Eine Gesellschaft, die nur mit Haupt- und Nebenfiguren funktioniert, ist dem Untergang geweiht. Deshalb sind solche Menschen wie George Bailey, die kraft ihrer Persönlichkeit die vorgegebene Ordnung wohltuend durchdringen, so bedeutend. Die Kulturjournalistin Susanne Wiedmann hat dem Menschen und Korrepetitor eine Biografie gewidmet, die Walter H. Krämer empfiehlt.
Geschrieben und angeregt wurde die Biografie über George Bailey „Cranko, Haydée – und ich, George Bailey“ von der Kulturjournalistin Susanne Wiedmann. Ihr Portrait des Pianisten gelang deshalb so gut und kenntnisreich, weil ihr George Bailey Vertrauen und viel Zeit für Interviews schenkte. Außerdem erhielt sie Einblick in Tagebücher, seine Fotoalben und private Dokumente.
Das Buch erzählt ausführlich, was sein Ballett- und Privatleben
ausmachte und wird ergänzt durch Erzählungen prominente Weggefährtinnen
und Weggefährten wie Marcia Haydée („George Bailey hat nicht nur
Klavier gespielt. Er hat uns verstanden. Er hat uns Kraft gegeben.“),
Birgit Keil, Georgette Tsinguirides, Reid Anderson, Jean Christophe
Blavier, Tamas Detrich („Im Ballettsaal war mit George die Sonne da!“)
und Mark McClain. Und alle geben sie sehr persönliche und unbekannte
Einblicke in den Probenalltag und hinter die Kulissen des Stuttgarter
Balletts.
John Cranko, Choreograf und Gründer des Stuttgarter Balletts engagierte
George Bailey 1972. Und das obwohl Bailey weder ein klassisch
ausgebildeter Pianist noch ein Korrepetitor war und zu alledem auch noch
das falsche Klavierkonzert zum Vorspiel mitgebracht hatte.
Der Ballettchef fragte den Pianisten direkt danach, ob er nicht Korrepetitor bei ihm werden und von Heidelberg nach Stuttgart ziehen wolle. „Ich wusste nicht, was ein Korrepetitor ist“, erinnert sich George Bailey und er nahm das Angebot an. Diesen Beruf übte er dann solange aus, bis er sich 2013 im Alter von 69 Jahren nach 41 Jahren in den Ruhestand verabschiedet hat.
George Bailey begleitete als Pianist und Korrepetitor das Training, die Proben der Tänzerinnen und Tänzer. Mit seinem Spiel, seiner Zuneigung und Hingabe für das Ballett. seiner Liebe für die Tänzerinnen und Tänzer und einem schier unerschöpflichen Reservoir an Musikstücken eine einzigartige Atmosphäre und erleichterte allen die Arbeit. George Bailey kam immer als Erster zur Probe, setzte sich vor der vereinbarten Zeit ans Klavier und spielte die jeweiligen Lieblingslieder der Tänzerinnen und Tänzer, sobald diese erschienen.
Und er war nicht nur Pianist und Korrepetitor. Seine Ausstrahlung und sein schauspielerisches Talent brachten Choreografen und Choreografinnen dazu, ihm eigene Rollen zu schaffen: John Cranko im Schwanensee, Marcia Haydée in Giselle, John Neumaier in Die Kameliendame. Und er begeisterte mit seinem Spiel und seiner Ausstrahlung das Publikum.
Neben all dem Schönen, das das Leben des George Bailey, eines
Optimisten aus Überzeugung, ausmacht, gehören aber auch ernste Themen
wie Rassismus und Homophobie dazu.
1944 wurde George Bailey in eine afroamerikanische Musikerfamilie aus
Denver hineingeboren. Das Haus seines Großvaters war Treffpunkt der
bekanntesten Jazzmusiker wie Duke Ellington oder Count Basie. Bailey
studierte Grafikdesign und Musik, bevor er zum Militärdienst nach
Heidelberg kam. Auf der Party eines Stuttgarter Zahnarztes lernte Cranko
ihn kennen, den späteren „bunten Hund“ der Ballettfamilie, der es
liebt, rote Schuhe zu tragen, und auch oberhalb der Fußlinie gern farbig
dick aufträgt.
Im Sommer 1972 saß Bailey in der Ballettpause auf den Stufen vor der Stuttgarter Oper. Ein ebenfalls junger Mann schob sein Rad vorbei. Bailey sprach den Radler, der ihm gefiel, an. Zur zweiten Hälfte kehrte George nicht mehr in die Oper zurück. Stattdessen schloss sich der Pianist dem Radfahrer an – bis heute. Im Jahre 2022 sind die beiden – George Bailey und Albrecht Mayer – 50 Jahre zusammen – ein Zusammensein, das sie in den schwulenfeindlichen Zeiten der 1970er Jahre noch verstecken mussten. Albrecht Mayer ist, wie sein Lebensgefährte sagt, „der ordnende Ausgleich in meinem Künstlerchaos“.
Dass sich in Stuttgart früher als andernorts liberales Denken durchgesetzt hat, war auch ein Verdienst des Balletts und ihres 1973 viel zu früh verstorbenen Chefs John Cranko. Die Stadt liebte den charismatischen, experimentierfreudigen und offen schwul lebenden Vater des Ballettwunders.
Das Credo von Baileys Familie war: Bildung und Disziplin können einen gesellschaftlichen Aufstieg und – damit verbunden – ein besseres Leben ermöglichen. „Wir haben immer gewusst, wegen unserer Hautfarbe können wir es uns nicht leisten, mittelmäßig zu sein. Wir müssen besser sein als die Weißen, um die gleichen Chancen zu haben“, sagt George Bailey. Und doch habe er nie vergessen, was seine Mutter – die ihm übrigens Klavierunterricht erteilte, lange bevor er in Denver Kunst und Musik studierte – zu ihm sagte, als er noch ein Junge war: „George, es wird kein Tag vergehen, an dem du nicht an deine Hautfarbe erinnert wirst.“
Legendär seine Ausstrahlung und seine Kompetenz, seine musikalische und schauspielerische Begabung. Ballettchef John Cranko nannte ihn „Sunshine“. Der Tänzer Friedemann Vogel war überzeugt: „Die Welt wäre besser, würde es mehr Menschen wie ihn geben.“
Weltbekannte Choreografen wie John Neumeier und Maurice Béjart
wollten nur mit ihm als Pianisten arbeiten und sagen im Buch, warum.
Das Buch ist für alle Freunde und Freundinnen des Balletts –
insbesondere des Stuttgarter Balletts – ein schönes und lesenswertes
Zeitdokument, und es macht deutlich, worin die Ursachen für das
Stuttgarter Ballettwunder liegen und wie wichtig dabei besonders der
Umgang aller Beteiligten mit- und untereinander ist.
Portrait des Pianisten George Bailey