Bei ihm fährt man noch in Kutschen, und Wanderschnitter singen noch Lieder. Denn seine Erzählungen spielen in einer Zeit, da Vergangenheit und Gegenwart ineinandergriffen. Der russische Schriftsteller Iwan Bunin (1870-1953) gehört zu den Großen seines Landes und sah sich zu seinem Leidwesen dennoch gezwungen, das Exil zu wählen. So unerwartet aktuell sein Schicksal ist, so eindrucksvoll präsentiert sich seine zeitlose Prosa. Volker Strebel hat die 28 Erzählungen „Nachts auf dem Meer“ gelesen.
Eigentlich war gar nichts weiter passiert. Zwei Reisende hatten während einer Kutschfahrt Rast eingelegt und in einem etwas heruntergekommenen Gasthaus einen schlechten Kaffee getrunken. Ein zerlumpter Bettler hat mit durchdringender Stimme ein Lied über einen gewissen Temir-Aksak-Khan angestimmt, in welchem die Abgründigkeit des Lebens, die Weisheit und Vergänglichkeit besungen werden. Über die Wange der eleganten Dame aus der Kutsche rollen ein paar Tränen – und die Reisenden steigen wieder ein und fahren weiter.
An derlei kurzen Erzählungen erweist sich die erzählerische
Kraft von Iwan Bunin, der es meisterhaft versteht, Stimmungen
wiederzugeben. Das nicht Abbildbare, das sich in geschilderten
Begegnungen oder Situationen einstellt, gerät in Bunins kräftiger Prosa
in Bewegung, ergreift den Leser mit einem unbestimmten Zauber. An den
besten Stellen scheinen Bunins Erzählungen zum Atmen zu kommen.
Der bereits in jungen Jahren vielgereiste Bunin entfaltet die Szenerien
der vorliegenden 28 Erzählungen, zwischen 1920-1924 entstanden, vor
unterschiedlichen geographischen Kulissen. Neben Paris, wohin es ihn im
Exil verschlagen hatte, kehrt er aber in seinem Schaffen mit Vorliebe in
sein geliebtes Russland zurück, in welchem er die ersten fünfzig Jahre
seines Lebens verbracht hatte. Im Exil hatte Bunin 1933 als erster
russischer Schriftsteller den Literatur-Nobelpreis erhalten.
„Die Schnitter“ evoziert Erinnerungen an eine Kindheit in der russischen Provinz und längst vergangene Lebensweisen. Als Wanderarbeiter verdingten sich die Schnitter ihren Unterhalt und mähten mit der Sense Gras. Wie in einer organischen Einheit sangen sie dazu ihre Lieder und im Erzähler werden Erinnerungen geweckt: „Der Zauber lag in der unbewußten, aber ureigenen Verbundenheit, die zwischen ihnen und uns und zwischen ihnen, uns und dem fruchtbaren Feld um uns bestand, in der Feldluft, die sie und wir seit Kindheit atmeten, in der spätnachmittaglichen Stunde, in den Wolken vor dem schon rosa leuchtenden Sonnenuntergang, in diesem frischen, jungen Wald voll hüfthohen Honiggrases, mit zahllosen Blumen und Beeren, die sie fortlaufend pflückten und aßen, und in dieser Landstraße, in ihrer Unermeßlichkeit und ihrer unberührten Weite“.
Obwohl Bunin auf dem Lande aufwuchs, entstammte er nicht der
bäuerlichen Welt. Zeitlebens pflegte er das kulturelle Erbe seiner
adeligen, wenn auch verarmten Herkunft. Das Figurenensemble seiner
Erzählungen umfasst vereinsamte Greise, kauzige Sonderlinge und
verkrachte Offiziere ebenso, wie tragische Schicksale oder
Gottesnarren.
Im Zusammenspiel von plastischer Beschreibung mit sinnlicher Wahrnehmung
von Düften, Farben und Tönen läßt Iwan Bunin alle weltanschaulich oder
kunsttheoretisch ausgerichtete Programmatik hinter sich. Weder gibt er
sich idealisierender Nostalgie hin, noch stellt er sich in den Dienst
weltanschaulicher Heilsbringer. Bunins künstlerische Leistung liegt im
Zusammenspiel genauester Beobachtung und treffender Beschreibung. Die
unabsehbare Vielschichtigkeit menschlicher Empfindungen und Regungen
korrespondiert in Bunins Prosa mit der Komplexität einer umfassenden
Wirklichkeit. So führt Bunin einen ungefilterten Realismus vor, welcher
in tiefster Dankbarkeit das Schöne verherrlicht, ohne Schwächen und
Verletzlichkeit der menschlichen Existenz zu vernachlässigen.
Bunins geschmeidigen Erzählungen leben von seiner Fähigkeit,
das Erhabene altehrwürdiger Traditionen mit zersplitternden
Momentaufnahmen der Moderne in eine lebendige Verbindung zu
bringen.
Als glühender russischer Patriot verabscheute Bunin den
bolschewistischen Zivilisationsbruch in seinem Land, welcher Russland
ins Unglück gestürzt und bis in die heutige Zeit hinein gesellschaftlich
vergiftet hat.
Seine Flucht aus dem bolschewistischen Russland führt ihn zunächst über das Meer nach Konstantinopel. Auf atemberaubende Weise wird in der Erzählung „Das Ende“ die abenteuerliche Dampferfahrt beschrieben. Inmitten des allgemeinen Chaos im nächtlichen Sturm auf der überladenen „Patras“ voller Elend und Leid fährt es dem Passagier mit einemmale schlagartig durch die Knochen, und hellwach konstatiert er, daß es mit Rußland zu Ende geht und seinem bisherigen Leben ein endgültiger Abschluß auferlegt ist: „Das Ende, das Ende!“.