgen dieses Feldzugs überleben sollte …, werde ich zwei Gedichte über dieses Thema schreiben, ein episches und ein burleskes, und darin werde ich niemand schonen und mich weniger als irgend jemand anders …“ (S.12)
Verehrerinnen und Verehrer Lord Byrons müssen gewarnt werden:
Wer sich eine übermäßige Präsenz des Paraderomantikers erwartet, wird
wohl enttäuscht werden. Er steht nicht im Zentrum, sondern begleitet uns
quasi als Leitmotiv durch das Buch. Doch gerade bei diesen eher
sparsamen Auftritten gelingen Schuberth elegante Skizzen der
widersprüchlichen Persönlichkeit des titelgebenden Helden: Ein Mann mit
„Hang zu tragischem Pathos, stets in Allianz mit dem Hang zu dessen
ironischer Zerstörung“ (S.11). Ein heroischer Idealist, dessen
Einschätzung der gesellschaftlichen und politischen Lage in
Griechenland erstaunlich realistisch war. Nicht weniger gelungen ist
Schuberths Porträt eines anderen bis heute verklärten Romantikers: Percy
Bysshe Shelley.
Ebenso überzeugend wie die Beschreibung einzelner Protagonisten (sie
alle aufzuzählen würde den Rahmen dieser Rezension sprengen) ist
Schuberths Darstellung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
politischen Situation in Griechenland. Dazu kommt die Auswirkung des
Unabhängigkeitskrieges auf ganz Europa. Wenig bekannt ist dabei, dass
der Krieg durch englische Investoren finanziert wurde, denen ordentliche
Renditen winkten. Schuberth widmet dem skandalumwobenen Kreditgeschäft
drei Kapitel, deren Überschriften für sich sprechen: „Idealismus mit
Eigennutz“, „Korsaren des freien Marktes“ sowie „Bevormundung durch
Missmanagement.“ Kriegsgewinnler und Großspekulanten sind also keine
Erfindung des 20. oder 21. Jahrhunderts.
Das Buch bietet nicht wenige überraschender Einblicke dieser Art: Etwa das Engagement einiger junger US-Amerikaner, die sich sehr bald den Ruf tollkühner Kämpfern erwarben (selbst bei den wildesten einheimischen Briganten), sich dann aber zu karitativen Helfern entwickelten. Sie „widmeten sich mit noch mehr Heldenmut dem Schicksal der wahren Leidtragenden dieses Krieges, der hungernden, gejagten und entwurzelten Zivilbevölkerung, den Vertriebenen Kleinasiens und den bäuerlichen Flüchtlingen.“ (S. 434) Bezeichnenderweise widmeten sich zwei dieser Yankee Daredevils, Samuel Howe und Jonathan Miller, nach ihrer Rückkehr in die USA dem Kampf gegen die Sklaverei und für Frauenrechte.
Ebenso überraschen mag die Rolle von griechischen Kaufleuten, von denen es zwei wichtige Gruppen gab: Einerseits jene auf der Insel Chios oder im kleinasiatischen Smyrna lebenden Händlerfamilien. Andererseits das walachische Bürgertum im Nordwesten des griechischen Festlands, wo sich veritable Kaufmannsrepubliken entwickelt hatten (in Makedonien, Epiros und Thessalien), die an die Stadtrepubliken Italiens im Mittelalter und in der Renaissance erinnern. Sie orientierten sich an Lebensstil, Bildungsidealen, ökonomischem Denken und politischen Ideen des westlichen Europas. Formell unterstanden sie weiterhin dem Sultan, der ihnen aber (im Bewusstsein ihrer wirtschaftlichen Stärke) Autonomie garantierte. Diese urbanen Enklaven inmitten einer oft archaisch anmutenden Agrargesellschaft waren nicht nur wirtschaftlich erfolgreich – sie galten auch als Zentren der Aufklärung.
Wie bei den Yankees und Walachen gelingt es Schuberth auch am Beispiel anderer ethnischer, religiöser oder sozialer Gruppen, die vielfältigen Facetten und Widersprüche des ‚griechischen‘ und ‚osmanischen‘ Griechenlands aufzuzeigen. Oft teilten sogenannte Griechen mehr Interessen mit sogenannten Türken als mit ihren angeblichen ‚hellenischen‘ Landsleuten. Bezeichnenderweise tobten innerhalb des von 1821 bis 1829 dauernden Befreiungskampfs auch zwei Bürgerkriege.
Was ich dem Autor besonders hoch anrechne: Trotz des Panoptikums seiner Protagonisten (Exzentriker, Idealisten, Menschenfreunde, Romantiker, Mörder, Intriganten, Zyniker, Heuchler und so weiter), gerät er nie in Gefahr, aus der Schilderung dieser Menschen eine Freak Show zu machen oder Klischees auszubreiten. Dabei gäbe es zahlreiche Charaktere, für deren Rollenbesetzung bei einer Verfilmung wohl nur Johnny Depp oder Klaus Kinski in Frage kämen. Trotz der Freude am lebendigen Erzählen und an der pointierten Beschreibung bleibt das Buch sachlich, mehr noch: es ist auch im wissenschaftlichen Sinn ein ausgezeichnetes Werk. Das zeigt sich besonders anschaulich an den elegant eingeflochtenen wirtschaftshistorischen Hintergründen des Krieges.
Widerspruch verdient allerdings der Verlagstext auf dem Cover:
Ich sehe das Buch nicht „als epische Tragikomödie“, obwohl es so viele
komische Episoden und noch mehr tragische Szenen zu bieten hat. Vielmehr
ist Lord Byrons letzte Fahrt ein Musterbeispiel
dafür, wie man empathisches und literarisches Schreiben mit exakter
Analyse in Einklang bringt. Schuberth zeichnet treffende Bilder der
zahlreichen Protagonisten des Griechischen Unabhängigkeitskrieges und
lässt dabei keinen Zweifel aufkommen, wem seine Sympathie gilt: Den
Opfern – von der Zivilbevölkerung bis zu Lord Byron selbst.
Hoffentlich erscheint dieses Buch bald auch in anderen Sprachen – allen
voran auf Türkisch und Griechisch.