In Stummfilmen wurde die schnell vergehende Zeit gerne mit herabblätternden Kalendertagen bebildert. Und wie anderes Laub verwandelten sich die mit Sinnsprüchen, Katzen, Hunden und geschönten Landschaften bedruckten Blätter nach der hinweggerafften Lebenszeit in Abfall, – was aber nicht verhinderte, dass die Jahreskalender für den Abriss weiterhin begehrt sind. Martin Lüdke hat einige von ihnen gesichtet.
Kalender strukturieren die Zeit. Man darf sie nur nicht allzu ernst nehmen. Dazu gibt es zu viel Konkurrenz. Wenn wir Weihnachten feiern, ist unsere Schwiegertochter, ebenfalls mit christlichem Hintergrund, allerdings als Griechin, noch lange nicht soweit. Die berühmte Russische Oktober-Revolution fand, je nachdem, welchen Kalender man zugrunde legt, auch an zwei unterschiedlichen Tagen statt, am 27. Oktober oder 7. November 1918. Vorsicht ist also geboten. Diese Maßregel gilt erst recht für die Einzelheiten. Der Zeitpunkt der Geburt eines Kindes in Bethlehem, der in großen Teilen der Welt, heute mehr denn je, am Beginn der letzten Woche des Jahres den Höhepunkt der Jahreserträge im Einzelhandel verlässlich markiert, ist eigentlich nicht mal umstritten. Die germanische Sonnenwendfeier, zu der auch der Tannenbaum gehört, fand genau in diesem Zeitraum statt. Die Krippe, von der in diesem Zusammenhang meist die Rede ist, war vermutlich nicht aus Nadelholz. Unsere Vorfahren, um bekehrt zu werden, brauchten dafür ein paar akzeptable Angebote.
Die Frage nach der Zeit ist also alt. Und sie ist ungelöst. Sie
provoziert zudem den kleinen Scherz, der in die Bitte nach der Auskunft
mündet, wie spät es bei der Entstehung der Welt gewesen sein
könnte.
Ein alter Königsberger Kollege hat deshalb die Zeit als eine notwendige
Vorstellung bestimmen wollen, die allen unseren Wahrnehmungen zugrunde
liegt. (Den Raum hat er gleich mit dazu gepackt.)
Von Helmut Heißenbüttel stammen einst sehr geschätzte „Textbücher“.
Darin findet sich, in (wohlgemerkt Heißenbüttels) eigenwilligen
Interpunktion, genauer: dem Verzicht darauf, eine Einsicht von Theodor
W. Adorno zitiert, die ich hier in dieser Fassung und in voller Länge
wiedergeben möchte:
„das Etwas als denkwürdiges Substrat ist die zur äußersten
Abstraktion verblaßte bis zum Differential diminuierte Spur des
Sachhaltigen der Gedanke an ein Etwas überhaupt wäre anders nicht zu
vollziehen“.
„Genau“, sagt heute der Zeitgenosse. Und in der Regel, genau dann, bevor
er überhaupt etwas sagt. Da haben wir es wieder:
Kalender.
„Sie sind, diese Menschen, Resultate der Zeit, in der sie
leben, so wie die Flusskiesel runde und eckige und seltsam gestaltete
Resultate der Strömung sind, die sie dahin und dorthin rollt und ihre
Formen schleift, ohne dass sie etwas dazu tun können.“
Das schreibt – und zwar für die Woche vom 26. Februar bis zum 3. März
2024 – Vicki Baum, hier auf einer Treppe abgebildet, zusammen mit ihrem
amerikanischen Verleger Nelson Doubleday (vom gleichnamigen Verlag), auf
einer Schifffahrt nach New York. Dieses Kalenderblatt, um ein solches
handelt es sich hier, entstammt dem „Literarischen Frauenkalender 2024.
Frauen mit Horizont“, aus dem Verlag ebersbach & simon,
herausgegeben von Unda Hörner, und ist, wie die folgenden auch, in jeder
guten Buchhandlung erhältlich.
Im gleichen Verlag erschienen, ist der Kalender „Literarische Ostsee
2024“, der ein schönes Porträt von Ernst Barlach präsentiert, Dezember
2024, oder, im Februar, Foto und Zitat von Marie Luise Kaschnitz, die
über den wandernden Wüstensand der Dünen staunt. Fallada ist vertreten,
Victor Klemperer und viele Maler aus der Region.
Mein Favorit unter diesen Bild-Kalendern war über lange Jahre
der „Arche Literatur Kalender“, diesmal: 2024, mit dem Titel:
„Leichtigkeit und Schwere“.
Es waren vor allem diese schönen schwarz/weiß-Fotos, die seltsamerweise
den Eindruck einer eigentümlichen Authentizität erzeugen, amtlich
beglaubigt und zugleich spontan. Gleich in der zweiten Woche des neuen
Jahres, das Bild der nachdenklichen, jungen Frau, Katherine Mansfield,
die sagt: „Berta Young war schon dreißig, aber es gab für sie
noch immer Augenblicke wie diesen, wo es sie trieb, zu laufen statt zu
gehen, vom Gehsteig herunterzutanzen und wieder hinauf, etwas in die
Luft zu werfen und wieder aufzufangen oder stillzustehen und zu lachen
über – nichts, einfach über nichts.“
Wer solche Empfindungen nicht kennt, der ist, fürchte ich, zu seinem
Unglück, in zu engen Hosen aufgewachsen.
