Am 3. Juni 1924 ist Franz Kafka 100 Jahre tot. Aber so ganz tot kann er gar nicht sein, wenn unentwegt von ihm die Rede ist, von seiner existentiellen Verzweiflung, seiner problematischen Liebe, seinen absurden Geschichten und seinem abgründigen Humor. Der Fotograf Helmut Schlaiß hat Bilder seines Lebensumfeldes gemacht, ein schönes, ja ein edles Bilderbuch, meint Martin Lüdke, das mehr verspricht als es halten kann.
Sie waren jung. Sie trugen lange, schwarze
Rollkragenpullover, dazu noch, obwohl unnötig, lange, sehr lange und
ebenfalls schwarze Schals, sie bewegten sich, Frankfurt als Beispiel
genommen, vorzugsweise zwischen der Hauptwache und der Kleinen
Freßgass, dort am späteren Nachmittags auch vor oder im sogenannten
Jazz-Haus (gesprochen Jatts – Haus), abends, unweit davon, im
sogenannten Domizil. Sie nannten sich Existentialisten, hatten aber
wahlweise Taschenbücher von Camus oder, noch beliebter, die
Fischer-Ausgaben von Franz Kafka in den Taschen. Kafkas Türhüter als
Türöffner, statt Mitgliedsausweis.
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Der Verleger, Autor, Lektor, Sammler und Verehrer Franz Kafkas, die
unlängst mit 91 Jahren in Berlin gestorbene Verkörperung eines Menschen,
der mit, in, für und durch die Literatur gelebt hat, Klaus Wagenbach,
eine bewundernswerte Gestalt, hat sich sein Leben lang mit Kafka
beschäftigt. Er hat Bücher über Kafka geschrieben, über Kafkas Leben,
sein Werk, seine Welt. Er hat gesammelt, was es da zu sammeln gab. Und
er galt früh schon, wohl ab den sechziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts als Instanz in Sachen Kafka. Wenn irgendwelche Jubiläen
anstanden, das deutsche Feuilleton wusste, an wen es sich wenden konnte.
Nur, sagte er mir vor Ewigkeiten einmal, man suchte im Grunde immer nur
das eine Bild: den Leidens- und Schmerzensmann Franz Kafka. Einen
lachenden Kafka hätte man fast schon empört zurückgewiesen. Der passte
nun so gar nicht in das Bild, das man sich von Kafka gemacht und über
Jahrzehnte konserviert hatte.
„Kafkas Kosmos“, der jetzt bei Manesse in geschmackvoll edler
Ausstattung herausgebrachte Bildband von Helmut Schlaiß, knüpft wieder
an die alte Tradition an, die der schwarzen Schals und einer
entsprechend grundierten Lebensgefühl.
Man kann vielleicht darüber streiten, in welcher Richtung die kleine
Geschichte „Gib’s auf!’ von Kafka zu deuten ist. Es ist ja seine
unübertroffene Stärke, dass sie in keiner Deutung restlos aufgeht.
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Es war früh am Morgen, die Straßen rein und leer. Ich ging zum
Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr vergleich, sah ich, dass
es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr
beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher
werden. Ich kannte mich in der Stadt noch nicht sehr gut aus,
glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und
frage ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: ‚Von mir willst
du den Weg erfahren?’ ‚Ja, sagte ich, da ich ihn selbst nicht finden
kann’, ‚Gib’s auf’, ‚gib’s auf“, sagte er und wandte sich mit einem
großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein
wollen.“
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Aber egal, in welche Richtung man auch tendiert, ob geographisch,
theologisch, existentialistisch, ja, wie auch immer, es bleibt das
vermutete, zumindest mögliche Lachen des Polizisten, das dieser Episode
alle Bitterkeit und Schärfe nimmt und im schlimmsten Fall zu der
Erkenntnis führt: das Leben ist halt ein Witz.
