Omas Kiste birgt Geheimnisse. Nach ihrem Tod findet sich darin auch ein goldener Kelch mit hebräischen Schriftzeichen. Die Fragen, die sich danach stellen, wurden auch bei der Vorstellung des Buches „Der Hochzeitskelch“ im Frankfurter „Metropol am Dom“ nicht alle beantwortet. So ein Roman will ja auch gelesen werden. Doris Stickler berichtet, worum es darin geht.
Ihre Schränke und Kisten hielt Oma
Luise stets unter Verschluss. Auch gegen Umbau- oder
Renovierungsarbeiten sperrte sie sich vehement. Nun ist die Herrscherin
des Hauses gestorben und die Entrümplung der Räume angesagt. Im
Schlafzimmer machen ihre Enkelkinder Sabine und Andreas eine
spektakuläre Entdeckung. Die Oma hatte unter ihrem Bett eine alte
Holzkiste versteckt, in der sie einen goldenen Kelch mit Symbolen und
hebräischen Schriftzeichen verbarg. Ein wertvolles Stück, das Andreas
umgehend verkaufen möchte. Er führt das rheinhessische Weingut der
Familie weiter und schlägt sich mit finanziellen Problemen herum. Seine
Schwester will dagegen herausfinden, was es mit dem Kelch auf sich. Er
könnte am Ende gar Raubkunst sein.
Andreas stimmt schließlich wiederstrebend zu, dass Sabine den Kelch
ihrem Nachbarn Ludwig Fromme in Frankfurt zeigt. Der renommierte
Historiker spürt in der Kiste noch ein Geheimfach mit einem Ring und
einem Döschen auf und ist sich gewiss: es handelt sich um einen
jüdischen Hochzeitskelch, ein sehr altes und überaus seltenes Exemplar.
Sabine und Fromme begeben sich auf Spurensuche, die sich als Begegnung
mit unerwarteten Familiengeheimnissen erweist. Unter anderem kommt
heraus, dass Oma Luise eine Liebschaft mit einem französischer Maler
pflegte, der der leibliche Vater von Sabines und Andreas’
Mutter ist. Überdies erfahren sie, dass die Großeltern während der
NS-Zeit eine jüdische Familie im Weinkeller versteckten, wo Frau
Rosenstein einen Sohn geboren hat. Allerdings viel zu früh, weshalb sie
das Kind Horst und Luise anvertraute, als sie und ihr Mann kurz darauf
zur Flucht gezwungen waren.
Mit ihrem Romandebüt „Der Hochzeitskelch“ legt Susanna Kallenberg eine fesselnde Geschichte vor, die es in sich hat. Seit zwanzig Jahren als Pfarrerin für interreligiösen Dialog in der Evangelischen Kirche Frankfurt und Offenbach engagiert, ging es ihr zum einen darum, die weitreichenden Folgen der NS-Gräuel aufzuzeigen. Wie sie bei der Buchvorstellung bedauerte, wird es „immer schwerer, Leute für das Thema zu interessieren – zumal es kaum mehr Zeitzeugen gibt“. Sie habe daher die „fiktiven, aber an wahre Begebenheiten anknüpfenden Handlungsstränge“ als Krimi verpackt. Das Genre berühre emotional und erzeuge eine Spannung, der man sich schwer entziehen kann. Zum anderen wolle sie mit dem Buch „Menschen ermutigen, die eigenen Familienhintergründe zu erforschen“.
Den Anstoß für das Werk gab Susanna Kallenberg letztlich die Corona-Pandemie. Als ihr Mann aus Schweden nicht nach Deutschland ausreisen konnte war und sie wegen der Ausgangssperre alleine zuhause saß, sei ihr die Idee zu dem „Zeitgeschichtskrimi“ gekommen. „Ich habe dann jeden Tag ein Kapitel verfasst. Schon als Kind habe ich sehr gern geschrieben und mir als Pfarrerin lange für Kindergottesdienste Geschichten ausgedacht.“ Die Orte der Handlung wie die facettenreichen Wendungen fußen im Kern auf eigenen Erfahrungen. „Der Hochzeitskelch“ spiele in Frankfurt und dem ländlichen Rheinhessen, wo sie früher als Pfarrerin tätig war. Dort hätten ihr „vor allem viele alte Frauen von Erlebnissen während der NS-Zeit und des Krieges erzählt.“
Ein reicher Fundus sind für Susanna Kallenberg zudem die
Pfarrchroniken gewesen. „Aus ihnen erfährt man viele Dinge über die
Vergangenheit.“ Im Buch verarbeitet sie denn auch etliche Auszüge, die
Einblick in die Geschehnisse der 1930er und 1940er Jahre gewähren. Die
Vorgänge seien natürlich fingiert, fußen aber auf realen Ereignissen.
Dass etwa ein Pfarrer seinen jüdischen Dorfarzt-Freund vor den Nazis
schützt, indem er ihn offiziell zum Protestanten macht, ist nicht völlig
aus der Luft gegriffen. Auf den fast 700 Seiten hat Susanna Kallenberg
die Rahmenhandlung mit einer Reihe von Nebenschauplätzen verwoben. So
wird aufgedeckt, dass Opa Horst schwul gewesen ist oder Sabines
Vermieterin – eine Jüdin der ersten Generation nach der Shoah – die
Tochter einer in ihrem Haus wohnenden türkischen Familie
unterstützt.
Historische Orte in Frankfurt und Rheinhessen spielen ebenfalls eine
Rolle. „Der Hochzeitskelch“ wurde nicht von ungefähr im Café Metropol
vorgestellt. An der Stelle stand einst die älteste Synagoge Frankfurts,
die bei Pogromen im 13. Jahrhundert zerstört worden ist. Wieder
errichtet und ein Jahrhundert später erneut dem Erdboden gleichgemacht,
wurde sie dann nicht mehr aufgebaut. Die Vorsitzende der hiesigen
Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Petra Kunik, hob an
dem Abend die Vielschichtigkeit des Buches hervor. „Es ist ein Roman
gegen das Vergessen, der mich emotional sofort ergriffen hat.“ Wie ihr
dürfte es allen Leser:innen des „Romans über Liebe, Entbehrung und gut
gehütete Familiengeheimnisse“ ergehen. Packend geschrieben, zieht die
Lektüre unweigerlich in Bann. Susanna Kallenberg führt mit ihrer
„empathischen Form der Erinnerungskultur“ auf faszinierende Weise ein
bis in die Gegenwart reichendes Stück Zeitgeschichte vor Augen. Ob der
Kelch am Ende in die Hände der wahren Besitzer gelangt, sei hier nicht
verraten. Zum Ausgang nur soviel: Weil es ein Krimi ist, geschieht noch
ein Mord, und Oma Luise wird sich aus dem Grabe melden und für ziemliche
Überraschung sorgen.