Leider finden sich seit einigen Jahren immer mehr farbige
Porträts, die seltsamerweise die Abgebildeten oft nur blasser aussehen
lassen, im Fall von Jane Gardam, Anfang Juli, besonders deutlich, weil
sie nur noch die nette alte Dame darstellt, die sparsam mit ihrem
Vermögen umgeht. Ganz anders bei Joachim Meyerhoff, schon in der
folgenden Woche, schön schwarz/weiß, der allein durch sein Abbild
beglaubigt, was da von ihm zitiert wird.
Oben auf den Wochenblättern finden sich, kleingedruckt, mit Sternchen
oder Kreuz, Geburts- oder Todestage von den großen Gestalten unserer
Literaturgeschichte.
Der „Arche Literatur Kalender“ war einst, vor Jahrzehnten, begründet
worden, von den einstigen Verlagsinhaberinnen, Raabe und Vitali.
Aufgrund von Pleiten, Pech und Pannen verloren sie ihren Verlag, aber
das Kalender-Machen wollten sie deshalb nicht aufgeben. Bis auf das
Titelblatt, wo halt nur das Wort „Arche“ fehlt“, lässt sich ihr neuer
Kalender von ihrem alten Kalender wirklich nicht unterscheiden. Und das
ist gut so. Schon dieses Titelbild, – Francoise Sagan lehnt an einer
halb abgerissenen Plakatwand irgendwo im Pais der sechziger Jahre.
Bonjour Tristesse. Aber genau diese Melancholie machte schon immer den
Reiz der Bilder aus, die Raabe/Vitali aufgestöbert haben.
Die Wochenchronik mit den Geburts- und Todesdaten der
Weltliteratur, ausführliche Zitate, darunter kurze bio-bibliographische
Angaben. Oft, bei den Fotos, wunderbare Funde, etwa die sehr junge Mary
Gerold, 1935 an einer Reling-Brücke in Kopenhagen – mit Kurt Tucholsky.
Oder Max Frisch und Ingeborg Bachmann. Er mit der brennenden Pfeife im
Mund und großer, dunkler Brille. Beide blicken, aus kurzer Entfernung,
im Profil aufgenommen, mit einer unbegreiflichen Schwermut einander in
die Augen. In dieser Szene ist ihre Lebensgeschichte regelrecht
kondensiert. Solche Bilder machen den „Literatur Kalender“ der beiden
Verlegerfrauen aus. Er präsentiert kondensierte Literaturgeschichte.
Ebenso, Mitte April, Nelson Algren mit Simone de Beauvoir.
Die Verlassenheit von James Baldwin, weißes Hemd, schwarze Hose, eine
Hand in der Hosentasche, in der anderen Hand eine brennende Zigarette,
irgendwo auf einer weitgehend leeren, breiten Straße in Harlem, ohne
Autos, grauer Himmel. Das Bild allein beschreibt eine ganze
Lebensgeschichte. Der Text dient als Beglaubigung: „Ich bin in
Amerika nicht zu Hause und werde es nie sein, was bedeutet, ich werde
nirgendwo auf der Welt zu Hause sein.“
Alexander Bloks Liebesbrief passt zu dem melancholischen Blick des Dichters, während Truman Capote, der sich tanzend an den Arm seiner Partnerin klemmt, was ebenfalls, wie die Zeitgenossen sagten, Bände spricht: Marylin Monroe. Die schleppt ihren Partner mit, schaut auf den Fotografen, um gut ins Bild zu kommen und hält ihren Partner auf Distanz.
„Kein Genuß ist vorübergehend: denn der Eindruck, den
er zurückläßt, ist bleibend.“
Nicht irgendwer und auch nicht irgendwo, sondern in „Wilhelm Meisters
Lehrjahren“ hat Goethe höchstselbst diese Einsicht notiert, die über
gerösteten Blumenkohlsalat mit Kichererbsen und Tahini-Dressing bestens
aufgehoben ist und zwar in der ersten Junihälfte des Arche Kalenders
„Kochen und Literatur 2024“. Herausgegeben von Nicole Giger, im Arche
Verlag erschienen: Dieser schmale Kalender enthält sogar ein Rezept von
Florian Illies; aber präsentiert (für meinen Geschmack) zu viel Gemüse,
allerdings auch ein zünftiges Burger-Rezept von, sage und schreibe,
Paul Auster.
Das mag nun, zugegeben, nicht jedermanns Sache sein. Denn auch der Weg
zu McDonalds kann weit werden. Für Richard Wagner war er noch nicht
einmal denkbar. Deshalb ließ er seinem Parzival auch sagen: „Ich
schreite kaum, doch wähn’ ich mich schon weit.“ Worauf Gurnemanz
erwidert: „Du siehst mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“
So könnte man, unter uns, das Wesen des Kalenders bestimmen.
Und, vorweg, mit einem dieser ‚Begleiter’, ein GUTES NEUES JAHR wünschen.