Die, im Einzelnen wie in ihrer Gesamtheit, durchaus überzeugenden
Bilder, Prager Häuser und Hinterhöfe, Straßen, Gassen, Hofeingänge und
Details wie Fensterbögen oder Türschlösser, menschenleer, nachts, am
späten Abend oder frühen Morgen aufgenommen, alles schwarz-weiß, das
heißt: vor allem dunkel, diese Bilder provozieren in ihrer Konzeption
einen entschiedenen Widerspruch. Die Grundfarbe ist schwarz. Zuweilen,
aber eigentlich sehr selten, dürfen auch mal Grautöne dominieren. Aber
die Stimmung bleibt düster. Das heißt, anders gesagt, der lachende Kafka
hat in dieser Welt, die hier als „Kafka Kosmos“ vorgestellt wird,
keinen Platz. Das heißt, die Absicht, „Kafkas Lebens- und Gedankenwelt
des Prager Weltdichters“ mit den Mitteln der Fotografie, und zwar
„künstlerischer Schwarz-Weiß-Fotografie zu reflektieren“, muss an dem
für sie konstitutivem Widerspruch scheitern. Die notgedrungen düstere
Welt, die von Helmut Schlaiß überzeugend präsentiert wird, ist eben
nicht „Kafkas Kosmos“, sondern nur das Abbild der existentialistischen
Nachkriegsvariante, die über Jahrzehnte unser Bild des Prager Dichters
geprägt hatte und in den letzten Jahrzehnten, dank der imposanten
Kafka-Forschung und einer gewaltigen Editions-Maschinerie entsprechend
korrigiert worden ist. Zum Glück. Kafka muss nicht mehr als
Religions-Ersatz herhalten. Er darf für sich stehen.
Die düstere Welt von „Kafkas Kosmos“ führt ihn aber zurück in die
Nachkriegsjahre. Gott war weg. Kafka war da. Auschwitz auch. Die
Hoffnung weg.
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Also: Nehmen wir das schöne, wirklich edle Buch, in der Gewissheit, dass
alles mit allem zusammenhängt, in der Hoffnung der Hoffnungslosen –
dafür haben wir ja Walter Benjamin. Und der hatte seinen Kafka.
Der Prachtband „Kafkas Kosmos“ wirkt als eine Erinnerung an längst
vergangene Zeiten. Wie Kafkas Geschichten? Oder wie deren einstige
Lesart?
Die beigefügten Zitate, teils neben, teils unter den Bildern platziert,
wirken entsprechend. Ihre Herkunft bleibt nämlich verschlüsselt, etwa,
in winziger Schrift: NSF, II,
562.
Etwa: „Die Religionen verlieren sich wie die
Menschen.“ Dazu ein Straßen- oder Brückenbild im dichten
Nebel. Menschenleer. Auffallend viele Fotos zeigen Fenster, offen oder
geschlossen, öfter dunkel als beleuchtet. Fast alles menschenleer. Ein
einziges Fenster, sogar hell beleuchtet, im obersten Stock eines
mondänen Wohnhauses, dicht an eine Kirche angelehnt, lässt inmitten der
Dunkelheit, die dieses Fenster umgibt, natürlich die Gedanken von
Verloren- und Verlassenheit aufkommen. Dazu bedarf es keiner erklärenden
Worte von Kafka. Im Gegenteil. Und erst recht bedarf es nicht der
Aufforderung, „bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht
einmal, warte nur“ usw.
Kurzum: es ist ein richtig schönes Buch des nächtlichen Prag. Schöne
Bilder. Es ist ein Bilderbuch der Stadt, in der Kafka geboren wurde, er
der er gelebt, gearbeitet und, meistens tatsächlich nachts, geschrieben
hat. Mit Kafka hat es eigentlich nicht viel zu tun. Denn die vielen
Zitate, die neben den Bildern oft reichlich Platz gefunden haben, haben
wiederum nicht viel mit den Bildern zu tun.
Der Verzückte und der Ertrinkende, beide heben die Arme. Der
Erste bezeugt Eintracht, der Zweite Widerspruch mit den
Elementen.
Es bleiben Rätsel. Das ist ja nicht so selten bei Kafka.